Leonora Carrington: Rebellin mit vielen Anliegen
Fast 20 Jahren ist es jetzt her, da reiste ich 5.000 Meilen weit, um eine Cousine meines Vaters zu treffen, die seit 70 Jahren von unserer Familie entfremdet war. Damals war Leonora Carrington – obwohl sie in ihrer Wahlheimat Mexiko gefeiert wurde – in ihrem Heimatland Großbritannien kaum bekannt. Sie war von der Kunstwelt im Allgemeinen ebenso vernachlässigt worden wie von ihrem Land und unserer Familie.
Zwei Jahrzehnte später sieht die Geschichte ganz anders aus. Im April dieses Jahres wurde eines ihrer Gemälde – Les Distractions de Dagobert (1945) – beim Auktionshaus Sotheby’s in New York für 28,5 Millionen Dollar verkauft. Es ist das teuerste Kunstwerk einer britischen Künstlerin, das je verkauft wurde. In den vergangenen Jahren wurden ihre Werke in der ganzen Welt ausgestellt: in Madrid und Kopenhagen, Dublin und Mexiko-Stadt sowie in der Tate Liverpool. Ab 12. Juli wird die von mir kuratierte Ausstellung Leonora Carrington. Rebel Visionary in der Newlands House Gallery in Petworth im Südosten von England ihr Schaffen auch jenseits ihrer Gemälde und der surrealen fiktionalen Texte, für die sie heute am besten bekannt ist, erkunden. Denn Carrington war nicht nur Malerin und Schriftstellerin, sondern auch Bildhauerin, Schöpferin von Wandteppichen und Schmuck, Herstellerin von Lithografien, Dramatikerin und Designerin von Bühnenbildern und Theaterkostümen.
In den 1980er Jahren erstellte das feministische Kunstkollektiv Guerrilla Girls eine ironische Liste mit dem Titel The Advantages of Being a Woman Artist. Zu den Vorteilen einer Künstlerin zählten gemäß dieser Liste: „Die Gewissheit, dass deine Karriere nach deinem 80. Lebensjahr durchstarten könnte“, und „die Aussicht, in Neuauflagen der Kunstgeschichte aufgenommen zu werden“. Bei Leonora Carrington war beides der Fall. Nach meinem ersten Besuch bei ihr in Mexiko-Stadt im Jahr 2006 besuchte ich sie in den folgenden fünf Jahren bis zu ihrem Tod 2011 im Alter von 94 Jahren noch viele Male. Manchmal scherzten wir am Küchentisch, dass eines Tages ihre Werke, wie die ihrer früheren Freundin Frida Kahlo, T-Shirts und Kühlschrankmagnete, Tragetaschen und Kopftücher zieren würden.
Seltsame, unheimliche Bilder
Es war nur ein Scherz, doch heute besitze ich all diese Dinge und noch viele mehr wirklich. Wie bei Kahlo, die zum Zeitpunkt ihres Todes im Jahr 1954 nahezu unbekannt war (ihr Mann, der Wandmaler Diego Rivera, war der „berühmte“ Künstler), war es ein langwieriger Prozess bis zu ihrem heutigen Status. Die Gründe, warum manche Künstler begehrt und in Mode sind, sind vielschichtig und komplex. Carrington hatte wie Kahlo eine außergewöhnliche Lebensgeschichte: Sie floh vor ihrer Familie und aus England, um 1937 zu ihrem Geliebten Max Ernst nach Paris zu ziehen, und wurde das jüngste Mitglied eines Kreises, zu dem auch Picasso, Dalí, Duchamp und Miró gehörten. Nach idyllischen 18 Monaten, die sie mit Ernst in einem südfranzösischen Bauernhaus verbrachte, das bis heute mit ihren Kunstwerken geschmückt ist, floh sie nach Spanien, und nach einem schrecklichen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik floh sie aus dem kriegsgebeutelten Europa in die USA und dann nach Mexiko.
Wie bei Kahlo war auch Carringtons Arbeit immer mit ihren eigenen Erfahrungen verwoben: Sie sagte mir einmal, dass sowohl ihre bildende Kunst als auch ihre Schriftstellerei mit ihrer Biografie verwoben sei. Ein weiterer Grund, warum sie heute in Mode ist, besteht darin, dass ihre Anliegen – die zu ihrer Zeit exzentrisch waren – heute allgegenwärtig sind. Ökologie, Feminismus, die Verbundenheit aller Lebensformen, Spiritualität jenseits der organisierten Religion: Diese Themen sind uns heute allen bewusst, aber für Carrington standen sie vor 80 Jahren im Mittelpunkt.
„Große“ Künstler sind immer experimentierfreudig; sie überschreiten Grenzen, probieren neue Ideen aus, stellen ihre Arbeitsweise auf den Kopf. Sie suchen nicht die Komfortzone, sondern sind neugierig und ständig auf der Suche nach Herausforderungen. All dies traf auf Carrington zu: Wie ihr Freund und Förderer Edward James, der auch der wichtigste Mäzen von Salvador Dalí und René Magritte war, 1975 in einem Essay schrieb: „Sie hat ihre Experimentierfreude nie aufgegeben; das Ergebnis ist, dass sie in der Lage war, hundert oder mehr Techniken für den Ausdruck ihrer kreativen Kräfte zu diversifizieren und zu erforschen. Sie probiert immer wieder neue Medien aus, die ihr helfen, ihre vitalen Ideen in neue Formen zu kleiden.“
So fertigte sie in den 1950ern für eine Theaterproduktion von Shakespeares Sturm Masken an und 1974 Kostüme für eine Inszenierung von Sch. An-skis Stück Der Dybuk in New York, von denen noch Lithografien existieren. Sie schrieb selbst mehrere Dramen, darunter Penelope und Judith, beide mit starken weiblichen Hauptfiguren. The Story of The Last Egg von 1970 ist ein Vorläufer von Margaret Atwoods Report der Magd (1985). Carrington sieht darin eine Welt voraus, in der gierige Herrscher den Planeten all seiner Ressourcen beraubt haben, einschließlich seiner Frauen. Nur eine ist übrig geblieben – und sie hat nur eine Eizelle.
Carrington war ein rebellischer Geist: Als Kind wurde sie von mehreren Klosterinternaten verwiesen, da sie von den Nonnen ermahnt wurde, sie verweigere „sowohl bei der Arbeit als auch beim Spiel“ die Kooperation, wie sie sich später erinnerte. Als sie 1936 als Debütantin in der Londoner Saison vorgestellt wurde, hofften ihre Eltern, dass sie einen „passenden“ Ehemann finden würde: Stattdessen verliebte sie sich in den geschiedenen, wiederverheirateten und (für Carrington-Verhältnisse) mittellosen Künstler Max Ernst. Als sie das Haus der Familie in Lancashire verließ, um zu ihm nach Paris zu ziehen, warnte ihr Vater Harold sie, dass sie nicht länger Teil der Familie sein werde: Sie sah ihn nie wieder. Und sie blieb ihr Leben lang rebellisch: Carrington passte nie ins Bild. Sie wetterte gegen das Kunstestablishment in Mexiko, das 70 Jahre lang ihre Basis war; sie kappte ihre Verbindungen zur „offiziellen“ surrealistischen Bewegung, als sie 1942 New York verließ; sie buhlte weder um die Aufmerksamkeit von Kunsthistorikern noch von Journalisten (wäre ich nicht ihre Cousine, hätte ich nie Zugang zu ihrem Leben erhalten). In den 50ern und 60ern lebte sie allein in New York und Chicago, zeitweise so arm, dass sie mir später erzählte, sie habe Eiscreme gegessen, weil das die billigste Art gewesen sei, Kalorien zu bekommen.
Als sie weit über 80 war – die Zeit, in der ich sie kannte –, rebellierte sie gegen das Alter: und da sie die Geschichte ihres späteren Lebens bereits in ihrer Novelle The Hearing Trumpet in Form einer fiktiven Figur namens Marian Leatherby niedergeschrieben hatte, handelte es sich um eine Nachahmung der Kunst durch das Leben. The Hearing Trumpet, das 1974, also vor 50 Jahren, veröffentlicht wurde, stammt aus Leonoras Feder und beschreibt ein fantastisches, alle Klischees zerlegendes Altersheim, in dem sich die Bewohner über alle Konventionen hinwegsetzen, um den Heiligen Gral zu suchen und mit einem gestrickten Zelt nach Lappland zu fliehen.
Ihr ganzes Leben lang hat Carrington nie aufgehört zu arbeiten: Ihr Haus in Mexiko-Stadt, das kürzlich als Museum restauriert wurde und noch nicht für die Öffentlichkeit zugänglich ist, enthielt ein Atelier, aber sie arbeitete in allen Räumen des Hauses. In den 1950er Jahren wohnte dort zehn Jahre lang eine Weberfamilie mit ihr und ihrer eigenen Familie zusammen – mit Leonoras Ehemann Chiki, ein ungarischer Fotograf, den sie nach ihrer Ankunft in Mexiko kennengelernt und geheiratet hatte, und ihren Söhnen Gabriel und Pablo. In ihren letzten Lebensjahren, als sie nicht mehr malen konnte, wandte sie sich der Bildhauerei zu und konzentrierte sich auf einzelne Figuren aus ihren Gemälden.
In den Jahren, in denen ich sie immer wieder in Mexiko besuchte, war ihre Berühmtheit dort evident. Manchmal gingen wir zusammen in ein schickes Restaurant oder zu einer Ausstellungseröffnung. Dann stand sie im Mittelpunkt – die exzentrische, ganz in Schwarz gekleidete englische Künstlerin, deren seltsame und unheimliche Bilder aus ihrer europäischen Vergangenheit schöpften, aber auch untrennbar mit ihrer mexikanischen Gegenwart verbunden waren. Meistens aber machten wir ganz gewöhnliche Dinge zusammen – tranken eine Tasse Tee am Küchentisch, machten Ausflüge zum Supermarkt, aßen Tamales im Café um die Ecke oder nippten ein paar Gläser Tequila nach dem Abendessen. Wenn wir Tee tranken, stand sie zwischendurch immer wieder auf, um in der Garage vorbeizuschauen, wo sie mit einem Assistenten an Skulpturen von seltsamen und wunderbaren Kreaturen arbeitete, von denen viele nun auch in der Newlands House Gallery zu sehen sein werden.
Joanna Moorhead ist Autorin des Guardian