China: Xi macht auf
Xi macht auf – Seite 1
Wenige Stunden nachdem die Führung in Peking das Ende der Null-Covid-Ära verkündet hatte, ging bereits ein Witz im Internet viral:
Bevölkerung: „Wann machen wir endlich auf?“
Regierung: „In zehn …“
Bevölkerung: „… in zehn Monaten? Wochen?“
Regierung: „… neun, acht, sieben …
Und … auf.“ China hat nun auf. Kein grüner Reisecode mehr, keine ständigen Massentests, keine „großen Weißen“, Menschen in heller Schutzkleidung also, die nachts gegen die Tür hämmern, um einen ins Quarantänelager zu verschleppen.
Der Albtraum, der die zuletzt immer überzogenere Null-Covid-Politik für viele Hundert Millionen Chinesen war, hat ein Ende gefunden. Die einen, die Jüngeren, die Ladeninhaber und die Fabrikanten, die Lockdown-Geplagten, die Gesunden feiern das als Befreiung – wenn auch nicht auf der Straße, sondern vielfach bereits mit triefender Nase und erhöhter Temperatur zu Hause.
Man darf bei all den menschenverachtenden Auswüchsen der chinesischen Null-Covid-Politik nicht vergessen, dass ebenfalls Hunderte Millionen Menschen im Land, besonders in entlegeneren Gegenden, in drei Jahren Pandemie keinen einzigen Lockdown erlebt haben, vor allem wenn sie nicht reisten. Eine Bäuerin oder ein Kleinstadtrentner hat womöglich bis heute nie ein PCR-Stäbchen im Rachen gehabt. Für die Vorerkrankten, die Alten, für Provinzbewohner, die aufgrund der Null-Covid-Politik bisher keinen Anlass sahen, sich gegen eine ferne Seuche impfen zu lassen, beginnt in diesen Tagen ein anderer Albtraum.
Anruf bei mehreren Impfstellen in Baoding, zwei Millionen Einwohner, 170 Kilometer südwestlich von Peking.
„Wir haben nicht genug Dosen“, sagt der Mitarbeiter in einem Impfzentrum am Stadtrand.
„Es kommt kaum jemand zum Impfen. Niemand geht mehr aus dem Haus, das Virus ist ja überall“, heißt es in einem anderen.
In Baoding zeigt sich gut eine Woche nach der plötzlichen Öffnung, wie unvorbereitet die Führung in Peking das Land in die Durchseuchung entlassen hat: Berichten im Netz zufolge fehlt in vielen Krankenhäusern der Stadt bereits die Hälfte des Ärzte- und Pflegepersonals, weil es selbst infiziert ist. In der Bevölkerung soll sich ein Fünftel der Menschen schon mit Omikron angesteckt haben, mangels Intensivbetten sitzen die Erkrankten teils mit Injektionen im Arm auf Plastikstühlen auf der Straße. Andere brühen auf Tiktok braunen Reisessig im Wok auf, im Glauben, dass eine Tasse davon den Körper desinfiziert.
In der Hauptstadt Peking, die sich der landesweit besten Krankenhäuser rühmt, ist die Lage kaum entspannter. Montagabend am Dritten Ring im östlichen Stadtbezirk Chaoyang: Vor dem Eingang einer Fieberklinik warten mehrere Dutzend Menschen in der Kälte, sie tragen Daunenmäntel und dicke Kapuzen, viele husten, manche sitzen mit den Köpfen im Schoß vergraben auf einer Bank. Eine Dame, um die sechzig, winkt ab, als man ihr eine Frage stellt: Sie habe keine Stimme mehr, bedeutet sie. Die Dame hinter ihr, an die siebzig, schwarze Jacke mit pinkem Schal, hält Alkoholspray in der Hand. Sie sei panisch, sagt sie. „Ich habe keine Symptome, ich will nur Ibuprofen in der Klinik besorgen. Keine Apotheke hat welches mehr.“ Impfen lassen habe sie sich aber nicht – aufgrund ihres hohen Blutdrucks.
In der offiziellen Statistik sinken kurioserweise die Fallzahlen
Dass gerade Menschen mit hohem Blutdruck von einem Impfschutz gegen Corona profitieren, auch von chinesischen Vakzinen, weiß die Dame nicht. Auch scheint ihr nicht klar zu sein, dass sie sich in der Schlange vor der Fieberklinik sehr wahrscheinlich erst ansteckt. Es herrscht heilloses Chaos, berichten Ärzte aus ganz China in den sozialen Medien: Junge Infizierte mit leichter Symptomatik belagern die Fieberkliniken, ältere Risikopatienten dagegen rufen vergebens nach Krankenwagen – damit ihr Notruf erhört wird, bräuchten sie einen positiven PCR-Test. Die meisten Teststellen wurden mit der plötzlichen Öffnung aber dichtgemacht. Manche Senioren sorgen nun vor, indem sie Beatmungsgeräte für daheim bestellen. Aber auch die dürften bald ausverkauft sein.
Den Prognosen staatlicher Epidemiologen zufolge könnten die Infektionszahlen in Metropolen wie Shanghai und Guangzhou bereits innerhalb eines Monats den Höhepunkt erreichen, in Peking sogar noch schneller. In der offiziellen Statistik sinken kurioserweise die Fallzahlen – weil die Führung das möglicherweise so will, aber auch weil das bisher beispiellos effiziente Testsystem zusammengebrochen ist. „Die schwierigste Phase der Pandemie ist vorbei“, behauptete die Nachrichtenagentur Xinhua Anfang Dezember. Das Gegenteil ist der Fall: Das Ärgste steht China noch bevor.
Wie konnte Alleinherrscher Xi Jinping, der noch auf dem Parteitag im Oktober am „Volkskrieg“ gegen das Virus festhielt, über Nacht die Durchseuchung zulassen? Warum hat die Staatsführung keinen geordneten Exit vorbereitet? Schließlich war Null Covid von Xi zur Staatsideologie erkoren worden, sogar die Astronauten auf der chinesischen Raumstation Tiangong mussten Mundschutz tragen.
Im November durfte der renommierte Pekinger Sozialpsychologe Peng Kaiping erstmals im Fernsehen aussprechen, was Gesundheitsexperten längst wussten: Dass nämlich die Zahl der Toten infolge endloser Lockdowns – etwa durch unbehandelte Diabetes-Erkrankungen oder Suizide – die Zahl der Corona-Toten inzwischen weit übertraf. Hinzu kam die ökonomische Verwüstung, die die Null-Covid-Politik seit Eintreffen von Omikron anrichtete: In Shanghai blieb jedes dritte Geschäft nach dem Lockdown im Frühjahr geschlossen. Im Hinterland verdarb vielerorts die Ernte, weil Straßen durch Null-Covid-Sperren blockiert waren. Mindestens jeder fünfte von mehr als zehn Millionen Uni-Absolventen in diesem Sommer hat noch keine Arbeit gefunden. Die Konjunkturdaten für Oktober und November waren miserabel.
So kam Chinas gigantischer Null-Covid-Apparat im Herbst an seine Grenzen: Exponentiell steigende Fallzahlen bedeuten exponentiell steigende Kosten für PCR-Tests und Lockdown-Maßnahmen. Gerade die bisweilen tägliche Testpflicht verschlang Milliarden. Es kam zu Korruption und Betrugsfällen: Private PCR-Test-Firmen fälschten vorsätzlich Positiv-Ergebnisse, um die behördliche Anordnung von lukrativen Massentests herbeizuführen. Den Provinzregierungen, die den Löwenanteil der Null-Covid-Kosten stemmen mussten, ging das Geld aus. Manche Kader nahmen Millionenbeträge her, die für die Armutsbekämpfung vorgesehen waren, um Tests zu bezahlen. Andere bedienten sich beim Infrastrukturbudget oder nahmen Schulden auf, um den Bau von Quarantänelagern zu finanzieren.
Auch Sozial- und Rentenkassen wurden für diese Zwecke geplündert. „In vielen Provinzen haben Polizisten und Beamte der Staatssicherheit seit Monaten keine vollen Gehälter ausbezahlt bekommen – wenn überhaupt“, sagt ein Angehöriger einer gut vernetzten Kaderfamilie gegenüber der ZEIT, der um strikte Anonymität bittet. Normalerweise sprechen Partei-Insider so gut wie nie mit ausländischen Medien. Der stille Unmut über Xis Pandemie-Politik sei in der Partei zuletzt riesig geworden, sagt der Mann.
Angst vor Covid verloren
Inzwischen ist bekannt, dass die Führung Anfang November eine Delegation von Hongkonger Gesundheitsexperten nach Peking zitiert hat, um diese in Sachen möglicher Öffnung um Rat zu fragen. Hongkong machte im Frühjahr eine ähnliche Omikron-Welle durch, wie sie China nun bevorsteht: Das Virus traf nach zwei Jahren Null Covid auf eine immunologisch naive Bevölkerung, viele der über 80-Jährigen waren ungeimpft. Die Folge: Im März diesen Jahres verzeichnete Hongkong die höchste Covid-Todesrate der Welt.
Welchen Rat die Hongkonger Experten der Pekinger Führung gaben, ist unklar. Ab Mitte November jedoch war die chinesische Pandemie-Politik ein einziges Durcheinander aus unkoordinierten Maßnahmen und Gegenmaßnahmen. Die Millionenstadt Shijiazhuang in der Provinz Hebei machte eines Morgens auf, um drei Tage später wieder in Lockdown zu gehen. In der Hauptstadt wurde die Frequenz der PCR-Testpflicht erhöht, die Teststellen wurden aber gleichzeitig abgebaut. Manche Behörden riegelten schon bei einem Fall ganze Viertel ab, andere nur bestimmte Wohngebäude. Inzwischen gab es in China mehr als hundert regionale, nicht miteinander kompatible Gesundheitscodes, die auch mal nach Lust und Laune auf Gelb oder Rot springen konnten.
Xi Jinping absolvierte Mitte November derweil in Bali seinen ersten G20-Auftritt seit drei Jahren – ohne Maske, anders noch als beim Treffen mit seinen Amtskollegen Wladimir Putin, Alexander Lukaschenko und Recep Tayyip Erdoğan in Usbekistan zwei Monate zuvor. Im Anschluss an das G20-Treffen in Bali flog Xi weiter nach Bangkok. Beim Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft Apec begegnet Xi dem neuen Hongkonger Regierungschef John Lee, einem treuen Gewährsmann Pekings, mehrere Male. Am Abschlusstag saßen die beiden nebeneinander in einem Konferenzraum.
Lee wurde zwei Tage danach bei seiner Rückkehr in Hongkong positiv getestet und begab sich umgehend in Heimquarantäne. Xi Jinping ist nun Kontaktperson ersten Grades. Darüber verloren die Staatsmedien nach seiner Rückkehr in Peking aber kein Wort. Gibt man „John Lee infiziert + Xi“ in der Suchmaschine Baidu ein, kommt eine Fehlermeldung. Xi verschwand für fünf Tage aus der Öffentlichkeit.
Am Morgen des 25. November empfing er den Chef der Kommunistischen Partei Kubas in der Großen Halle des Volkes. Am selben Abend gingen Tausende Menschen in Urumqi auf die Straßen und forderten ein Ende des Lockdowns. Gut 30 Stunden später riefen junge Demonstranten in der Wulumuqi-Straße in Shanghai: „Wir wollen keine PCR-Tests, wir wollen Freiheit!“ Und: „Xi Jinping – abtreten!“ Am 1. Dezember hob zunächst die Metropole Guangzhou fast sämtliche Null-Covid-Maßnahmen auf. Sechs Tage später das ganze Land.
Ob Xi sich irgendwann nicht mehr der ökonomischen Realität erwehren konnte, ob er selbst die Angst vor Covid verloren hat, inwieweit die Proteste Eindruck in der Führung hinterlassen haben – all das ist schwer zu beantworten. „Unser Widerstand hat etwas bewirkt. Wir werden nicht einfach zu unserem alten Leben vor der Pandemie zurückkehren“, ist ein Shanghaier Aktivist überzeugt, der nach seinem Netzpseudonym VFK genannt werden will. Er glaubt: Im kurzen Aufbäumen Zehntausender Chinesen schlummert das Potenzial für mehr.
Fest steht, dass die Proteste zum Zeitpunkt des Entschlusses der Partei zur Öffnung noch weit davor standen, existenziell gefährlich fürs System zu werden. Womöglich haben sie dem Regime aber im passenden Moment eine Ausfahrt eröffnet: Millionen mögliche Corona-Tote hin oder her – beinharte Nationalisten können den planlosen Exit aus Null-Covid nun als gutmütiges Einlenken gegenüber dem Volkswillen verkaufen. Sie sagen: Ihr wolltet doch Freiheit! Da habt ihr sie.
Siehe auch: Die Ökonomin Wan-Hsin Liu im Interview über die Zukunft des Geschäfts mit China