Landtagswahlen in Ostdeutschland: Meine Heimat kommt nicht vor

Schon kurz vor den Landtagswahlen
in Sachsen und Thüringen wurde einmal mehr deutlich ausgesprochen, was uns in
Deutschland nun als Gerücht und Deutung mit einer
hohen Dringlichkeit erreicht: Eine Ostdeutsche klagte an, dass die Menschen im
Westen die Besonderheiten ostdeutscher Kultur zu lange ignoriert hätten und die
aktuelle Polarisierung auch damit zu tun habe, dass eine wirkliche „Umarmung“
immer noch nicht stattgefunden habe. Ostdeutsche Schriftstellerinnen würden
paternalisiert oder gleich ganz ignoriert, ambivalente Bezüge zur eigenen
Ostbiografie würden skandalisiert als Verharmlosung der SED-Diktatur.

Das Ganze geschah auf großer
europäischer Bühne, die geschätzte ZEIT-ONLINE-Autorin Carolin Würfel schrieb
einen Kommentar im englischen Guardian
. Und der wahre Kern dieser
meinungsstark zugespitzten Beobachtung ist mit Händen zu greifen. Da können
noch so viele westdeutschstämmige Hauptstadtjournalistinnen die Sorgen und Nöte
der Ostdeutschen äußerst ernst nehmen, da können noch so viele
Parlamentarierinnen, Sauerländer CDU-Vorsitzende und lippische
Bundespräsidenten die aktuellen Schlagworte eines großen und lautstarken Teils vor
allem der Ostdeutschen bezüglich Migration und Energiewende sehr entschieden aufgreifen. Wahr bleiben immer auch drei Dinge.

Erstens: Es sind – das ergeben allein die
Mengenverhältnisse in Redaktionen und Fraktionen – wiederum vornehmlich
Westdeutsche, die hier mehr oder weniger explizit auf „den Osten“ projizieren.
Und indem sie ihn dabei vereinfachen, verraten sie die ostdeutsche
Zivilgesellschaft, verraten sie auch jene über 50 Prozent, die in Sachsen und
Thüringen nun nicht populistisch beziehungsweise extremistisch gewählt haben.

Zweitens: Es wird in dieser Sichtweise ignoriert, dass die
Zustimmung für eine rechtspopulistische bis rechtsextreme Partei im Westen zwar
anteilig kleiner, aber numerisch viel größer ist. Es ist richtig: Die AfD ist
kein ostdeutsches Problem.

Drittens: Es gibt eine ostfeindliche westdeutsche
Alltagskultur, mit Bananenwitzen und „Mauer wieder aufbauen“. Wer das leugnet,
war lange nicht mehr im Ruhrgebiet beim Bäcker, im
Stadion
oder überhaupt in Onlinekommentarspalten. Und sie korrespondiert
mit einer politischen Kultur, die ebenfalls aus so luftiger wie leichtsinniger
Höhe auf ostdeutsche Widersprüche herabblickt. Fragen Sie dazu eventuell mal aktuell
den aus Westdeutschland stammenden Thüringer Staatsmann
Bodo Ramelow
, dessen derzeitigem Reden und Wirken keine dieser
Vereinfachungen standhält.

Damit liegt der Verdacht nahe, dass „die Ostdeutschen“ – allein durch diese Zuschreibung –
im gesamtdeutschen Diskurs nach wie vor marginalisiert sind. Ganz ähnlich wie
Migrantinnen kommen sie vor allem als sogenanntes Token vor, also als jemand, mit
dem politische Absichten begründet und Änderungen motiviert werden
sollen. Deshalb
schockt auch niemanden ihre geringe Zahl. Wie sie wirklich sind oder wie
jeder einzelne von ihnen zu sein glaubt, müssen sie auch deshalb umso
lautstarker selbst vermitteln, was wiederum ein Störgefühl bei Westdeutschen
auslösen kann.

Ostdeutsche, so lässt sich dieser
Eindruck zusammenfassen, betreiben überproportional oft Identitätspolitik in
eigener Sache. Ostdeutsche pushen ostdeutsche Themen und Personen, wie es sonst
vielleicht nur feministische und migrantische Aktivistinnen tun, weil es sonst lange niemand getan hat. Westdeutsche pushen in ihrer Rolle als
Westdeutsche: nichts. Zugleich stellt nicht nur Carolin Würfel den
westdeutschen Mehrheitsdiskurs als oberflächlich und desinteressiert an den
Feinheiten ostdeutscher Identität dar – auch hier gibt es eine Parallele zu
anderen marginalisierten Communitys. Man braucht dann manchmal, als Westdeutscher, viel Selbstbeherrschung, um nicht spitz zu fragen: Was wisst ihr
eigentlich über uns? Und was wisst ihr eigentlich darüber, was ich über
euch weiß?

Eine Asymmetrie, die beide Seiten betrifft

Um es mal polemisch und
beispielhaft auf einen Punkt zu bringen: Es soll Leute geben, die haben einen halben
Nervenzusammenbruch, wenn man Machteburch falsch ausspricht, bekommen es aber selbst
in großer Hartnäckigkeit nicht hin, Booochum korrekt zu betonen. Ihre eigene
Kenntnis spezifisch westdeutscher Regionalkultur endet bei BAP und ähnlichen
Fantasmen des freien Westens aus Teilungszeiten, ihr Gegenüber muss aber schon
mindestens mit der Klaus Renft Combo ankommen, damit es nicht gleich ein
genervtes „War ja wieder klar, nur Puhdys und Karat“-Augenrollen gibt. Es ist,
so lässt es sich vielleicht sagen, eine Asymmetrie, die beide Seiten betrifft.

Die Frage ist: Ist Ostdeutschland
überhaupt noch in diesem Sinne, auch kulturell, marginalisiert? Hier sind
zumindest Zweifel angebracht. Sosehr jede einzelne These über „den Osten“
viele andere Wahrheiten über ihn unsichtbar macht: Spätestens seit zehn Jahren,
seit Pegida, ist
Ostdeutschland ein diskursiver Taktgeber für das ganze Land
. In der
Beschreibung als gesamtdeutsche Avantgarde und spannendste Region reichen sich
neue Nazis und alte Bürgerrechtlerinnen, versponnene Autorinnen und kluge
Soziologen, Hauptstadtjournalisten und Bundespolitikerinnen die Hand. Auf den
Osten, ja, da gilt es zu gucken. Weil sonst – diese Drohung steht auch immer im
Raum – der Osten noch finsterer zurückguckt. Und das möchte man ja nun wirklich
nicht.

Ich kann die ostdeutschen Refrains mitsingen

Und das zeigt Wirkung. Gefühlt
weiß ich, Sohn eines Dortmunders und einer Drogistentochter aus dem Aachener Umland, mehr über die spezifischen
Feinheiten ostdeutscher Mentalitätslandschaften als über meine eigene
Herkunftsregion. Ich kann die Refrains der Kollektiverfahrungen mitsingen über
Treuhandkatastrophe und Baseballschlägerjahre,
ich kann in den Strophen die regionalen Feinheiten ersummen, ob sie nun mit der
großflächigen Kollektivierung der Landwirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern oder
den modrig-düsteren Mentalitätseinschließungen im Thüringer Wald zu tun haben.
Ich habe sie alle gelesen, die Dirk Oschmanns und Steffen Maus, die Jana Hensels
und Robert Ides, ich habe Tellkamp und Grünbein in Dresden diskutieren sehen,
ich weiß, was Monika Maron, Ingo Schulze, Juli Zeh, Botho Strauß und natürlich
Götz Kubitschek denken (und ja, ich weiß auch, wer von denen ursprünglich aus
dem Westen kommt). 

Ich kann dem allen auch gar nicht entgehen, der Osten drängt
sich mir überall auf als Forschungsfeld und nimmermüde Selbstbehauptung, als
behauptet Unergründliches, das ich eh niemals verstehen werde, ohne dabei
gewesen zu sein, und tatsächlich Unergründbares. Die Frage ist nur: Was hilft
mir das? Und was hilft dem Osten?