Nahostkonflikt: Vielleicht nach sich ziehen sie ihre Religion nicht verstanden

Der Lauf der Dinge, lehren Historiker, lässt
sich nicht vorhersehen, erst recht nicht in militärischen Konflikten. Überall
herrschen Chaos und Verwüstung, niemand kennt die Absichten der Akteure. Gewiss ist nur die
Ungewissheit. Der Nebel des Krieges überdeckt alles. 

Gilt diese „zeitlose“ Wahrheit auch für den
Nahen Osten? Oder stimmt nicht vielmehr das Gegenteil? Folgt der Krieg nicht
einem Muster, das völlig klar und für jeden vorhersehbar ist? Genau das wäre die Auffassung des
Religionsphilosophen René Girard gewesen
. Der Krieg, hätte er gesagt, gehorcht der Logik
der Steigerung und dem Gesetz der Überbietung. Auf Gewalt folgt Rache, und auf
Rache folgt neue Gewalt, gleichsam die Rache für die Rache. In allen Facetten
und ein Forscherleben lang hat Girard (1923–2015) diesen anthropologisch tief
verwurzelten Mechanismus beschrieben, er nannte ihn „mimetisches Begehren“.
Menschen ahmen einander nach, im Guten wie im Schlechten, meist im Schlechten.
Vor allem aber ahmen sie ihre Gewalt nach, wobei unweigerlich ein Teufelskreis aus Tat und
Vergeltung entsteht, eine Spirale endloser Eskalation. Diese Dynamik, und das
ist das Erschreckende, besitzt keine innere Grenze, und falls kein Wunder
geschieht oder jemand von Außen eingreift, treibt sie bis zum Äußersten, bis
zur wechselseitigen Vernichtung, bis zur Apokalypse. Auch Menschen, die als
Opfer Gewalt erfahren haben, können zu nachahmenden Tätern werden und blutige
Rache üben. Das Opfer fühlt sich moralisch im Recht.