Nobel-Gedächtnispreis pro Wirtschaft: „Wir können uns nicht mehr gegenseitig zuhören“

DIE ZEIT: Herr Johnson, der Nobelpreis für Sie und Ihre beiden Kollegen Daron Acemoğlu und James Robinson wird weithin auch als ein politisches Signal verstanden. Schließlich sind Sie in Ihren Forschungen zu dem Schluss gekommen, dass eine Demokratie mit Freiheitsrechten im westlichen Sinne das beste Arrangement für den Wohlstand sei – und für dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg. Sollte man das wirklich so verstehen?

Simon Johnson: Wir publizieren zu diesem Thema ja schon seit 1999, und ich fand es damals auffällig, wie gut unsere Arbeiten bei Rechten wie Linken ankamen. Wir argumentierten, dass verlässliche Eigentumsrechte sehr wichtig sind, und das gefiel dem rechten Lager, das war dort immer ein Kernthema gewesen. Wir erklärten aber auch, warum freiheitliche Bürgerrechte und Chancengleichheit für alle bedeutsame Voraussetzungen für wirtschaftlichen Erfolg sind, was der Linken gefiel. Eigentlich wollten wir aber kein politisches Statement abgeben, sondern einfach ergründen: Warum haben einige Länder es geschafft, die Armut abzuschaffen und Wohlstand zu erlangen – und andere nicht?

ZEIT: Die Debatte darüber wird ja längst global geführt. Wenn Sie heute den Machthabern in China erklären, dass Demokratie und freie Märkte das Erfolgsrezept schlechthin sind, wird das als Provokation empfunden. Und in vielen Schwellenländern und sogar in einigen Kreisen im Westen schaut man bewundernd auf autoritäre, staatskapitalistische Modelle wie in China.

Johnson: China hat ja offensichtlich auch eine Menge erreicht und seine Wirtschaftsleistung pro Kopf bemerkenswert und nachhaltig gesteigert. Aber schauen Sie mal auf die Löhne, die Niedrigverdiener in China erhalten – ein Indiz dafür, ob die zunehmende Produktivität auch bei den am wenigsten gebildeten Schichten ankommt. In Japan begannen diese Löhne in den 1970ern deutlich zu steigen, in Südkorea war das ab den 1990ern der Fall. In China sind sie dagegen gar nicht angestiegen, und irgendwann reißt die Statistik ab, weil die Daten nicht mehr erhoben werden.

ZEIT: Das heißt, in China wird Ihrer Meinung nach der Wohlstand nicht breit genug verteilt?

Johnson: Ich glaube, dass wir in China und auf der ganzen Welt wieder und wieder die gleiche Geschichte beobachten. Im Westen haben wir gute Erfahrungen damit gemacht, dass wir unsere Volkswirtschaften gegenseitig öffnen, etwa in der Europäischen Union: friedliche Kooperation für Wohlstand und Demokratie. Aber als wir das auf andere Teile der Welt ausgeweitet haben, kam es vor, dass wir irgendwo Lithium oder Kobalt kaufen wollten und dafür Bestechungsgelder zahlten. Dass wir riesige Kredite anboten, damit unterm Tisch ein Teil davon wieder zurückgereicht wurde. Dass westliche Firmen im Ausland ihre Fabriken aufbauten und zugleich forderten, weiterhin nicht mehr als die geringstmöglichen Löhne zahlen zu müssen und von Gewerkschaften verschont zu bleiben. Da sind riesige Chancen für die Bereicherung von Eliten geschaffen worden. Wir sind heute im Westen gerne sehr zufrieden mit uns, mit unseren Werten, wir beschweren uns sogar über solche Praktiken im Ausland, aber wir selber haben vielerorts auf der Welt diese schädlichen Prozesse ausgelöst.

ZEIT: Ihr Interesse an der ganzen Thematik begann mit einer Forschungsarbeit, die Sie gemeinsam mit Ihren zwei Mitpreisträgern im Jahr 2001 veröffentlicht haben. Damals untersuchten Sie das Schicksal von Ländern, die von ihren europäischen Kolonialherren sehr unterschiedlich behandelt wurden. Mancherorts, etwa in Nordamerika, erhielt die lokale Bevölkerung irgendwann Chancen auf wirtschaftliche Beteiligung, anderswo, wie in Westafrika, wurde sie bloß brutal ausgebeutet. Sie postulieren, dass diese Erfahrung über Jahrhunderte hinweg die Wirtschaftschancen dieser Länder geprägt hat.

Johnson: Wir wollten damals auch erklären, wie es zu dieser unterschiedlichen Politik kam. Also warum man vor 300 oder 500 Jahren an verschiedenen Orten solch unterschiedliche Kolonialisierungsstrategien wählte. Wir stießen auf eine Idee, die schon dem Medizinhistoriker Philip D. Curtin aufgefallen war: dass es eine extrem unterschiedliche Sterblichkeitsrate für Europäer gab, je nachdem, ob sie nach Westafrika, Indien oder Nordamerika geschickt wurden …

ZEIT: … und in der Arbeit, die jetzt ausgezeichnet wurde, beschreiben Sie, dass das den hauptsächlichen Unterschied machte. In gefährlichen Ländern kam es zu einer brutalen, schnell durchgezogenen Ausbeutung der Rohstoffe, während sich in einladenderen Gegenden eine Siedlungspolitik entwickelte, die weitere Menschen anlocken sollte. Dort wurden zunehmend Eigentumsrechte und sonstige Chancen auf wirtschaftliche Teilhabe geschaffen. In den Ohren mancher Anthropologen und Historiker klingt das ein bisschen zu simpel …

Johnson: Wir haben nie behauptet, dass das die einzige Erklärung für alles sei, und wir stehen ja auf den Schultern all dieser Historiker und Anthropologen. Unser Beitrag war es, eine Quantifizierung möglich und eine Hypothese überprüfbar zu machen, was Historiker normalerweise ja nicht tun. Wir hatten es damals noch mit Annahmen nach dem Motto zu tun: Die unterschiedliche Entwicklung hängt davon ab, auf welchem Breitengrad sich ein Land befindet …