35 Jahre Mauerfall: Warum wir Zuversicht aus Ostdeutschland schöpfen sollten

Über die Turbulenzen der vergangenen Woche – vom Wahlsieg Trumps bis zum Ampel-Aus und Neuwahlen – ist ein wichtiger Tag in der Geschichte Deutschlands fast unbemerkt geblieben: der 35. Jahrestag des Mauerfalls

Der 9. November 1989 markiert den Beginn des größten und bemerkenswertesten Erfolgs in der deutschen Geschichte und nicht – wie allzu viele meinen – den Beginn der Spaltung, des Scheiterns und der Polarisierung. Wir werden die gefühlte Spaltung zwischen Ost und West nicht überwinden, wenn wir nicht eine grundlegend andere Wahrnehmung dieses wichtigen Tages haben. Wir Deutschen müssen endlich aufhören zu jammern und stattdessen unsere Erfolge feiern und unsere Stärken wertschätzen. Dies ist möglich, ohne dass wir Fehler und Probleme kleinreden oder ausblenden.

Die Diskrepanz vor allem zwischen der
wirtschaftlichen Realität und der Stimmung in unserem Land, insbesondere in Ostdeutschland,
ist riesig – und zwar auf vier Ebenen. Die erste Ebene betrifft die
Zufriedenheit der Menschen, wie der erste Gleichwertigkeitsbericht
und Studien des DIW Berlin
aufzeigen: Die individuelle Zufriedenheit der Deutschen mit ihrem eigenen Leben
ist in den vergangenen 20 Jahren stetig gestiegen. Gleichzeitig ist die
Zufriedenheit mit der Gesellschaft, der Daseinsfürsorge und der Politik gering.
Wie können Menschen so zufrieden mit ihrem eigenen Leben sein, aber
gleichzeitig so unzufrieden mit der Gesellschaft, in der sie leben?

Eine zweite Ebene betrifft die regionalen
Unterschiede bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Das durchschnittliche
Einkommen in Ostdeutschland liegt heute bei circa 80 Prozent des Einkommens im Westen.
Möglich wurde dies durch einen enormen Aufholprozess in den letzten
Jahrzehnten. Trotzdem wird es von vielen als ein Scheitern und eine schreiende
Ungerechtigkeit wahrgenommen, dass es noch immer keine Parität bei Löhnen und
Einkommen zwischen Ost und West gibt. Fakt ist, dass die regionalen Unterschiede
in Deutschland heute sehr viel geringer sind als in fast jedem vergleichbaren
Industrieland, wie verschiedene Daten der OECD und der EU-Kommission zeigen.
Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Nord und Süd in Italien, Spanien,
Frankreich oder Großbritannien sind sehr viel größer – und zwar nicht erst seit
35, sondern zum Teil schon seit über 100 Jahren.

Wirtschaftliche Transformation hat Ostdeutschen viel abverlangt

Zudem sind auch innerhalb Ost- und Westdeutschlands
die wirtschaftlichen Unterschiede erheblich. Leipzig, Dresden und Erfurt sind prosperierende
Städte, während viele ländliche Regionen im Osten wirtschaftlich schwächer bleiben.
In vielen Teilen Baden-Württembergs und Bayerns ist der wirtschaftliche
Wohlstand enorm; strukturschwächere Regionen in Nordrhein-Westfalen,
Rheinland-Pfalz oder dem Saarland haben in den letzten drei Jahrzehnten den
Anschluss verloren und haben teilweise noch größere strukturelle Probleme als
viele im Osten. Es gibt unbestritten wichtige systematische Unterschiede
zwischen Ost und West – bei Vermögen, Erbschaften, Gender Pay Gap oder beim
Durchschnittsalter. Aber die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede
zwischen Ost und West sind meist geringer als innerhalb der Regionen.

Die dritte Ebene betrifft die Wahrnehmung, die
wirtschaftliche Transformation in Ostdeutschland sei kein Erfolg gewesen,
sondern habe viele Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geschaffen. Dabei hat
kaum eine Region in der Welt, auch in Osteuropa, so erfolgreich eine so
grundlegende wirtschaftliche Transformation bewältigt wie die Menschen in
Ostdeutschland. Diese Transformation hat den Menschen in Ostdeutschland viel
abverlangt. 80 Prozent der Industriejobs der DDR sind innerhalb weniger Jahre
verschwunden und wurden erst graduell, in anderen Regionen und in anderen
Branchen ersetzt.

Die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit der
Menschen in Ostdeutschland sind in jeder Hinsicht bemerkenswert. Viele Menschen
mussten in der ersten Phase nach der Wiedervereinigung in andere Regionen
umziehen oder zum Arbeitsplatz pendeln, sofern sie einen hatten. Viele
Millionen Ostdeutsche steckten viele Jahre in sogenannten
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen fest, mussten sich neu qualifizieren und neu
erfinden – viele nicht nur einmal, sondern mehrfach. Heute gibt es
Rekordbeschäftigung in Ostdeutschland, die Arbeitslosenquote ist niedrig – im
Durchschnitt zwar etwas höher als im Westen, aber in vielen individuellen
Städten und Regionen ist sie sogar niedriger. Es gibt eine wachsende Anzahl
innovativer Unternehmen, und ostdeutsche Regionen fangen an, eigene komparative
Vorteile und wirtschaftliche Identitäten zu entwickeln.

Warum Hass statt Stolz?

Als Viertes ist die Zufriedenheit mit der
Daseinsvorsorge in Ostdeutschland sehr gering, wie der Gleichwertigkeitsbericht
zeigt. Das Gefühl ist, die Gesundheitsvorsorge sei unzureichend, soziale
Sicherheit und Vorsorge würden schlechter und die Infrastruktur werde vernachlässigt.
Die Wahrnehmung ist, dass die Kriminalität zunehme und die Menschen sich nicht
mehr sicher im öffentlichen Raum bewegen könnten. Die Fakten zeigen jedoch ein
gegenteiliges Bild: Die Gesundheitsvorsorge hat sich in den letzten 35 Jahren
deutlich verbessert, die Lebenserwartung hat im Osten stärker zugenommen als im
Westen. Die Kriminalitätsrate nimmt ab, die Städte werden sicherer und nicht
unsicherer. Die sozialen Sicherungssysteme unterstützen Menschen im Osten nicht
weniger als die Menschen im Westen.

Statt stolz auf das schon Erreichte zu sein, wird die
Stimmung zunehmend geprägt von Hass, Ausgrenzung und Abgrenzung von Menschen
aus anderen Regionen in Deutschland und insbesondere von Menschen aus dem
Ausland. Die Ablehnung der Vielfalt und einer offenen Gesellschaft nimmt zu.
Dabei profitiert kaum eine Region so stark von dieser Vielfalt und Offenheit.