Undercover gen dem Bauernhof: „Keiner weiß, zu welcher Zeit die Schicht endet“

Ich liege in einem sauberen Bett. In dem Zimmer befinden sich zwei Dreier-Stockbetten; sechs Betten insgesamt. Ich versuche zu schlafen, aber es ist ziemlich warm und durch die Wand neben meinem Kopf dröhnt lautes TV-Geplärre auf Polnisch, das vermutlich keiner beachtet, aber auch nie ausgeschaltet wird. Nachdem ich endlich hier angekommen bin, fällt immerhin einiger Stress von mir ab.

Zuvor hatte ich nach einer langen Zugreise und der Abholfahrt vom Bahnhof den Öko-Bauernhof erreicht. Begrüßt wurde ich von der Chefin Edyta, deren Mann Marcus der Hof gehört. Edyta nahm mir meinen schweren, mit Essen vollgefüllten Koffer ab und trug ihn nach oben in die Räume unter dem Dach einer großen Scheune, in der sich die Unterkünfte befinden.

Die Entscheidung, für mein Undercover-Projekt unter anderem auf einem Bauernhof zu arbeiten, war leicht getroffen. Ohne die Arbeit von Migranten würde die Lebensmittelindustrie in Europa wahrscheinlich zusammenbrechen. Ich suchte dann auf einer polnischen Webseite, weil sehr viele Polen zum Arbeiten nach Deutschland gehen.

Ich antwortete auf eine Anzeige und erfuhr aus den daraus folgenden Telefongesprächen, dass ich sieben Tage die Woche arbeiten würde, mindestens zehn Stunden Arbeit am Tag garantiert. Der Stundenlohn würde 6,20 Euro betragen. Die Vermittlungsagentur bekommt 200 Euro Gebühr von mir. Außerdem werden einmalig 105 Euro für mein Bett fällig. Mein Essen muss ich selbst kaufen und kochen. Außerdem solle ich feste Schuhe und Gummihandschuhe mitbringen.

Der erste Tag

Am Morgen nach meiner Ankunft nimmt mich meine Zimmergenossin Danka, die Mitte 60 ist, mit zu einer großen Verpackungshalle, in der bereits rund 30 Frauen bei der Arbeit sind. Sie stehen an Fließbändern und sortieren Salat und Gemüse, das in Maschinen verpackt wird.

Meine Aufgabe ist es, geschälte gelbe Zwiebeln in Hälften zu schneiden und in Plastiktüten zu packen. Danach muss ich rote Zwiebeln schälen und in 3 cm mal 3 cm große Stücke schneiden. Ich arbeite mit verschiedenen Frauen zusammen, eine nach der anderen, und alle sind nett. Eine bietet mir sogar an, einfach nur die Zwiebeln zu schälen, während sie das Schneiden übernimmt. Wenn man so lange an einer Stelle steht, ziehen sich die Stunden bis zur Mittagspause quälend hin. Dabei ist es einem sogar unangenehm, auf die Toilette zu gehen, weil klar gemacht wird, dass das nicht sehr häufig vorkommen sollte.

Zurück in der Unterkunft drängen sich alle um zwei Herde, um ihr Mittagessen zuzubereiten. Ich unterhalte mich mit Sabina und Ewelina. Die beiden kommen aus Polen und sind Mutter und Tochter. Sabina hat zu Hause in Polen drei weitere Kinder. Eine ihrer Töchter ist alleinerziehende Mutter. Sabinas Jüngste, Nela ist zwölf. Als ich sie frage, wie Nela damit klarkommt, dass ihre Mutter so weit weg ist, antwortet Sabina, sie sei es gewohnt und betrachte mittlerweile Sabinas Schwester, bei der sie wohnt, als ihre Mutter. Sabinas Mann hat sie und die Kinder schon vor Jahren verlassen. Daher braucht sie ein Einkommen. Sie schickt ihrer Schwester Geld, aber auch ihrer Tochter und dem Enkelkind.

Wir schälen und schneiden Zwiebeln, Paprika, Tomaten, Wurzelgemüse, Kürbis, Weißkohl und Gurken. Meine Gelenke beginnen zu schmerzen und die Berge an Kohl scheinen niemals zu Ende zu gehen.

„Meine Hände sind taub“

An diesem ersten Tag hört die Schicht um 18 Uhr auf. Sabina bietet mir an, mit mir zusammen zu einem Laden zu gehen, damit ich ein paar Sachen kaufen kann, die ich brauche. Davor wäscht sie sich die Haare und zieht hochhackige Schuhe an, obwohl wir zu unserem Ziel drei Kilometer an der Straße entlanglaufen müssen. Ich verstehe, dass sie manchmal schön aussehen und sich wie ein Mensch fühlen will.

Auf dem Weg zum Laden erklärt sie mir das System, nach dem die Arbeitsverträge funktionieren. Es ist simpel: Man arbeitet eine bestimmte Anzahl von Stunden, angegeben aber wird eine kürzere Zeit. Dadurch werden nach außen die rechtlichen Vorgaben für die Stundenanzahl und der Mindestlohn eingehalten.

Den Vertrag, den ich etwa an Tag drei unterschreibe, entspricht wahrscheinlich dem deutschen Arbeitsrecht. Aber ich erhalte zwei Stundenzettel. Auf den einen schreibe ich die Stunden, die ich tatsächlich arbeite, und auf dem anderen, dem offiziellen, unterschreibe ich die Zeiten, die gemeldet werden: maximal 10 Stunden am Tag, sechs Tage in der Woche. Ich hatte bereits von der doppelten Stundenerfassung gehört, aber hier wird sie mir als Selbstverständlichkeit vorgelegt. Seitens meiner Arbeitgeber erklärt mir niemand, was vor sich geht. Laut dem offiziellen Bericht würde ich heute bis 16 Uhr arbeiten und am Sonntag wurde gar nicht gearbeitet.

Feste Zeiten gibt es hier nicht

Mit am schlimmsten an dem Job ist, dass niemand einem sagen kann, wann die Schicht endet. Als ich eine der Frauen fragte, ob wir den Sonntagnachmittag frei haben würden, antwortete sie: „Du musst verstehen, dass es hier keine festen Arbeitsstunden gibt. Es gibt kein Montag bis Freitag. Hier sagen sie dir einfach, dass du zur Arbeit gehen sollst. Und du weißt nie, wann sie zu Ende ist.“

Mein Daumen tut höllisch weh, meine Hände sind völlig taub, mein Handgelenk schmerzt und ich muss nach Hause schreiben, damit sie mir Ibuprofen/Schmerztabletten schicken. Die Schmerzen kommen vom Schneiden großer harter Gemüsesorten in möglichst hohem Tempo, vom Tragen schwerer Kisten mit Gemüse und davon, dass man eigentlich immer nasse Hände hat.

Nicht nur ist die Arbeit körperlich anstrengend, man ist auch 14 Stunden am Tag auf den Beinen. Dazu kommen ein oder zwei Stunden für Putzen und Kochen und dann noch mehr Putzen, bevor es ins Bett geht. Wir teilen uns ein Badezimmer, das daher morgens und abends überfüllt ist. Meine Arbeitskleidung stinkt bereits, wahrscheinlich von den Zwiebeln, aber es gibt nur eine Waschmaschine. Daher werde ich warten müssen, bis es Abend und die Maschine nicht mehr besetzt ist. Aber ich würde lieber schlafen.

Merkwürdig, wie normal einem diese merkwürdige Form der Existenz nach einer Weile vorkommt. Vielleicht, weil am Abend alle komplett erschöpft sind. Es gibt ein paar junge Frauen und ein paar in den 40ern wie ich, aber die meisten sind in ihren 50ern. Manche sehen älter aus, aber vielleicht sind sie auch nur kaputt – das ist schwer zu sagen.

Wenn die Inspektoren kommen

Es ist Sonntagmorgen und Danka kommt angerannt, um uns zu erzählen, dass ein Besuch des für Arbeitsschutz zuständigen Gewerbeaufsichtsamts bevorsteht. Sie erklärt, was dann zu tun ist: Wenn die Inspektoren fragen, wie viele Stunden wir am Tag arbeiten, sollen wir neun oder zehn sagen, und vor allem, dass wir zwei Pausen machen. Danka hat eine neue Tischdecke für unsere Küche gekauft, damit es für die Inspektion schön aussieht. Wir müssen ihr alle je 3 Euro dafür geben.

Danka war über 50, als sie ihren Job in einer Fabrik in Polen verlor. Eines Tages rief ihr Chef sie zu sich und sagte, sie sei zu alt für die Arbeit. Daher ging sie nach Deutschland, um dort zu arbeiten. Sie zeigt mir Fotos von ihren Kindern, ihrem Mann und den Enkelkindern in Polen. Viele schöne Fotos schicken sie ihr, auf denen sie selbst nicht drauf ist. Ihr Plan ist, zu ihrer Familie zurückzukehren, wenn sie in Pension geht.

Am Montagmorgen spricht der Hofbesitzer in der Halle, in der das Gemüse verarbeitet wird, auf Deutsch zu uns. Wir sollen die Halle nicht verlassen und wir sollen so arbeiten, als gäbe es keinen Druck. Daher arbeiten wir langsam, was sich seltsam anfühlt. Die Inspektoren, zwei Männer, kommen gegen zehn Uhr vormittags vorbei. Ich schaue sie an, aber sie sehen uns gar nicht; sie laufen an uns vorbei, als wären wir nicht da. Um 11.50 Uhr machen wir Pause: Da haben wir sechs Stunden durchgearbeitet, ohne Essen, Wasser oder Zigaretten. Die meisten von uns sind auch nicht auf die Toilette gegangen, weil wir auch das nicht sollten.

Fast alle hier trinken. Aus Einsamkeit und auch, weil es nichts Anderes zu tun gibt. Schon lange argumentiere ich, dass sich die Arbeitsbedingungen nie wirklich verbessern werden, so lange es genug Menschen auf der Welt gibt, die bereit sind, in ein anderes Land zu gehen und dort bis zum Umfallen zu arbeiten.

Aber die Realität, von Menschen umgeben zu sein, die freiwillig 14 Stunden am Tag mit Arbeiten verbringen und dankbar für diese Stunden sind, ist eine andere Sache. „Immerhin verdienen wir dann mehr“, sagen sie. Und dann sehe ich abends die gequälten Gesichter, die leeren Blicke und eine Müdigkeit, die sie zu überwältigen scheint.

In dieser Woche hören wir an keinem Tag vor 20 Uhr auf zu arbeiten. Es herrscht Freude, als die Zeit endlich vorbei ist. Gleichzeitig sind alle froh, dass so viele Stunden auf dem Stundenprotokoll stehen. Meine Kolleginnen hier hoffen darauf, ihren Traum von einem Wohnungskauf zu verwirklichen, für ihre Altersvorsorge anzusparen oder ihre Kinder zu unterstützen. Aber manche bleiben auch hier hängen, weil die Arbeit ihr Leben zu Hause zerstört hat. Die Tage, an denen sie nicht arbeiten, vertrinken sie.

Eine höllische Woche

Ich fand schon die Arbeit in den vergangenen drei Wochen sehr anstrengend, aber in Woche vier ist das Arbeitspensum die Hölle. Das Management erklärt, es gebe einen Ausverkauf für Salat in den Supermärkten. Daher müssen wir unter Druck draußen auf dem Feld arbeiten, um so viel wie möglich zu pflücken, bevor es dunkel wird. Es geht das Gerücht um, dass sie uns danach noch zur Arbeit in der Verpackungshalle schicken werden.

Falls das passiert, sagt Ewelina, die neben mir arbeitet, sollten wir uns weigern, noch in die Packhalle zu gehen. Aber, betont sie, wir müssten alle Nein sagen. „Es ist sehr wichtig, dass wir einig sind“, erklärt sie. Ich nicke, um zu zeigen, dass ich verstehe, und verspreche, die Sache nicht zu verderben. Dann arbeiten wir weiter, um vor Einbruch der Dunkelheit noch so viel wie möglich zu schaffen.

Als die Schicht bereits zwölf Stunden andauert, schaltet jemand von der Hofleitung den Traktoren-Scheinwerfer an. Wir arbeiten in der erzeugten Helligkeit weiter, obwohl wir alle so müde sind, dass wir schon schwanken. Mit schmerzenden, geschwollenen Händen pflücken wir weiter Salate, stecken sie in Kisten und laden sie auf den Lastwagen. Wir machen noch mehr als eine Stunde so weiter. Obwohl die ein oder andere sagt, dass wir einfach nicht mehr können, arbeiten wir weiter. Wir verpassen die Chance zu rebellieren. Widerstand geht in Erschöpfung unter.

Sie gucken weg

Nach einem Monat verließ ich den Bauernhof. Ich erhielt 1.500 Euro in bar. Meine Kolleginnen drückten mich herzlich und sagten, ich müsse unbedingt wiederkommen.

Am letzten Nachmittag gucke ich mir den Laden an, in dem Gemüse, Salate und Brokkoli von unserem Hof an private Kunden verkauft werden. Der Laden sieht aus wie ein Bio-Paradies. Er ist schön und rustikal eingerichtet und riecht gut. Das Gemüse ist mit Aufklebern versehen, auf denen steht, woher sie kommen. Häufig steht da „Deutschland“. Weil der Laden auf dem Hofgelände steht, wird so der Anschein erweckt, als ob die Produkte tatsächlich auf diesem Hof angebaut würden. Dabei stammt alles, außer den Salaten und Brokkoli vom Großhändler und häufig wird die Ware nur von angefaultem Gemüse getrennt und gut gewaschen.

In den Bio-Hofladen kommen Deutsche in großen, teuren Autos zum Einkaufen. Wenn sie zufällig eine von uns sehen, gucken sie meistens weg. Einmal beobachtete ich, dass eine Kundin sich mit einem prüfenden Blick die wenig attraktiven Schlafräume ansah. Normalerweise laufen wir aber nicht auf dem Hof herum, wenn der Laden geöffnet ist. Da arbeiten wir. Ich weiß nicht einmal, ob die Kunden unsere Arbeitsbedingungen überhaupt interessieren.