Zum Tod des Prominentenwirts und Künstlers Michel Würthle

Seit 1950 gibt es im Westteil Berlins in der Nähe des Bahnhofs Zoo eine Gaststätte mit dem Namen „Paris Bar“. Anfangs hing dort am Eingang ein Schild mit dem Hinweis „Man spricht Deutsch“. Noch in den Siebzigerjahren servierte Herr Breslauer, der sympathische Oberkellner, mittags Steak, frites, salade und abends Entrecote mit Sauce Béarnaise. Als der Laden nicht mehr gut lief, wurde er 1979 von Reinold Nohal und Michael Würthle übernommen.
Die beiden hatten das bei Westberliner Kulturschaffenden sehr beliebte „Exil“ in Kreuzberg betrieben, und dessen Stammgäste begeisterten sich sofort auch für das neueröffnete Etablissement in der Charlottenburger Kantstraße 152. Schon bald wurde es zu einem international renommierten Treffpunkt von Künstlern, Bohemiens und Selbstdarstellern. Herrn Breslauer hatte man ebenso übernommen wie die Polsterbänke und die Tische mit der schwarzen Glasauflage, an denen man nicht unbedingt etwas zu essen bestellen musste. Musik gab es nicht, aber Bruno Brunnet, der ebenfalls schon im „Exil“ gearbeitet hatte, durfte nach Vernissagen seiner CFA-Galerie die Musicbox anstellen und lauthals Schlager wie „Griechischer Wein“ mitsingen, und zu Sylvester wurden auch schon einmal stundenlang Langspielplatten von Bob Dylan abgespielt.
Die Paris Bar bezeichnet sich zwar als Restaurant, doch die Speisen bildeten immer nur der Rahmen für stilvolles Trinken. Es wurde ausgiebig getrunken, am meisten naturgemäß von den Künstlern und – nicht zu vergessen – auch den Künstlerinnen. An der Theke erinnert heute noch eine Plakette an Otto Sander, der sich dort vorzugsweise im Stehen berauschte. Im Auge des Orkans fand man jedoch stets den Zeremonienmeister, Michael Würthle, der von allen nur „Mi-Schell“ genannt wird. Michel war der Regisseur spätabendlicher Exzesse. Er bestimmte, wer bei den Filmfestspielen auf Einlass hoffen durfte. Als beispielsweise einmal Jean Rouch an der Tür erschien und sagte, er habe Hunger, musste kurzerhand jemand anders einen Platz freimachen. Michel bevorzugte Weißweinschorle, zu der im Verlauf des Abends häufig noch Wodka hinzukam, oder Chartreuse Verte. Wenn er sich bei einem der Tisch dazusetze, war das eine Auszeichnung, doch redete er dabei nie jemanden nach dem Mund. Im Gegenteil, durch seine sarkastischen Kommentare ließ er so manche pompöse Sprechblase platzen.
Vor zwei Jahren wurde Michel ernsthaft krank, und im „Spiegel“ erschien ein langer Artikel, der ihn bereits als einen Todgeweihten hinstellte. Doch hatte er im Oktober 2022 sogar noch eine Ausstellung im Auktionshaus Grisebach. Dort zeigte er unter anderem Drucke seiner Zeichnungen aus der Zeit als „Schankprinz“ im Exil, dazu eigene Gemälde und mehrere von seinen Freunden und Freundinnen sowie einen Turm aus den dicken, bei Steidl gedruckten roten Büchern, in denen er die Zeit der Seuche verarbeitet hat. Die zumeist mit Schrift versehenen Zeichnungen erinnern ein wenig an Raymond Pettibon. Um ihre Qualität zu ermessen, sollte man einmal versuchen, sie nachzuahmen – es zeigt sich schnell, dass man es hier mit dem Werk eines wirklichen Könners zu tun hat.
Bei der Eröffnung der Schau saß Michel Würthle mit Hut und elfenbeinfarbenem Mantel vor einer Wand mit allen möglichen von ihm zusammengetragenen visuellen Fundstücken. Dort nahm er die Ehrerbietungen einer nicht-enden-wollenden Reihe von alten Vertrauten und jüngeren Bewunderern entgegen. Und alle, die dabei waren, wussten, dass er die Huldigungen, die ihm hier zuteilwurden, wahrlich verdient hat. Durch seinen unermüdlichen Einsatz hat er das Leben (vor allem das Nachtleben) unzähliger Menschen enorm bereichert. Als offizielles Dankeszeichen hätte man ihm dafür schon längst das Bundesverdienstkreuz anheften müssen. Jetzt ist Michel Würthle im Alter von 79 Jahren in Berlin gestorben.
Source: faz.net