Staples Jr. Singers: Gott qua Geheimwaffe
Wo
ist der Soul der Schwarzen Kirchen geblieben? Wer den zeitgenössischen Gospel
allein über kommerzielle Radiosender und Charts verfolgt, war zuletzt wohl
enttäuscht. Nicht nur, dass die Stars des Genres musikalisch weitgehend den
Erfolgsformeln ihrer Popverwandtschaft folgen. Das Cross-over zum weißen Markt
schlägt sich auch in den Texten manches Künstlers nieder: Da ist kaum noch
etwas vom Geist Schwarzer Selbstermächtigung und von gesellschaftlichem
Aufbruch zu spüren, der zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung von den Kirchen in
die Soulszene schwappte.
„Schwarze Gospelmusik“, schrieb Cory Hunter 2022
in der Zeitschrift Musical Quarterly, „hat traditionellerweise die
existenziellen Anliegen der Schwarzen Community artikuliert.“ Aber, so
erklärt der Musikwissenschaftler und Professor der University of Rochester:
Dieses Selbstverständnis gerate ins
Bröckeln. Viele der sichtbarsten und kommerziell erfolgreichsten Gospelstars
feierten stattdessen eine Theologie der „racial oneness“ – was
letztlich nichts anderes sei als: apolitische Farbenblindheit. Man befreie sich von
den Assoziationen Schwarzer Geschichte und adressiere statt sozialer
Ungerechtigkeiten lieber die Verantwortung des Einzelnen.
Doch
es gab eine Zeit, in der Schwarze Gospelmusik in den USA höhere Ambitionen
verfolgte als nur good vibrations und blessings. Als Schwarze
Bands wie die Staple Singers oder die Rance Allen Group Jesus‘ Botschaft als
gesellschaftliche Mission predigten und mit ihrer Mischung aus Funk und Soul
selbst auf säkularen Festivals wie Wattstax 1972 in Los Angeles Hunderttausende
erreichten. Was letztlich niemanden erstaunen dürfte: Hatten nicht Ray Charles, Sam Cooke und Little Richard seit Anfang der Sechziger die Energie der Baptistengottesdienste
in die Straßen getragen, jahrhundertealte Tropen Schwarzer Predigtkunst auf
sexy Weise umgedeutet? Die Beseeltheit des Pop stammt aus der Schwarzen Kirche.
Und natürlich waren es Gospelelemente, die einige der entrücktesten Momente des
Soul lieferten, nachzuhören etwa bei Aretha Franklin und Marvin Gaye, D. J. Rogers
und Curtis Mayfield.
Diese
Soulstars repräsentieren den charttauglichen Teil eines bis heute fruchtbaren Nährbodens. Tausende Amateure bringen immer noch Sonntag
für Sonntag die Kirchenschiffe zwischen Harlem und Miami zum Rocken, namenlose
Musiker mischen Folk und Blues, Soul und Funk in die alten Hymnen, während die Verschleifungen
und Melismen der Gospelgesänge eine jahrhundertealte Überlebensgemeinschaft
heraufbeschwören.
Zu dieser Gemeinschaft gehören auch die Staples Jr. Singers. Benannt nach
ihren Vorbildern, den Staple Singers, schien der Wirkungskreis des Familientrios lange auf den
Dunstkreis lokaler Kirchengemeinden rund um ihren Geburtsort Aberdeen im
US-Bundesstaat Mississippi beschränkt. Ihr einziges Album When Do We Get
Paid hatten Annie, R. C. und Edward Brown 1975 mit
eigenen Mitteln aufgenommen und bei
ihren Auftritten aus dem Kofferraum verkauft. Die Auflage von gerade einmal 500
Stück hätte wohl kaum Spuren hinterlassen, wenn nicht David Byrnes Label Luaka
Bop 2019 im Rahmen des Samplers The Time for Peace Is Now, einer
Sammlung von sozialkritischen Gospelsongs aus den Sechziger- und
Siebzigerjahren, eines ihrer Stücke lizenziert hätte.
When
Do We Get Paid,
eine raue Melange aus Folk, Soul und Heiligem Geist, erschien 2022 als Wiederveröffentlichung bei Luaka Bop. Kritiker feierten es als Sensation. Die drei Geschwister, die zuvor
noch nie aus den Südstaaten herausgekommen waren, tourten plötzlich auf großen
Festivals in den USA und Europa. Eine Idee lag also auf der Hand: Könnten die
Gospelveteranen nicht ein zweites Album aufnehmen? Ein Werk, das den Spirit
von einst aufs Neue entzündet?
Searching
heißt das Ergebnis
dieser Idee und erscheint fast 50 Jahre nach der ursprünglichen
Veröffentlichung von When Do We Get Paid. Der Produzent Ahmed Gallab, in
der Popwelt unter seinem Künstlernamen Sinkane bekannt, versuchte, alles so
schlicht wie möglich zu halten. Er holte die Staples Jr. Singers für zwei
Abende in eine Kirche in West Point im US-Bundesstaat Mississippi. Platzierte
die drei Sänger zusammen mit einer Rhythmusgruppe aus R. C. Browns Sohn Gary, seinem
Enkel Jaylin und Edwards Sohn Troy in einem Halbkreis. Und ließ sie einfach singen und spielen –
Songs, die sie bereits vor einem halben Jahrhundert geschrieben hatten.
Man
hört Searching die Vertrautheit der Musiker zueinander, ihre Verbundenheit
und familiäre Gelöstheit an. Die Stimmen
der Staples Jr. Singers mögen zwar etwas
älter, etwas reifer, etwas abgeklärter klingen als noch auf When Do We Get
Paid. Ihre Kraft aber haben sie nicht eingebüßt. Noch immer entwickeln sie
eine geradezu angsterregende Emotionalität, eine rhythmische Sprache, die von
den stampfenden Sklavengesängen über die Sehnsuchtshymnen der Bürgerrechtsbewegung
bis zu aktuellen Hip-Hop-Samples führt, eine Intensität, die geradezu süchtig
machen kann. Soll man es ekstatische Selbstvergessenheit nennen? Jedenfalls
muss man keine Textexegese betreiben, um den Kurzschluss zwischen menschlichem
Leid und himmlischer Versöhnung zu spüren, den die Staples Jr. Singers
beschwören.
Wo
ist der Soul der Schwarzen Kirchen geblieben? Wer den zeitgenössischen Gospel
allein über kommerzielle Radiosender und Charts verfolgt, war zuletzt wohl
enttäuscht. Nicht nur, dass die Stars des Genres musikalisch weitgehend den
Erfolgsformeln ihrer Popverwandtschaft folgen. Das Cross-over zum weißen Markt
schlägt sich auch in den Texten manches Künstlers nieder: Da ist kaum noch
etwas vom Geist Schwarzer Selbstermächtigung und von gesellschaftlichem
Aufbruch zu spüren, der zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung von den Kirchen in
die Soulszene schwappte.