Der Stadtdirektor hinauf Sylt wehrt sich gegen die Abwahl
Nikolas Häckel ist Bürgermeister der Gemeinde Sylt. Aber wenn er sich in Westerland, dem Hauptort der Nordseeinsel, zwischen den Fußgängern hindurchbewegt, dann geht er ganz schnell und grüßt weder rechts noch links, als wäre er auf der Flucht. Wenn er spricht, tut er das ebenfalls sehr schnell, fast gehetzt. Auf der Stirn des Fünfzigjährigen stehen Schweißperlen.
Häckel arbeitet sich nach eigenen Angaben gerade „aus einem Burnout heraus“, den er aufgrund seiner Arbeit erlitten hat. Seit Februar war er krankgeschrieben. Mittlerweile hat ihn ein Amtsarzt für arbeitsfähig erklärt. Trotzdem können die Bürger am Sonntag über Häckels Abwahl abstimmen. 26 Sylter Gemeindevertreter votierten im Juli für die Einleitung des Abwahlverfahrens, drei waren dagegen, einer enthielt sich. Außerdem verbaten sie Häckel mit sofortiger Wirkung die Fortführung seiner Amtsgeschäfte – jenem Bürgermeister, der 2015 zum ersten Mal gewählt und 2021 mit 68,4 Prozent im Amt bestätigt worden war.
Die Gemeindevertreter begründen das mit einer „Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses“ und dem „seit Jahren völlig unbefriedigenden Zustand“ auf der Insel, der „in hohem Maße“ Häckels Amtsführung geschuldet sei. Sie werfen ihm Unfähigkeit, Versagen, fehlende Teamfähigkeit und vieles mehr vor. Angesichts eines „krankheitsgezeichneten Menschen“ sei die Entscheidung über die Abwahl nicht leichtgefallen, doch sie sei „alternativlos“.
Häckels Geschichte ist also die eines Kommunalpolitikers, der wegen seiner Arbeit krank wurde. Und der nun, weil er schlecht gearbeitet haben soll, eventuell abgewählt wird. Aber das ist nicht alles. Auf der Nordseeinsel, seit Jahrzehnten Sehnsuchtsort der Republik, gibt es infolge des Tourismusbooms große Spannungen. Häckel hat dabei Partei ergriffen, kämpft aus seiner Sicht gegen das Großkapital, sieht sich als Opfer.
Die Zeichen des Booms kann man in Westerland deutlich sehen. Im Zentrum ist das eine ziemlich unschöne Stadt, die vorne am Wasser dominiert wird von riesigen Betonklötzen, darin Hotels und Touristenwohnungen. Auch an einem Wochentag Ende September ist die Fußgängerzone voll mit Spaziergängern in Funktionsjacken.
Die Insel ächzt seit Langem über die rund 4,5 Millionen Touristen, die jedes Jahr kommen. Dem gegenüber stehen nur rund 14.000 Einwohner. Wohnraum für Anwohner wurde in den vergangenen Jahren immer knapper und teurer, viele lokale Handwerksbetriebe und Dienstleister finden kaum noch Mitarbeiter. Und die Zahl der Ferienwohnungen steigt immer weiter. Dabei gibt es seit Langem Konzepte und Regeln zur Begrenzung des Tourismus. „Man wollte das lange gar nicht kontrollieren“, sagt eine Anwohnerin, schließlich hätten viele an dem Wachstum prächtig verdient.
Zu wenige Einwohner, zu viele Touristen
Nach der Pandemie, in der die Insel frei von Touristen und damit schöner denn je war, hat sich eine Bürgerinitiative namens „Merret reicht’s – Aus Liebe zu Sylt“ gegründet. Die warnt vor einem „Sozialkollaps“, weil die Einheimischen verdrängt würden und die Infrastruktur angesichts des Massentourismus zusammenbreche. „Wir schaffen auf Sylt die Grundversorgung nicht mehr“, sagt die Goldschmiedin Birte Wieda, die Mitglied der Initiative ist. „Ehrenamt, Kinderbetreuung, Altenpflege, Vereine, Fachkräfte, das alles funktioniert nicht mehr.“
Es gebe zu wenige Einwohner, um die Infrastruktur aufrechtzuerhalten. „Tourismusentwicklung muss in Zukunft so gesteuert werden, dass die wirtschaftlichen und die sozialen Interessen der ansässigen Bevölkerung in gleicher Weise berücksichtigt werden. Wir müssen das Gleichgewicht zurückgewinnen.“ „Merret reicht’s“ fordert einen sozialverträglichen Tourismus, dafür müsse ausreichend Wohnraum dringend baurechtlich geschützt werden.
Der Sylter Tourismusverband warf der Initiative kürzlich vor, den Tourismus drastisch zurückfahren zu wollen und der Bevölkerung damit zu schaden. Scharfe Kritik übt der Verband auch an den Nutzungskontrollen, die der Kreis Nordfriesland seit dem vergangenen Jahr durchführt. Es drohe eine „Zerstörung unser aller Lebensgrundlage“.
Mit den Kontrollen geht der Kreis gegen illegale Ferienwohnungen vor. Einer Sprecherin der Kreisverwaltung zufolge wurden seit 2023 auf den Nordseeinseln und in den großen Touristenstädten auf dem Festland bislang 89 illegale Ferienwohnungen festgestellt, 78 davon auf Sylt, in 70 Fällen sei eine Nutzungsuntersagung ergangen, in den anderen Fällen habe meist der Eigentümer die Nutzung eingestellt. Der Kreis schätzt, dass es rund 11.000 Ferienwohnungen auf Sylt gibt. Wie viele davon illegal sind, ist unklar.
Auf der Insel heißt es, es dürfte rund ein Drittel davon sein. „Die Spannungen sind extrem geworden, Sylt funktioniert nicht mehr“, sagte kürzlich der Baudirektor des Kreises, Burkhard Jansen. Im Gespräch mit der F.A.S. führt er aus: Ein funktionierendes Gemeinwohl brauche eine Wohnbevölkerung, die anteilig als Arbeitskräfte zur Verfügung stehe und sich ehrenamtlich in die Gemeinschaft einbringe. „Durch die fortlaufende Verdrängung der Wohnbevölkerung durch Zweitwohnungen und Ferienwohnungen wird dies in zunehmendem Maße gestört.“
Im vergangenen Jahr gab sich die Gemeinde ein neues Beherbergungskonzept, das den Bau neuer Ferienwohnungen verbietet. Ein Meilenstein aus Sicht vieler Einwohner. Derzeit werde aber versucht, die Vorgaben aufzuweichen, warnt Bürgermeister Häckel. Folgt man seiner Argumentation, dann hängt der Versuch, ihn abzuwählen, mit dem Thema zusammen. „Ich glaube, ich bin unangenehm“, sagt Häckel. Sylt dürfe kein Disneyland werden, sei keine „Cashcow“ – denn was mache man, wenn diese abgemolken sei, wer baue dann die Bausünden wieder ab? „Es braucht eine funktionsfähige Gesellschaft, um Gastgeber zu sein.“
Kämpfer gegen das Großkapital
Früher hätten Bewohner nebenbei eine Wohnung an Touristen vermietet, sagt Häckel. Mittlerweile aber dominierten große Kapitalgeber, viele davon aus Hamburg, das sei ein „riesiges Problem“. Derzeit werde versucht, illegal genutzte Ferienwohnungen zu „legalisieren“. Da er sich dagegen ausspreche, werde er als „böse“ gebrandmarkt. Aus seiner Sicht ist Häckel eine Art Kämpfer für seine Sylter und gegen das Großkapital. Wenn er abgewählt werde, würden auch die Bemühungen versanden, die Fehlentwicklungen auf der Insel zu korrigieren, behauptet er.
Auf seiner Internetseite hat Häckel ein Lied verlinkt, von dem er angeblich nicht weiß, wer es erstellt hat. Darin wird er als „aufrechter Mann“ gepriesen, gegen den die Parteien Gerüchte in die Welt setzten, um ihr Versagen zu verdecken. „Am mächtigen Geldwesen muss nun mal die Insel genesen“, heißt es. Zudem wird der Wahlspruch der Friesen vorgetragen: „Lieber tot als Sklave sein“, kombiniert mit dem Aufruf „Stimm mit Nein“.
Häckel wurde auf Sylt geboren, in der Stadt Westerland zum Verwaltungsfachangestellten ausgebildet, später machte er einen Abschluss in Verwaltungswirtschaft, um danach in der Verwaltung tätig zu sein. Mehr Verwaltungserfahrung geht also kaum. Aber Häckel ist bemüht, auch ein anderes Bild von sich zeigen. Er sei „kein Zahlenmensch“, sagt er über sich selbst auf die Frage, wann genau Sylt nach Prognosen der Wissenschaftler vom Meer verschluckt wird. Er könne die Frage nicht beantworten, habe die Zahl vergessen. Dabei ist sie für seine Insel sehr relevant. Langfristig gefährdet der steigende Meeresspiegel Sylts Existenz.
Unter Häckels weißem Hemd lugen großflächige Tattoos hervor, von denen er gerne erzählt: Unter anderem hat er hinter dem Ohr ein Seepferdchen, am Hals einen Zweig eines Ginkgo-Baumes, auf den Unterarmen einen Anker und vieles andere, dazu auf der rechten Flanke, wie er sagt, einen riesigen Jesus mit Dornenkrone (den er aber nicht zeigt).
Seine zahlreichen Kritiker aus der Gemeindevertretung sagen alle, die Abwahl habe mit Häckels Erkrankung nichts zu tun. Sie sei notwendig, weil der Bürgermeister katastrophal arbeite. „Schlichtes Managementversagen“, sagt ein Gemeindevertreter, der anonym bleiben will. Häckel habe „nicht geliefert“. Da könne man auf Dauer keine Rücksicht nehmen wegen einer Erkrankung.
Offiziell heißt es von den Gemeindevertretern, Häckel habe aufgrund eines über Jahre nicht erstellten Haushalts die Entwicklung der Insel „um Jahre zurückgeworfen“. Er habe Entscheidungen getroffen, für die er nicht befugt gewesen sei, habe seine Informationspflicht nicht erfüllt und an wichtigen Ausschüssen nicht teilgenommen, habe Verträge unterschrieben, ohne die notwendigen Gremien zu beteiligen, sei er schlecht mit seinen Mitarbeitern umgegangen.
Gritje Stöver von der örtlichen CDU sagt, in der Gemeinde Sylt liege ein „Dismatch zwischen den persönlichen Fähigkeiten von Nikolas Häckel und den Anforderungen eines Bürgermeisteramtes dieser Größenordnung vor“. „Der muss weg“, sagt auch Peter Erichsen, örtlicher Fraktionsvorsitzender des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW). Häckel sei nicht fähig, entscheide alles allein, dadurch sei so viel liegen geblieben. Seit Häckel krankgeschrieben gewesen sei und es endlich wieder einen Haushalt gebe, habe sich zum Glück wieder etwas bewegt, so Erichsen.
Wenn fast alle Mitglieder der Gemeindevertretung gegen Häckel seien, könne der ja kaum viel richtig gemacht haben. Ein Mitglied des Gremiums wirft dem Bürgermeister vor, in der aktuellen Wahlperiode nur an acht von 23 Sitzungen des Bauausschusses teilgenommen zu haben, dabei sei das Bauen doch Aufgabe des Bürgermeisters.
Wenige Einwohner, wenige Wähler
Häckel antwortet darauf, die Zahl sei absurd, es gebe viel mehr Gremiensitzungen, schließlich gebe es auf der Insel fünf Bauausschüsse – was Teil des Problems sei. Sylt ist ein kompliziertes Konstrukt: Es gibt einerseits die Gemeinde Sylt, zudem die vier Amtsgemeinden Hörnum, Kampen, List und Wenningstedt-Braderup, die von ehrenamtlichen Bürgermeistern geführt werden, für deren Verwaltung aber auch Häckel zuständig ist. Dazu gibt es fünf Zweckverbände. „Die ziehen alle an mir, und denen kann ich es nicht allen recht machen“, sagt Häckel. Und daraus ergäben sich rund 100 politische Gremien. Die Fülle der Aufgaben sei „nicht schaffbar“.
Die Vorwürfe seiner Kritiker weist er zurück. Er habe in den rund neun Jahren Amtszeit keine groben Fehler und keine Regelwidrigkeiten begangen, es habe kein Disziplinarverfahren gegen ihn gegeben. Die Aufstellung eines Haushalts sei durch die Umstellung auf eine kaufmännische Buchführung erschwert worden und dadurch, dass unter seiner Vorgängerin schlampig gearbeitet worden sei. Diese habe ihm „Müll“ hinterlassen, so Häckel: keine vernünftige Buchhaltung, weggeworfene oder in Kellern verschimmelte Akten. „Wir haben eigentlich bei null angefangen.“
Häckels ebenfalls parteilose Vorgängerin war Petra Reiber, 24 Jahre lang Bürgermeisterin vor Ort. Auch sie war nach eigenen Angaben wegen der Arbeit krank geworden, hatte aber immer weitergemacht. Mit ihrem Nachfolger rechnete sie unlängst in einer Regionalzeitung ab: Dieser habe nicht die notwendige Souveränität und das „Standing“, das es auf Sylt brauche, zudem fehle es ihm an sozialer Kompetenz.
Für eine Abwahl Häckels ist neben der Mehrheit der abgegebenen Stimmen auch erforderlich, dass mindestens 20 Prozent der Wahlberechtigten zustimmen. Ob das erreicht wird, ist offen. Bei Kommunalwahlen gab es je nach Gemeindeteil zuweilen Wahlbeteiligungen von unter 40 Prozent. Das liegt wohl auch daran, dass von jenen, die ihren Erstwohnsitz auf Sylt gemeldet haben, viele faktisch anderswo leben. Wenn er nicht abgewählt wird, will Häckel weitermachen. Er sei „fit“, wolle gestalten, sagt er. Wie er aber dann mit jenen zusammenarbeiten soll, die ihn jetzt weghaben wollen, weiß niemand auf der Insel.
Source: faz.net