Dagestan im Nordkaukasus: „Beamtenkinder werden zu Terroristen“
Bei den Terroranschlägen in der russischen Teilrepublik Dagestan starben mindestens 20 Menschen, darunter die Angreifer. Ziel der Angriffe waren orthodoxe Kirchen, Synagogen und eine Polizeistation. Anders als einige Veröffentlichungen in Deutschland suggerieren, gibt es in Russland bei diesen Anschlägen keine pauschale Schuldzuweisung in Richtung Westen oder gar ein Ausblenden des islamistischen Hintergrundes. Den meisten russischen Experten ist die gefährliche Gemengelage im Nordkaukasus klar, die Ursache des Terrors ist. Eine ernsthafte und öffentliche Ursachensuche hat trotz einer beträchtlichen Einschränkung der Pressefreiheit begonnen.
Nicht Söldner, sondern Überzeugungstäter waren für den Terror verantwortlich
Der Führung in Moskau dürfte klar sein, wie tief islamistisches Gedankengut bis in das direkte Umfeld regionaler Führer in Dagestan vordringen konnte. Es ist bekannt, dass unter den Terroristen Osman Omarov war, der Sohn von Magomed Omarov, eines Amtsträgers der faktischen Regierungspartei „Einiges Russland“, der nun seiner Funktion enthoben und aus der Partei ausgeschlossen wurde. Auch zwei seiner Neffen waren am Anschlag beteiligt.
Zu den Tätern zählte ebenfalls Ali Zakarigaev, der bis vor zwei Jahren die örtliche Filiale der regierungsnahen Partei „Gerechtes Russland“ leitete. „Beamtenkinder werden zu Terroristen“ fasst das Onlineportal Lenta das ziemlich Offensichtliche zusammen. Die Täter seien keine armen Leute gewesen, die sich aus Geldgründen in die Luft sprengten, zitiert die Moskauer Zeitung Kommersant Sergei Melikow, den Präsidenten Dagestans, der damit anerkannte, dass nicht Söldner, sondern Überzeugungstäter für den Terror verantwortlich sind.
Wie sich die Männer so radikalisieren konnten, darüber sprach die Onlinezeitung gazeta.ru mit dem bekannten russischen Kaukasus- und Islamexperten Akhmet Yarlykapov. Ganz offen sieht er Korruption, fehlende Karrierechancen und die örtliche Bürokratie als Ursachen, warum sich junge Leute radikalislamischen Ideologien zuwenden. Mehrere Tausend von ihnen hatten das Land in den 2010er Jahren zeitweise verlassen, um im Syrienkrieg aufseiten von Islamisten zu kämpfen.
Gazeta.ru spricht davon, dass im gesamten Nordkaukasus eine Radikalisierung der Jugend zu beobachten sei. Während beim Kampf dagegen der Inlandsgeheimdienst immer wieder Erfolge feiere, stelle sich „beim ideologischen Aspekt alles als viel komplizierter heraus“. Yarlykapov ist der Meinung, dass sich die Radikalen oft nur sehr oberflächlich mit dem Koran beschäftigten und Fehlinterpretationen zur Grundlage ihres Handelns machen. Hoffnungen setzt man in Russland daher auf gemäßigte Schulen des Islam, die vor Ort eine große Bedeutung haben. Dass der Islam generell ein wesentlicher Bestandteil Russlands ist, bleibt unstrittig.
Kaum verhehlen lässt sich in Russland die Befürchtung, dass es einen Rückfall des Nordkaukasus in Zustände geben könnte, wie sie in den 1990er Jahren und rund um das Millennium herrschten. Die Tschetschenien-Kriege (1994–1996 sowie 1999–2009) oder das Geisel-Drama von Beslan Anfang September 2004 haben sich tief in das kollektive Bewusstsein eingebrannt. Schon aus Eigeninteresse können die Mächtigen die wahren Ursachen der aktuellen Terrorwelle nicht ignorieren. Auch die Geiselnahme in einer Haftanstalt in Rostow am Don Mitte Juni geht auf das Konto des kaukasischen Ablegers des Islamischen Staates (IS).
Dieser werde, wie die Moskauer Nesawisimaja Gaseta schreibt, direkt vom afghanischen IS-Zweig umfassend unterstützt. Es fände sowohl eine finanzielle und propagandistische Unterstützung statt und gebe zusätzlich eine operative Koordinierung der radikalen Gruppen. Die Zeitung kritisiert erstaunlich offen die örtlichen Strukturen des mächtigen Inlandsgeheimdienstes FSB, der die Risikogruppen nur „schwach geheimdienstlich durchdrungen“ haben dürfte und im Vorfeld nichts von den Terrorakten wusste. Vorsichtig fordert die Zeitung deshalb „eine radikale Überarbeitung der gesamten Arbeit der Strafverfolgung in Dagestan“. Nur so könne verhindert werden, dass von der Republik „als schwaches Glied“ eine Gefahr für ganz Russland ausgehe.
Armut und Korruption sind ein Nährboden der Radikalisierung im Nordkaukasus
Es ist russischen Fachleuten klar, dass die tieferen Ursachen des aktuellen Terrors in Dagestan selbst liegen. „Heutzutage gibt es in der Region besonders viele Vertreter radikaler Bewegungen des Islam. Die meisten davon finden sich in Derbent und Machatschkala – die örtlichen Behörden scheinen nichts davon zu bemerken“ meint dazu der Orientalist Kirill Semenov. In genau diesen Städten fanden die aktuellen Anschläge statt.
Neben dem Ruf nach mehr Aktivitäten der Behörden gibt es in Russland jedoch auch noch einen anderen Ansatz bei der Bekämpfung des militanten Islamismus. Kommersant-Kolumnist Dmitry Drize ist der Meinung, dass die Armut und Korruption maßgebliche Gründe für eine Radikalisierung im Nordkaukasus seien. Dieser könnte nicht nur „von oben“ aus dem fernen Moskau bekämpft werden. Man müsste die einfachen Menschen vor Ort fragen und nicht die lokalen Eliten, was in Dagestan falsch laufe, um dem Terror diesen Nährboden zu entziehen.