„Wie unsichtbare Funken“ von Elle McNicoll: Schmerzhaft laut und hell
Wie fühlt es sich an, helles Licht als laut zu empfinden? Geräusche körperlich zu spüren? Die Welt ungefiltert wahrzunehmen? Für die elfjährige Addie ist es manchmal ein Geschenk – etwa dann, wenn sie ihre Schwester Keedie nach Hause kommen hört, lange bevor alle anderen es bemerken. Manchmal ist es aber auch eine Bürde. Denn wie die Sinne der Haie, ihrer Lieblingstiere, sind auch Addies Sinne so scharf, dass die Welt manchmal einfach überwältigend ist. „Dann ist alles zu laut, zu stark, zu viel von allem.“
Addie ist Autistin und erzählt in diesem Kinderroman, wie es sich anfühlt, mit solchen Funken sprühenden Sinnen durch die Welt zu gehen. Sie erzählt aber auch, wie schwer das Leben inmitten von Menschen ist, die keine Vorstellung von solch intensiven Wahrnehmungen haben. Unverständnis ist eine vergleichsweise harmlose Reaktion, Addie erlebt Ablehnung und Mobbing.
Ihre Kindergartenfreundin Jenna hat sich mit einem neuen Mädchen in der Klasse angefreundet, seitdem will sie mit Addie nichts mehr zu tun haben. Auch die neue Lehrerin zeigt keinerlei Verständnis: Addies Handschrift sei erbärmlich, schimpft Miss Murphy und zerreißt Addies Geschichte genau neben ihrem Ohr – markerschütternd laut.
Ausgerechnet Miss Murphy ist es dann aber, die Addie auf eine Fährte lenkt, die ihr Leben verändern wird. Als die Klasse sich in einem großen Projekt mit den Hexenverfolgungen auseinandersetzen soll, die in der frühen Neuzeit auch in ihrem Dorf stattgefunden haben, ist Addie elektrisiert. Etwas an dem Schicksal dieser Frauen, die „anders“ waren, berührt sie tief.
Die schottische Autorin Elle McNicoll, selbst Autistin, schildert eindrücklich, wie Addie die Welt wahrnimmt: Licht kann schmerzen, Lautstärke im Wortsinne nerven, die Zunge kann in Geschmack ertrinken. Die Strategien, mit denen Addie und ihre ebenfalls autistische große Schwester Keedie dem Alltag begegnen, sind an der ein oder anderen Stelle etwas lexikalisch geraten – vermutlich aus dem Wunsch heraus, Aufklärung zu leisten: „Selbststimulierendes Verhalten, Stimming, ist etwas, was ich mache, wenn ich mich überreizt fühle“ oder „Masking bedeutet, als neurotypischer Mensch durchzugehen, als jemand, der nicht wie wir ist“. Schon in den nächsten Zeilen gelingt es der Autorin dann aber, diese Fachbegriffe in eine spannende kindgerechte Sprache zu übersetzen – und damit tatsächlich aufzuklären: „Keedie hat mir gesagt, das ist, wie wenn Superhelden so tun müssen, als wären sie gewöhnliche Menschen.“
Dass McNicoll ihrer Heldin in Gestalt der großen Schwester eine Gefährtin an die Seite stellt, von deren Erfahrungen Addie profitieren kann, ist dabei zugleich tröstlich und geschickt arrangiert: Das Mädchen ist nicht allein, wenn sie sich der Welt stellt. Sie hat ein Zuhause, das sie auffängt, und sie hat einen Menschen, der wirklich versteht und nachempfinden kann, wie es ihr geht. Auch das erleichtert es Addie, anderen davon zu erzählen.
Zum Beispiel Audrey, einem zweiten Mädchen, das neu in der Klasse ist. Audrey kommt aus London und zeigt aufrichtiges Interesse an Addie; findet sie nicht seltsam, sondern möchte sie verstehen. Als Miss Murphy der Klasse erzählt, dass man Frauen früher ins Wasser warf, um zu testen, ob sie Hexen waren (das Gegenteil war erst bewiesen, wenn sie untergingen, also starben), hält es Addie vor Wut nicht mehr auf ihrem Stuhl. Audrey beobachtet sie einfach nur, „und als es zur Mittagspause klingelt, guckt sie noch immer und ich fliege von meinem Platz“.
Die Bibliothek ist Addies Zufluchtsort. Laute Gespräche sind hier nicht erlaubt, „alle Bücher sind beschriftet und kategorisiert und an ihrem Platz“. Niemand herrscht sie an, niemand hetzt sie. „Die Wörter halten sich an die Regeln. Die Bilder sind voller Licht und Leben, aber sie überwältigen mich nicht.“ Hier leiht sich Addie Bücher über die Hexenprozesse aus, will alles darüber erfahren. Und sie nimmt schließlich ihren Mut und all ihre Kraft zusammen und versucht, auf der Ratsversammlung gegen den Widerstand des Dorfvorstehers einen Gedenkstein für die ermordeten Frauen des Örtchens durchzusetzen. Sie will an die Frauen erinnern, ihr Schicksal bekannt machen – aufklären.
Dass sie dabei die Urteile ihrer Umwelt, denen sie als Autistin ständig ausgesetzt ist, mit den Schicksalen der als Hexen verurteilten Frauen vergleicht, führt aus historischer Perspektive sicherlich zu weit, doch als Gedankenreise einer Elfjährigen, die verstehen will, wie Ausgrenzung und Vorverurteilung funktionieren, und die ihre Rolle als Außenseiterin nicht akzeptieren will, steckt der Vergleich voller Erkenntnisse. Als Addie schließlich auf einer dritten Dorfversammlung noch einmal aufsteht, um einen Gedenkstein zu fordern, fordert sie zugleich selbstbewusst ihren Platz in der Gemeinschaft ein: „Mein Name ist Addie. Ich bin elf Jahre alt und ich bin Autistin.“ Die Leute murmeln, aber Addie hört nicht auf zu sprechen: „Das macht mir keine Angst. Und ich schäme mich auch nicht dafür. Es ist einfach ein Teil von mir.“
Elle McNicoll: „Wie unsichtbare Funken“. Deutsch von Barbara König; Atrium 2023; 224 S., 15,– €; ab 10 Jahren