Zurückweisungen zulässig?: Experte: Historiker strickt Asyl-Legende – und Merz sitzt ihr aufwärts

Sind generelle Zurückweisungen an der deutschen Grenze zulässig oder nicht? Eine Frage, die sich wie Kaugummi durch den Wahlkampf zieht – und deren Beantwortung je nach Partei kaum unterschiedlicher ausfallen könnte. Pauschale Zurückweisungen von Schutzsuchenden an der Grenze würden gegen Europa- und Verfassungsrecht verstoßen, betont Bundeskanzler Olaf Scholz im TV-Duell mit Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz. Eben nicht, versichert der CDU-Chef und beruft sich dabei auf die Einordnung des Grundrechts auf Asyl durch den renommierten Historiker Heinrich August Winkler. Genau diese Quelle sei jedoch aus gleich zwei Gründen problematisch, sagt der Verwaltungsrechtler und Experte für Rechtsgeschichte, Patrick Heinemann, im Gespräch mit ntv.de.
ntv.de: Der Historiker Heinrich August Winkler schreibt im „Spiegel“, dass es im Grundgesetz nie ein individuelles Recht auf Asyl gegeben habe. Dementsprechend stünde es den Plänen der Union für Zurückweisungen an der Grenze auch nicht entgegen. Ist Deutschland tatsächlich einer „Asyllegende“ auferlegen?
Patrick Heinemann: Nein. Denn der sehr renommierte Historiker Heinrich August Winkler liegt in diesem Punkt falsch. Das Gegenteil seiner Ausführungen ist der Fall: Seitdem es die Bundesrepublik Deutschland gibt, gibt es ein Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte. In der Formulierung des Artikel 16a des Grundgesetzes sind die „Politisch Verfolgten“ das Subjekt des Satzes. Sie genießen also Asylrecht und können das nach Maßgabe der Gesetze vor deutschen Gerichten einklagen.
Winkler geht hingegen von einem institutionellen Asylrecht aus. Er legt das Grundrecht dabei weniger wörtlich als vielmehr historisch aus. Der Historiker schreibt: „Ein Recht auf Asyl in einem bestimmten Land ist den Vätern und Müttern des Grundgesetzes niemals in den Sinn gekommen.“
Auch das ist nicht richtig. Bei den Beratungen zum Text des Grundgesetzes – sowohl im Konvent von Herrenchiemsee als auch bei den Beratungen im Parlamentarischen Rat – war noch nicht einmal umstritten, dass es sich um ein subjektives Grundrecht handelt. Richtig ist, dass über die Formulierung diskutiert wurde, weil man überlegt hat, wie weit das Grundrecht reichen soll. Man hat sich damals zum Beispiel die Frage gestellt, ob das Grundrecht nur für Ausländer gelten soll. Das Problem wäre dann aber gewesen, dass Deutsche aus der sowjetisch besetzten Zone, also aus der späteren DDR, ausgeschlossen worden wären. Überlegt wurde auch, ob nur die Verfolgung aus bestimmten politischen Gründen maßgeblich sein soll. Im Ergebnis hat man sich aber dagegen entschieden und eine Formulierung ohne Wertung gewählt. Bei all diesen Überlegungen stand jedoch nie zur Debatte, dass es sich um ein individuelles Recht handelt. Das belegen die historischen Unterlagen ebenso wie die Stellung des Asylrechts im Abschnitt der Grundrechte. Grundrechte verleihen ja gerade dem Einzelnen Ansprüche gegenüber Hoheitsträgern, also insbesondere dem Staat.
Trotzdem unterliegen auch die Grundrechte einer Auslegung, wie Winkler in seinem Beitrag deutlich macht. Wolle man tatsächlich etwas ändern, müsse man nur die „eigenwillige und anfechtbare Auslegung“ des Asylrechts ablegen. Halten SPD und Grüne zu streng an ihrer Interpretation des Asylrechts fest?
Natürlich kann man die Auslegung ändern. Aber es gibt rechtswissenschaftliche Standards – und damit auch Grenzen. Eine Auslegung, die bei Artikel 16a des Grundgesetztes zu dem Ergebnis kommt, dass es sich nicht um ein subjektives Grundrecht handelt, ist meines Erachtens völlig unvertretbar. Die Debatte, die wir jetzt führen, zeigt vielmehr eine andere Herausforderung: Heinrich August Winkler genießt ein sehr hohes Vertrauen der Öffentlichkeit. Grundsätzlich ist das positiv, denn öffentliche Diskurse kommen ohne solche Autoritäten nicht aus. Problematisch wird es allerdings, wenn eine solche Autorität, die in diesem Fall ja auch noch fachfremd ist, Argumente in die Debatte speist, die nicht nur irreführend, sondern auch irrelevant sind.
Inwiefern irrelevant?
Selbst wenn wir Artikel 16a so auslegen, wie Herr Winkler es beschreibt, würde das nichts an der tatsächlichen rechtlichen Lage ändern. Denn der Artikel im Grundgesetz hat kaum praktische Bedeutung. Die Zahl der Schutzsuchenden, für die er noch eine Rolle spielt, ist laut den Zahlen des BAMF verschwindend gering. Für die große Mehrheit der Geflüchteten, die an der deutschen Grenze ankommen, greifen die Asylvorschriften des EU-Rechts. Das ist bereits seit 1993 so. Seit dem damaligen Asylkompromiss ist Artikel 16a des Grundgesetztes weitgehend entkernt.
Dem widersprechen allerdings auch Winkler und die Union nicht. Die Aushöhlung von Artikel 16a mache die Zurückweisungen an der deutschen Grenze vielmehr gerade möglich. Seit 1993 „hat niemand mehr, der auf dem Landweg eine deutsche Grenze erreicht, einen Anspruch darauf, ein Asylverfahren zu bekommen. Es steht so in unserer Verfassung“, betonte Kanzlerkandidat Friedrich Merz jüngst im TV-Duell und berief sich auf den Historiker.
Das ist insofern richtig, als dass es in Artikel 16a Absatz 2 das Grundrecht auf Asyl ausschließt, wenn jemand aus einem sicheren anderen Staat nach Deutschland kommt. Deutschland ist umgeben von solchen Staaten, das wird somit bei den allermeisten Geflüchteten der Fall sein. Die Argumentation lässt aber den entscheidenden Teil außen vor: Artikel 16a endet nicht nach Absatz 2, sondern hat einen Absatz 5. Und der stellt eben fest, dass EU-Recht und andere völkerrechtliche Verträge eindeutig Vorrang haben. Dieses Recht überlagert Artikel 16a – auch den zweiten Absatz. Maßgeblich ist damit die Dublin-III-Verordnung zum Asylrecht von Schutzsuchenden, zu den Zuständigkeiten der Mitgliedsstaaten und zu den konkreten Vorschriften zum Asylverfahren. Winkler täuscht also über Wesentliches hinweg.
Nun ist die mangelnde Umsetzung der Dublin-III-Vorschriften einer der Hauptdiskussionspunkte in der aktuellen Migrationsdebatte. Winkler schreibt von einer „faktischen Umwandlung des deutschen Asylrechts in ein Einwanderungsrecht“. Inwiefern trifft das zu?
Es gibt große Herausforderungen, was die Praktikabilität und Umsetzbarkeit des EU-Rechts betrifft. Ebenso wird nun viel über die Frage diskutiert, ob Menschen, die aus sicheren Drittstaaten einreisen, ein Asylverfahren in Deutschland bekommen sollen. All das zeigt, dass es sicherlich das Bedürfnis nach einer Reform der EU-Vorschriften gibt. Es spricht ja auch nichts dagegen, mit den anderen Mitgliedsstaaten zu verhandeln und das Recht zu ändern. Da gibt es bereits Bestrebungen. Das steht auf der einen Seite. Auf einer ganz anderen Seite steht jedoch, was Winkler durch seine Ausführungen suggeriert: Nämlich, dass Angela Merkel und Teile der Union gemeinsam mit SPD und Grünen ein neues Recht vorbei am historischen Gesetzgeber geschaffen hätten, das ein unbegrenztes Recht auf Einwanderung zur Folge hat. Das jedoch ist nicht der Fall. Das derzeitige Migrationsgeschehen orientiert sich am EU-Recht, das das im Grundgesetz verankerte, subjektive Recht auf Asyl weitestgehend ersetzt hat. Das heißt: Wenn es in diesem Fall eine Legende gibt, dann wurde sie von Heinrich August Winkler gestrickt – und Rechtskonservative sind ihr aufgesessen.
Mit Patrick Heinemann sprach Sarah Platz
Source: n-tv.de