Ja, die Bündnisgrünen beutelt es. Optimismus ist trotzdem Pflicht

Die acht Thesen von Nick Reimer zum Niedergang der Grünen in Ostdeutschland können Sie hier nachlesen. Als Reaktion darauf antwortet hier Bernhard Stengele, Noch-Umweltminister von Thüringen, selbst Mitglied von Bündnis90/Die Grünen. Stengele selbst nennt seinen Beitrag nicht Entgegnung“, sondern Ergänzung“.

Ja, die Bündnisgrünen sind und werden gerade gebeutelt. Wenn Omid Nouripour von der „tiefsten Krise unserer Partei seit einer Dekade“ spricht, dann ist das keinesfalls übertrieben. In einem Jahr sind Bundestagswahlen. Weil nicht alle Thesen zum „Niedergang der Bündnisgrünen“ im Osten oder sonst wo zutreffen, weil Potential noch gehoben werden kann, bin ich dennoch zuversichtlich.

1. Der Begriff Bündnis 90 im Namen war für mich ausschlaggebend dafür, dass ich 2017 in diese Partei eingetreten bin. Wegen des Bezugs zu der Bürgerrechtsbewegung Ost, für den ich kämpfe, sowohl auf Bundesebene als auch auf Landesebene, zum Beispiel durch meinen Einsatz für das grüne Band (vom Todesstreifen zum Natur- und Erinnerungsdenkmal). Und wegen einer Beteiligungsdemokratie, in möglichst vielfältigen gesellschaftlichen Bündnissen.

Angesichts der dramatischen Situation, in der sich die Welt, in der sich Europa und Deutschland in Bezug auf Artenvielfalt und Klimakrise befinden, gibt es eine Tendenz bei etlichen von uns zu Druck, Rigidität und Rechthaberei. Dabei sollte nun auch der oder die Letzte kapiert haben, dass wir ohne Akzeptanz unsere Politik nicht umsetzen können. Es geht nun mal nicht schneller, als die Menschen bereit sind, mitzugehen. Wenn es uns nicht gelingt, Menschen wieder in gemeinsame Bündnisse oder in gemeinsame Gespräche zu bringen, werden wir immer instabilere politische Verhältnisse und eine immer größere Unzufriedenheit der Bevölkerung haben. Einfach und schlicht: Wir sollten wieder lernen, Bier miteinander zu trinken, zu streiten, zu lachen und gemeinsam unsere Welt zu gestalten.

2. „Zu wenig Ostdeutsche in Führungspositionen“. Für die Bündnisgrünen Thüringen trifft das nicht zu. Hier sind die meisten Politiker:innen ostsozialisiert –ich bin die Ausnahme in unserer Partei. Richtig ist aber: In den Ministerien besetzen viele ältere Männer aus dem Westen die hohen Positionen. Historisch erklärbar, sollte dringend kontinuierlich verändert werden. Tatsächlich scheint es aber nicht ausschlaggebend zu sein, sonst könnte nicht der gebürtige Westfale Höcke seine gefährliche, nationalistische Partei in Thüringen zum besten Wahlergebnis bundesweit geführt haben.

3. Es gibt keine Sprache der Grünen, es gibt aber eine elitäre akademische Sprache, die auch viele Bündnisgrüne benutzen. Gendern ist längst nicht nur ein pseudoreligiöser Kampfbegriff der AfD, sondern auch von der CDU geworden. Der Versuch unsere Sprache gerechter zu machen, wird als Anschlag auf unsere Identität hochgejazzt, gleichzeitig normalisiert die AfD laufend Nazibegriffe, die aus guten Gründen Tabu waren. Was viel gefährlicher ist, finde ich. Trotzdem: Einfach und klar sollte Sprache sein, sonst hebt man ab. Das wusste Jesus von Nazareth genauso wie Walt Disney.

Was die Sprache von Krieg und Frieden angeht: Es war ein Fehler, die Unterstützung der Ukraine nicht geduldig und gebetsmühlenartig als Politik zur Wiederherstellung eines belastbaren Friedens zu erklären, anstatt ständig über Taurus zu diskutieren. Es war ein Fehler, nicht immer darauf hinzuweisen, dass man alle Schritte zu gehen bereit ist und alle Kanäle nutzen wird, um diplomatische Lösungen voranzubringen. Die vor allem vom BSW vorangetriebene Idee über die Interessen von Polen, Tschechien, den baltischen Staaten und der Ukraine hinweg eine Art Verabredung mit Russland zu treffen, ist mir wirklich fremd. Ich stelle aber fest, dass auch gute Freundinnen und Freunde dazu eine andere Haltung haben. Es braucht mehr Verständnis für die Tradition des ostdeutschen Pazifismus. „Putinversteher“ ist oft ebenso unsäglich und unangebracht wie „Kriegstreiber“ Nach meiner Erfahrung kommt man in ein besseres Gespräch, wenn man die gute Intention des Gegenübers anerkennt, ohne die eigene Position aufzugeben.

4. Ostdeutsche besitzen weniger Eigentum als Westdeutsche und haben weniger Erbe in Aussicht. Aber nicht jeder Rückschluss sitzt deshalb. Zum Beispiel beim Klimaschutz und der Dichte von Solaranlagen. Nehmen wir einen Indikator „installierte Leistung pro Kopf“. Hier werden Verzerrungen aufgrund der Bevölkerungsdichte ausgeglichen. Laut den „Energy Charts“ des Fraunhofer Instituts liegt Thüringen beim Solarausbau pro Kopf bundesweit auf Platz 5. Die Top five werden übrigens angeführt von ostdeutschen Bundesländern. Es hilft, die Leistung der Menschen für die Energiewende anzuerkennen. Wir haben in Thüringen einen Solarrechner, der allen aufzeigt, wie sich Solar rentieren kann, er wird gut genutzt. Richtig ist aber auch: Wenn weder das Geld noch die Kreditwürdigkeit ausreicht und Kinder nicht da sind, um das eigene Haus zu übernehmen, lohnt sich eine größere Investition nicht mehr. So wurden viele Menschen durch die Ideen des Gebäudeenergiegesetzes in der unsäglichen Referentenform mächtig abgeschreckt. Das Gesetz in seiner jetzigen Form denkt diese Fälle mit. Bis zu 70 Prozent Förderung für eine langfristig ohnehin rentierliche Heizung. Welches Land hat das schon?

5. Für die meisten Menschen im ländlichen Thüringen fehlen Mobilitätsangebote jenseits des in Verruf gesetzten Autos. Einen Verruf, den ich übrigens immer bekämpfe. Denn wenn das Auto in der Stadt ein großes Problem darstellt, ist es doch auf dem Land die Lösung. Es fehlen Infrastruktur, Schulen, Krankenhäuser, Pflegeheime etc. Obwohl das Politikfelder sind, an denen wir arbeiten, dringen wir nicht durch. Wir schützen Blühwiesen, bauen Wasserschnellstraßen zu mäandernden Flüssen zurück, fördern Streuobstwiesen, also die Natur vor der Haustür. Auch unsere Förderung von Klimaanpassung (Wasser und Bäume in den Städten, Sonnensegel) trifft auf Zustimmung. Doch zahlte es nicht ein. Mehr beachtet wurde die Cannabis-Legalisierung, ein abgehobenes Luxusprojekt junger, urbaner Kiffer. Deshalb: Die Verankerung in den örtlichen Vereinen, Feuerwehr, Sportverein und so weiter ist bei weitem nicht in dem Maße gelungen, wie es notwendig wäre, um verbunden zu sein mit den tradierten Ritualen einer Gemeinde.

6. Ja, Bündnisgrüne waren im Osten nie stark. Aber waren deshalb die Ergebnisse unserer Politik gering? Das gilt nicht für Thüringen, auch nicht für andere Ostländer. Doch im Wahlkampf spielten landespolitische Themen keine Rolle. Das „Heizungsgesetz“, der Agrardiesel, die abrupte Beendigung der E-Auto-Förderung – bei den Themen wurde viel Vertrauen verspielt, dabei ist Vertrauen die wichtigste Währung. Eines der größeren Versäumnisse der Energiewende war, dass die direkte finanzielle Beteiligung, direktes Mitverdienen der Bürgerinnen und Bürger zu lange vernachlässigt wurde. Vom Bergbau haben alle profitiert, von einer Windkraftanlage profitierten bislang nur wenige. Wir haben das jetzt geändert mit dem Windenergiebeteiligungsgesetz. Der gute und richtige Gedanke, dass die Energiewende auch ein großes Demokratieprojekt ist, muss sich weiter durchsetzen.

7. Gegen Bündnisgrüne wird mit Thesen gearbeitet, die keinen Kontakt zur Realität haben. Die Verhetzung durch WhatsApp, Telegram und „Soziale“ Medien, die zu einem guten Teil auch gesteuert und finanziert sind, funktioniert allerdings inzwischen bis in das kleinste Dorf im Allgäu, wie ich unlängst feststellen konnte. Wenn wir als Gesamtgesellschaft dieses Problem nicht angehen, werden wir keine gemeinsamen Wirklichkeiten mehr identifizieren können. Auch wenn meine Partei im Moment am meisten betroffen ist, ist das Problem brandgefährlich und mächtig für Deutschland, Europa und die Welt. Wir sind dabei, hinter die Aufklärung zurückzufallen. Ein Beitrag zur Lösung muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk liefern, nämlich Informationen von hohem Standard neutral aus dem kleinsten Dorf bis ins kleinste Dorf zu spielen. Fußball kann man woanders gucken.

8. Zum Schluss noch mal ein paar grundsätzliche Bemerkungen: Anti-Grüne-Erzählungen sind gerade eine gute Währung. Wir sind die Monster, an allem schuld, was schief läuft in Deutschland. Wir zerstören die Vogelwelt durch die Windkraft, die wir durch das Abholzen gesunder Wälder in den Wald stellen. Wir nehmen das dreckige teure Fracking Gas, wie es die Amerikaner sich wünschen, anstatt das saubere und billige Gas aus Russland. Wir zerstören die Automobilindustrie durch die wahnwitzige Abschaffung des Verbrennungsmotors etc. Das sind die Erzählungen, die über uns kursieren und die wir allzu lange nicht ernst genug genommen haben.

Die Thesen von Nick Reimer, über den Niedergang von Bündnis 90/ Grüne im Osten, lassen außer Acht, dass die Zustimmung in allen Bundesländern schwindet. Zustimmung in Baden-Württemberg sinkt von 32 Prozent auf 18 Prozent in der jüngsten Umfrage. Giftige anti-grüne Mythen und Märchen wirken bis weit in die Kreise hinein, die mit uns bis vor drei Jahren sympathisiert haben. Dazu kommt, dass die Klimakrise für viele Menschen oben auf der Agenda stand, jetzt aber das Thema hintangestellt wird. Viele Menschen wollen weg von den traurigen Tatsachen hin zu einer einfachen Welt von früher – psychologisch eine Regression.

Das Fatale daran ist, dass die Natur sich nicht nach Stimmungen richtet. Die Klimakrise ist eine epische Krise von verheerendem Ausmaß. Sie wird Flüchtlingsbewegungen auslösen, der Kampf um Ressourcen, z.B. Wasser wird härter werden. Auch bei uns. Deshalb haben wir alle die große Verantwortung, dem entgegenzusteuern. Dafür brauchen wir als Partei Mehrheiten. Deshalb müssen wir mehr tun, also unsere überaus tüchtige, aber glücklose Parteispitze auszutauschen. Wir müssen uns endlich trauen, nicht immer alles besser wissen zu wollen, Menschen mehr nach ihren Ideen fragen. Und wir sollten alle Mühe darauf verwenden, unsere Gedanken zu Migration, Krieg und Frieden, sozialen Klimaschutz, unsere Gedanken über unser gemeinsames Land einfach, klar und anmutig einzubringen. Optimismus ist Pflicht, sagt Karl Popper. Recht hat er.

Bernhard Stengele ist seit 2023 Minister für Umwelt, Energie und Naturschutz in Thüringen. Stengele stammt aus dem Allgäu, ist Schauspieler, Theaterleiter, Regisseur und seit 2017 Mitglied der Grünen.