Großbritannien: Auf in den Crash!
Wenn es noch ein Bild brauchte, um den Zustand der britischen Regierungspartei auf den Punkt zu bringen: Premierminister Rishi Sunak lieferte es am späten Mittwochnachmittag vor 10 Downing Street. Im Schauerwetter trat er vor die Tür des Londoner Regierungssitzes, um das Datum zu verraten, auf welches das Land seit Monaten wartet: Am 4. Juli, bestimmte Sunak, werden die Parlamentswahlen stattfinden. Keine heilige Tradition gebietet es, dass der Regierungschef solch wichtige Ankündigungen ohne Regenschutz zu absolvieren hat. Der Tory-Chef aber ließ sein Jackett durchweichen, während er die Britinnen und Briten beschwor, ihm noch einmal das Land anzuvertrauen.
Der rasche Wahltermin ist eine Überraschung. Die meisten Beobachter hatten damit gerechnet, dass Sunak die Unterhauswahlen erst für den Herbst ausrufen würde. Dies hätte den Konservativen noch mehr Zeit verschafft, die ungünstige Stimmung zu drehen. Denn den Torys droht eine Niederlage wie noch nie in ihrer fast 200-jährigen Geschichte. „Ich kann nicht sagen, dass wir alles richtig gemacht hätten“, gestand Sunak. Aber Labour, die Opposition, habe keinen Plan für die Zukunft, „wie kann man ihr also zutrauen, unser Land zu führen?“ Der Premier mühte sich nicht nur, die Fassung zu bewahren, während sein Anzug sich mit Regenwasser vollsog. Zugleich musste er gegen die Beschallung von Demonstranten mit schlechten demokratischen Manieren anreden, die die Downing Street mit ohrenbetäubender Musik beschallten, genauer gesagt mit dem Titel Things Can Only Get Better.
Für die Torys dürfte schwerlich irgendetwas besser werden bei den nun anstehenden Wahlen. Sie liegen seit Monaten etwa 20 Prozentpunkte hinter der Labourpartei. Bei den Kommunalwahlen vor drei Wochen verloren sie fast die Hälfte von 1.000 Gemeinderatsvertreterinnen und -vertretern und neun von zehn Bürgermeisterposten in größeren Städten, einschließlich London. Ein Crash bei den Unterhauswahlen scheint also sicher. Warum stehen die britischen Konservativen nach 14 Jahren in der Regierungsverantwortung derart desolat da? Und was verspricht Sunak sich von einem frühen Wahltermin?
Die Regierung ist am Minimalanspruch gescheitert
Um den Absturz der Torys zu verstehen, stellt man sich am besten eine Zange vor. Diese Zange sollte klein genug sein, um sie sich in den Mund schieben zu können – und groß genug, um einen Zahn herauszuhebeln. Dieser Zahn nämlich, das stelle man sich weiter vor, schmerzt seit Wochen. Leider gibt es aber auf Monate hinaus keine Termine bei Zahnärzten, weil der nationale Gesundheitsdienst chronisch überlastet ist. Es bleibt also nur die Do-it-yourself-Lösung. Nun stelle man sich die Empfindungen vor, die jemanden befallen, der sich eben jene Zange an eben jenen faulenden Zahn legen muss, um ihn sich selbst aus dem Mund zu reißen. Damit sind wir ungefähr bei den Gefühlen angekommen, die den Torys auf der Insel mittlerweile auf recht breiter Front entgegenschlagen.
Das Vereinigte Königreich ist in vielerlei Hinsicht schon noch ein fantastisches Land – außer man ist krank, will irgendwo wohnen oder etwas essen. Die Lebensmittelpreise sind in den vergangenen zwei Jahren um fast 24 Prozent gestiegen. Zugleich stagnierten die Reallöhne über ein Jahrzehnt lang, weswegen die Wähler die cost of living crisis, die Krise bei den Lebenshaltungskosten, regelmäßig als eine ihrer Hauptsorgen benennen. Schleppender Wohnungsbau, kombiniert mit Rekordzuwanderungszahlen, treibt zudem die Mieten in absurde Höhen, und Berufseinsteiger schaffen es angesichts der Häuserpreise nicht mehr, den Fuß auf die erste Sprosse der traditionellen Immobilienleiter zu bekommen, die bisher garantierte, dass die allermeisten Briten in ihren eigenen vier Wänden wohnen konnten. Die Personalkrise im unterfinanzierten Gesundheitsdienst schließlich sorgt tatsächlich dafür, dass sich laut einer Umfrage eines Parlamentsausschusses schon zehn Prozent der Briten gezwungen sahen, bei Zahnproblemen den heimischen Werkzeugkasten zur Hilfe zu holen.
Der Grund, kurzum, warum im Königreich eine gewisse Tory-Phobie um sich greift, besteht also darin, dass die Regierung schon am Minimalanspruch gescheitert ist, den die Wählerschaft gemeinhin an sie stellt: nämlich die drängendsten Probleme des Landes zu verkleinern, statt zu vergrößern. Für zupackendes Politikmanagement blieb womöglich einfach zu wenig Gelegenheit angesichts andauernder innerkonservativer Machtkämpfe. Rishi Sunak ist gegenwärtig der vierte Tory-Premierminister innerhalb von fünf Jahren – und die Rede ist wohlgemerkt nicht von irgendwelchen Jahren, sondern von jenen, die einen Brexit, eine Pandemie und einen Ukraine-Krieg umfassten.
Wenn es noch ein Bild brauchte, um den Zustand der britischen Regierungspartei auf den Punkt zu bringen: Premierminister Rishi Sunak lieferte es am späten Mittwochnachmittag vor 10 Downing Street. Im Schauerwetter trat er vor die Tür des Londoner Regierungssitzes, um das Datum zu verraten, auf welches das Land seit Monaten wartet: Am 4. Juli, bestimmte Sunak, werden die Parlamentswahlen stattfinden. Keine heilige Tradition gebietet es, dass der Regierungschef solch wichtige Ankündigungen ohne Regenschutz zu absolvieren hat. Der Tory-Chef aber ließ sein Jackett durchweichen, während er die Britinnen und Briten beschwor, ihm noch einmal das Land anzuvertrauen.