Erinnerungskultur: Wir sind nicht darüber hinweg

Seit vielen Jahren beschäftigt sich die Regisseurin,
Drehbuchautorin und Produzentin Julia von Heinz mit der deutschen
NS-Vergangenheit. Ihr jüngster Film „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“ erzählt,
wie eine New
Yorkerin gemeinsam mit ihrem Vater, einem Holocaustüberlebenden, durch dessen Heimatstadt in Polen bis nach Auschwitz reist. Erst am Ende ihrer Reise schaffen sie es,
die eigene Sprachlosigkeit überwinden. Der Film mit
Lena Dunham und Steven Fry feierte im Februar Premiere auf der Berlinale, Anfang Juni wurde er auf dem Tribeca Festival in New York gezeigt und ist
nun in mehr als 600 Kinos in den USA zu sehen. In Deutschland ist er ab 12. September im Kino zu sehen und läuft derzeit in Berlin im Rahmen des
Jüdischen Filmfestivals.

Wenn ich einen Film
mache, der den Holocaust zum Thema hat, muss ich mich von
Finanzierungspartnern, Filmkritik und Publikum fragen lassen, warum. Wurde das
nicht schon oft genug gemacht? Haben wir nicht schon genug davon?

Der Erinnerungskultur zum
Holocaust kommt wegen der Dimension und Einzigartigkeit dieses staatlich
organisierten Verbrechens im deutschsprachigen Raum eine besondere Bedeutung zu
– noch. Sie wird jedoch inzwischen von vielen Seiten in Deutschland, aber auch
international infrage gestellt.

Diesmal ist es anders
als 1986 bei dem Historikerstreit zwischen Ernst Nolte und Jürgen Habermas, in
welchem Nolte unter anderem die Einzigartigkeit und Dimension des Holocaust infrage stellte, oder 1998, als der Schriftsteller
Martin Walser warnte, die ständige Erwähnung der NS-Zeit könne zur Folge haben,
dass Auschwitz zur „Moralkeule“ verkomme.

Heute ist es ein Get over it, ein „Kommt endlich darüber weg“, ohne dass Dimension und
Singularität des Holocaust angezweifelt werden. Man will sich neuen Themen
widmen, ohne, dass sie vom Holocaust überschattet
werden. (Das gilt nicht nur für Filme,
sondern für Kulturerzeugnisse jeder Art.)

Die AfD verdichtet das
in Punkt 7 ihres Parteiprogrammes: „Die
aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des
Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung
aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher
Geschichte mit umfasst.“ Gerne wüsste ich, welche Filme hier entstehen sollen.
Es steht zu befürchten, dass wir es bald erfahren werden.

Volle Bierzelte für
Aiwanger, bierselige Massen von Deutschen, die einem Politiker im Jahr 2024
zujubeln, nachdem, oder gerade weil er mit einem Flugblatt aus seiner Schulzeit in den
Achtzigerjahren in Verbindung gebracht wurde, auf dem man einen „Freiflug durch
den Schornstein von Auschwitz“ gewinnen konnte. Deutsche Kulturschaffende,
die den BDS unterstützen, ohne bei „Boycott Israel“ an „Kauft nicht bei Juden“
zu denken. Ich habe kein Vertrauen in die Deutschen. 

Neu ist dabei die Hinterfragung der Erinnerungskultur von links
im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt: „Is the Holocaust being hijacked?
fragte Jonathan Glazer, Regisseur von The Zone of Interest in seiner
Oscar-Rede.
Masha Gessen, progressiv, jüdisch, in Berlin lebend, schreibt im
Essay In the Shadow of the Holocaust im New Yorker: „Das Bemühen (der deutschen Erinnerungskultur) begann sich
statisch, gläsern anzufühlen, als wäre es ein Bemühen, sich nicht nur an die
Geschichte zu erinnern, sondern auch sicherzustellen, dass nur an diese
bestimmte Geschichte erinnert wird – und nur auf diese Weise.“ Aus Gessens Sicht verhindert eine museale, statische
Erinnerungskultur eine Kritik an der israelischen Regierung aus Deutschland
heraus.

Den Gedanken der musealen Statik kann ich nachvollziehen,
ziehe jedoch andere Schlüsse daraus. Die von Gessen beschriebene Erinnerungskultur nützt deshalb wenig,
weil eine persönliche Erinnerungskultur, eine Geschichtsschreibung innerhalb
der Familien meist nicht stattgefunden hat.