7. Oktober | Wieso wird unbedingt uns linken Juden vorgeworfen, Antisemitismus zu schüren?
Antisemitismus kommt in jeder politischen Bewegung vor. Früher beschuldigten manche Kommunisten die Juden, dem Kapitalismus besonders verbunden zu sein, während manche Kapitalisten Juden für den Kommunismus verantwortlich machten. Heute betonen manche Feministinnen, dass Jeffrey Epstein und Harvey Weinstein Juden seien, während manche Rechte uns Juden hinter der Entstehung postkolonialer oder „woker“ Ideologien vermuten.
Seit Jahrzehnten dienen auch der Staat Israel und seine Politik als Anlass für antisemitische Ressentiments – seit dem 7. Oktober 2023 erreichte diese Entwicklung eine neue Stufe.
Dass Antisemitismus in jeder politischen Bewegung vorkommt, bedeutet nicht, dass jede politische Bewegung inhärent antisemitisch wäre. Doch der Umstand, dass Antisemitismus überall andockt, ermöglicht es, die Kritik an ihm, die berechtigt und notwendig ist, so auszudehnen, dass sie unliebsame politische Inhalte gleich mitdiskreditiert.
Damit wird der Antisemitismusvorwurf allerdings je nach Bedarf für die eigenen politischen Zwecke missbraucht und instrumentalisiert. Wenn eine Feministin sich antisemitisch über Harvey Weinstein äußert, wird man nicht den Feminismus als solchen in Frage stellen. Ich allerdings werde immer wieder gefragt, ob mein Einsatz für die universellen Menschenrechte der Palästinenser nicht den Antisemitismus befeuere. Meine Antwort lautet: Nein, das tut er nicht.
Kritik an Israel und Antisemitismus
Es ist auffällig, welche Fragen nicht gestellt werden. Kein Journalist fragt Berlins Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU), ob seine demonstrative Freundschaft mit Elon Musk dem Antisemitismus Vorschub leiste – trotz einer Reihe antisemitischer Tweets und Kommentare Musks auf X, trotz seines Hitlergrußes im Januar 2025.
Niemand scheint Charlie Kirk vorzuwerfen, den Antisemitismus zu befeuern, obwohl er behauptete, Juden würden die Medien und Hollywood kontrollieren. Und erst recht wagt kaum ein großes deutsches Medium zu fragen, ob es den Antisemitismus befeuere, wenn ein Staat behauptet, alle Jüdinnen und Juden weltweit zu repräsentieren, jüdische Symbole wie den Davidstern und die Menorah als Hoheitszeichen verwendet und dann Kriegsverbrechen und Völkermord begeht. Eine jüdische Person jedoch, die sich gegen ethnische Säuberung, Genozid und die illegale Besatzung einsetzt, wird mit dieser Frage überall konfrontiert.
Dabei grenzt die Frage – ob Kritik an Israel Antisemitismus befeuere – selbst an Antisemitismus, und das aus zwei Gründen. Erstens impliziert sie, dass das Verhalten oder die Meinung einer einzelnen jüdischen Person repräsentativ für alle Jüdinnen und Juden sei. Das sollten wir kategorisch ablehnen.
Zweitens ist die Implikation antisemitisch, weil sie denselben Mechanismus verschwörungstheoretischen Denkens reproduziert, auf dem der Antisemitismus beruht. Antisemitismus ist letztlich ein Genre von Verschwörungstheorien. Er findet in allem Möglichen eine vermeintliche Bestätigung seiner Vorurteile. Wer suggeriert, dass eine jüdische Person den Antisemiten mit ihrer Haltung „Argumente“ liefere, akzeptiert diese Logik.
Israel und Judentum
Doch wie steht es um den Staat Israel selbst, der sich als „jüdischer Staat“ bezeichnet und in unserem Namen einen Völkermord begeht? Ist der Hinweis darauf, dass dies Antisemitismus befeuere, ebenfalls antisemitisch? Ich würde sagen: Ja, die Frage ist antisemitisch.
Es ist zutiefst menschlich, angesichts der Bilder aus Gaza oder dem Westjordanland Wut zu empfinden, ebenso angesichts der historischen Zeugnisse der Nakba von 1948. Es ist selbstverständlich, dass es einem das Herz zerreißt, wenn man eine palästinensische Frau schreien hört, deren Kinder verbrannt oder erschossen wurden. Der Impuls, auf die Straße zu gehen und von der eigenen Regierung ein Ende dieser Monstrositäten zu fordern, ist moralisch nicht nur nachvollziehbar, sondern notwendig. Doch an keinem Punkt darf die logische Konsequenz lauten, „die Juden“ insgesamt seien verantwortlich.
Man darf Israel hassen – als Staat, als Regierung, als Gesellschaft, die sich in Schweigen und Verdrängung flüchtet. Man darf den Zionismus als Projekt infrage stellen, angesichts des moralischen Abgrunds, der sich in den vergangenen Jahren offenbart hat. All dies ist keine Form von Antisemitismus. Antisemitisch wird es erst, wenn diese Kritik auf Jüdinnen und Juden als solche, als Bevölkerungsgruppe, ausgeweitet wird – wenn also eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Staat Israel, der Ideologie des Zionismus und dem Judentum selbst gezogen wird.
Genau diese fatale Verbindung wird jedoch von allen möglichen Seiten reproduziert: von US-amerikanischen Rechtsaußen wie Tucker Carlson, die sich neuerdings als „pro-palästinensisch“ inszenieren, bis hin zu Zionisten selbst, die das Existenzrecht ihres Projekts aus der Gleichsetzung von Judentum und Zionismus ableiten.
Antisemiten brauchen uns real existierende Juden und Jüdinnen eigentlich gar nicht für ihren Hass und ihre kruden Fantasien. Danke aber für die Frage.
Tomer Dotan-Dreyfus ist Autor und Übersetzer. Er ist in Haifa aufgewachsen und lebt seit 2011 in Berlin. Gerade ist sein Buch Keinheimisch. Kindheit in Israel, Leben in Deutschland im Propyläen Verlag erschienen