Josip Broz Tito: Brief an Tito
Genosse Marschall, lieber verehrter drug Tito!
Ich
schreibe Dir, weil ich mal einen Eid geschworen habe.
Auf
Dich. Erinnerst Du Dich? Nein, natürlich hast Du mich persönlich nicht gekannt,
wir waren ja viel zu viele kleine Pionierinnen und Pioniere, und wie Du weißt, waren viele von uns ins westliche Ausland gegangen mit ihren Eltern. Nicht „aus politischen Gründen“, wie
viele von denen heute sagen, um ihre persönliche
Geschichte aufzuwerten, sondern um Geld zu verdienen. Du hast uns vertraut, Du
wusstest, wir würden Dich nicht verraten.
Wir ließen ja alle Familie zurück,
manche sogar ihre Kinder. Wie die sowjetischen Sportler oder Katarina Witt, die
Eisprinzessin aus der DDR, deren Eltern nie mitreisen durften zu den westlichen
Sportereignissen und den Olympiaden, damit sie immer brav zurückkamen, so ließen
auch die sogenannten Gastarbeiter ihre Familien zurück. Das war nicht nur ein Schutz gegen
Verrat am Sozialismus, es war auch gut für den Rückfluss von Devisen in
die Ökonomie unseres schönen Heimatlandes, in unser, Dein Jugoslawien.
Du
warst so klug, Genosse! Mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland hast Du nicht nur
so was Tolles wie die Anwerbung jugoslawischer Arbeiter und Arbeiterinnen
ausbaldowert, sondern auch für ihre Kinder etwas, das sich „muttersprachlicher
Ergänzungsunterricht“ nannte. Da sind wir Gastarbeiterkinder einmal
die Woche hingegangen, wie in eine Warteschleife angesichts der dräuenden Rückkehr. Sie
sagten uns, dass wir nur Gäste seien, die irgendwann nach Hause zurückgehen
würden (mussten?), und dann wäre es ja blöd, wenn wir in der jugoslawischen
Schule nicht mehr die Sprache richtig sprächen oder nicht mehr kyrillisch lesen
und schreiben könnten. Und genauso blöd wäre es, die Flüsse, Seen und Berge der
Heimat nicht aufzählen zu können, die sozialistischen Feiertage nicht zu kennen
und überhaupt nicht zu wissen, wer man eigentlich sei: eine kleine Pionierin,
die ihren Eid auf Dich, den Genossen Tito, auf Brüderlichkeit und Einigkeit und
auf die sozialistische Republik Jugoslawien geleistet hatte: „Druze Tito, mi ti
se kunemo / da sa tvoga puta ne skrenemo!“ („Genosse Tito, wir geloben, von
Deinem Weg nicht abzuweichen!“)
Weißt
Du noch, Tito – ach nein, Du kannst es nicht wissen, Du bist ja schon
lange tot, aber damals lebtest Du noch. Wenn Du auch
gottgleich für uns warst, konntest Du natürlich Deine Augen nicht überall haben, aber vielleicht kanntest
Du ja unsere Lehrerinnen damals aus der „Jugoschule“, wie wir sie nannten?
Ich
habe meine beiden drugaricas geliebt. Wie meine alte, deutsche Grundschullehrerin damals auch. Ich liebte wirklich jede Person, die mir etwas beibrachte, weil
ich so gut darin war zu lernen. Ich lernte schnell, dass wenn einen die
Lehrerin nach der Herkunft fragte, man „Jugoslawin“ zu sagen hatte.
Eine Freundin von mir, Teuta, die aus dem Kosovo kam, antwortete auf die Frage
mit „Albanerin“ und die Lehrerin wies sie zurecht mit den Worten: „Nein, das
bist du nicht, du bist Jugoslawin!“
Ich lernte schnell, mich zu verleugnen
Ich bin auch Albanerin, Genosse, jetzt kann
ich es Dir ja sagen, jetzt fühle ich es endlich selbst, aber damals wollte ich
so sein wie die anderen Kinder. Ich wollte nicht „anders“ sein unter
Meinesgleichen, wo wir doch schon nicht wie die Deutschen waren. Ich wollte
nicht diese komische Sprache meines Vaters sprechen, der mich immer dazu
zwingen wollte, ich wollte nicht noch mehr lernen müssen über noch ein
besonderes Volk, über noch mehr Unterschiede. Ich wollte einfach nur Teil von
etwas sein, wenigstens irgendwo dazugehören. Meine Mutter ist keine Albanerin,
wie Du sicher weißt, darum konnte ich guten Gewissens sagen: „Ja sam
Jugoslovenka.“ Ich bin Jugoslawin. Punkt.
Teuta
aus dem Kosovo mit ihren zwei albanischen Elternteilen musste erst
lernen, sich selbst zu verleugnen. Ich konnte es offenbar schon damals ganz
gut. Und wurde immer besser darin. Auch in der deutschen Schule wollte ich
dazugehören. Also war natürlich mein Deutsch fehlerfrei, und ich war die beste Schülerin der Klasse, die beste Schauspielerin, denn niemand durfte wissen, wer ich wirklich war. Die Tochter eines trinkenden albanischen Mannes, der mich und meine Mutter in Angst leben ließ und tyrannisierte. Aber heute weiß ich, Genosse Tito, dass Du von all dem sowieso keine Ahnung hattest, Du
warst ja der Staatspräsident und ich nur eine kleine Pionierin. Eine unter
vielen. Du warst berühmt und ich nur ein kleines Kind, dem sie erzählten, dass Du
uns brauchst, damit wir Dich im Ausland gut vertreten, mit unseren guten Noten,
unserem tadellosen Auftreten und dem Rezitieren meterlanger Oden an Dich.
Lieber Tito, ich habe es gerne getan. Wirklich. Ich wusste damals nicht, dass
in Deinem Auftrag, in Deinem Jugoslawien Leute eingesperrt wurden, die sich
weigerten, Dich und Deinen Sozialismus zu repräsentieren. Ich kannte weder das
Wort Dissident, noch wusste ich, was ein politischer Gefangener, gar ein politischer Flüchtling sein sollte.
Wer
wollte denn überhaupt aus unserem Jugoslawien fliehen, es war doch so schön
da? Durfte denn nicht jeder reisen? Wir waren schließlich doch auch nach
Deutschland gereist.
Dass
man Dich Dikator nannte, hatte ich nie erlebt. Zu Deinem Staatsbegräbnis kam
die ganze internationale Elite, Du warst ein Teil der Weltgemeinschaft, und
erst nach Deinem Tod wurde mir bewusst, wie sehr ich eben doch Albanerin war.
Als die ehemalige jugoslawische Armee, unter der Führung der Serben, Kroatien
überfiel und Vukovar, der Heimatort meiner kroatischen Freundin Vesna aus der
„Jugoschule“, brannte und ich mit Teuta und ihren albanischen Eltern gegen den
Krieg im Kosovo demonstrieren ging, da lernte auch ich endgültig, dass ich
Albanerin war. Und ebenso Muslimin, wie die Bosnier, deren Heimatland später
von den Serben verheert worden war. Ich lernte, dass Masar in einem Gefängnis
für politische Gefangene in Albanien gefoltert worden war unter Enver Hoxha und
dass auch unter Deiner harten Hand, die sich als Weltoffenheit tarnte, Neofaschisten
heranreifen konnten, die Dein schönes Jugoslawien, unser Heimatland, lieber
Tito, von innen zu zerstören wussten.
Genosse Marschall, lieber verehrter drug Tito!
Ich
schreibe Dir, weil ich mal einen Eid geschworen habe.
Auf
Dich. Erinnerst Du Dich? Nein, natürlich hast Du mich persönlich nicht gekannt,
wir waren ja viel zu viele kleine Pionierinnen und Pioniere, und wie Du weißt, waren viele von uns ins westliche Ausland gegangen mit ihren Eltern. Nicht „aus politischen Gründen“, wie
viele von denen heute sagen, um ihre persönliche
Geschichte aufzuwerten, sondern um Geld zu verdienen. Du hast uns vertraut, Du
wusstest, wir würden Dich nicht verraten.