Zum 100. Geburtstag von Siegfried Unseld: Eine Jahrhundertfigur
Als 2002 der schon aufgrund seiner imposanten Statur als unverwundbar geltende Kraftmensch im Alter von 78 Jahren starb, war jedem klar, dass es eine mit Siegfried Unseld vergleichbare Verlegerpersönlichkeit in Deutschland nicht mehr geben wird. Und es war auch klar, dass diese besondere Art einer längst aus der Internet-Zeit gefallenen Korrespondenz, wie er sie pflegte, unwiederbringlich verloren war. Ein kleines Beispiel: Wenige Tage nach der Hochzeit meiner Eltern lag ein Buch im Briefkasten, aus dem ein mit Schreibmaschine verfasster Brief fiel, adressiert an meine Mutter: „Warum soll’s Ihnen besser gehen! Aber dessen ungeachtet meinen herzlichen Glückwunsch. Ich überreiche Ihnen den Briefwechsel Hesse-Suhrkamp als Angebinde zu meinen Wünschen, Ihr Siegfried Unseld.“
Er schrieb meiner Mutter
Das Schreiben des damals 45-jährigen Unseld an die attraktive 23-Jährige ist auf den 13. Mai 1969 datiert, er benutzte hierfür das schwere Briefpapier des Suhrkamp Verlags, der damals seinen Sitz in der Frankfurter Lindenstraße hatte. Als Suhrkamp 2009 nach Berlin zog, war das ein ziemlicher Schock für die stolze Bürgerstadt am Main, ein kleineres Beben folgte Anfang diesen Jahres, als bekannt wird, dass Unselds private Villa, in der er mit Familie lebte, aber auch arbeitete und seine Autoren und Autorinnen empfing, für einige Millionen verkauft werden sollte (der Freitag 24/2024). Mittlerweile ist sie es – eine von Lesungen begleitete Ausstellung gedenkt Unselds nun im Frankfurter Holzhausenschlösschen bis Ende November.
Warum schrieb dieser über alle Maßen Vielbeschäftigte diese Zeilen stillen Zynismus, diesen leisen Abgesang auf die bürgerliche Institution Ehe? Besonders gut waren er und meine Mutter nicht miteinander bekannt, sie kannten sich nur flüchtig aus der Arztpraxis, in der sie arbeitete.
Man kann über die Beweggründe nur spekulieren. So tastet sich die Literaturkritikerin Mara Delius im Essay Der Verleger als Verführer an diese heran. Er ist in der Zeitschrift für Ideengeschichte erschienen, die ihre neue Ausgabe monothematisch der Jahrhundertfigur Unseld widmet; am 28. September wäre dieser 100 Jahre alt geworden.
„Aus zeitgenössisch feministischer Sicht liegt der Verleger Siegfried Unseld längst im Giftschrank toxischer Männlichkeit der Literaturgeschichte“, merkt die Literaturkritikerin Mara Delius an.
Darin finden sich auch Texte des Suhrkamp-Autors Rainald Goetz („Alles gefällt mir an Unseld, das macht es schwierig“), des Publizisten Florian Illies oder ein Interview mit einer anderen verlegerischen Legende, dem ehemaligen Hanser-Chef Michael Krüger. Eine hochspannende, fast schon regenbogenhafte Zusammenstellung, die teils überraschende Aspekte dieses Verlegerlebens ausleuchtet, anstatt es mit den bekannten Superlativen zu erhöhen. „Aus zeitgenössisch feministischer Sicht liegt der Verleger Siegfried Unseld längst im Giftschrank toxischer Männlichkeit der Literaturgeschichte“, merkt Delius an.
Mehr auf die Verlagsarbeit bezogen bewunderte schon der damalige Programmleiter Rainer Weiss die Verführungskraft seines ehemaligen Chefs: „Siegfried Unseld war ein Kämpfer, Freund seiner Autoren, ein Mensch, der führen und verführen konnte und in der Regel bekam, was er wollte.“ Weiss versammelte vor 20 Jahren in einem Bibliothek-Suhrkamp-Bändchen 88 Briefe an die Autoren – bei immerhin 15 Briefempfängerinnen hätte man hier allerdings getrost gendern können.
Der Band „Hundert Briefe“ ist wieder so eine Fundgrube, die sich als Ergänzung zu den bereits aufwendig edierten Publikationen mit Korrespondenzen sieht: zu den Briefwechseln Unselds mit Thomas Bernhard, Peter Weiss, Uwe Johnson, Peter Handke oder Wolfgang Koeppen.
Soeben ist der Band Hundert Briefe erschienen. Aus insgesamt 50.000 Bögen (wenn es denn wirklich alle sind) haben die Lektorin Ulrike Anders und Jan Bürger, Leiter des Siegfried Unseld Archivs in Marbach, solche ausgewählt, die aus ihrer Sicht exemplarisch und nahezu unbekannt sind, versehen mit einordnenden Erläuterungen. Wieder so eine Fundgrube, die sich als Ergänzung zu den bereits aufwendig edierten Publikationen mit Korrespondenzen sieht: zu den Briefwechseln Unselds mit Thomas Bernhard, Peter Weiss, Uwe Johnson, Peter Handke oder Wolfgang Koeppen. Letzterer vielleicht der spannendste, gleicht er doch einem faszinierenden Drama in unzähligen Akten.
Am 28. September wird auch die „Chronik“ von Unseld online freigeschaltet. Dabei handelt es sich um sein Tagebuch, an dem er bis zu seinem Tod 2002 schrieb, beziehungsweise diktierte er seine Notizen der wohl wichtigsten Frau im Verlag, seiner Mitarbeiterin Burgel Zeeh. Wegen einer selbst aufgelegten Sperrfrist von 30 Jahren ist eine der maßgeblichen Chroniken über das intellektuelle Leben der alten Bundesrepublik (aber auch über das der DDR, weil er sie nicht nur wegen der Brecht-Erben oft bereiste) vorerst nur für die Jahre 1970 bis 1993 einsehbar. All dies ist gänzlich unkommentiert – anders als die Jahre 1970 und 1971, denen bereits zwei Bände gewidmet waren und die Telefonbüchern einer mittelgroßen Stadt glichen. Daneben finden sich online auch seine Notizen und Reiseberichte, in denen der disziplinierte Schwimmer über seine Begegnungen mit seinen Autoren auf der ganzen Welt berichtete. Da reiht sich Banales wie ein Arztbesuch an die großen Debatten des vergangenen Jahrhunderts, eine schöne Anekdote an eine erschütternde, stilistisch ausgereifte Reportage und Porträts an trocken Geschäftliches oder unverständliche Kurznotate. Es ist ein zeitgeschichtliches Dokument, „das Ausdrücke und Passagen enthält, die heute als diskriminierend betrachtet werden“, wie Suhrkamp auf der Internetseite sicherheitshalber anmerkt. So ganz ohne Inhaltsverzeichnis und Personenregister ist das online eine Herausforderung, denn man muss schon wissen, wonach man in der Maske oben rechts suchen will. Und zumindest in der Vorabversion bauten sich die Zigtausende von Faksimiles noch etwas schwerfällig auf.
Delius stieß bei ihrer Suche jedenfalls auf eine interessante Aussage Unselds, die seine zynische Einstellung die Ehe betreffend zu negieren scheint. Im Januar 1988 schreibt er über seine Beziehung zu Ulla Berkéwicz: „Jahrelange habe ich von der Freiheit geschwärmt und die Ehe als Kerker bezeichnet. Nun, kaum dass ich ‚frei‘ bin, binde ich mich wieder.“ Man hätte auch eine andere Stelle wählen können. Vier Tage vor der Hochzeit von Unseld und Berkéwicz, die seine Nachfolgerin werden wird, trudeln am 24. August 1990 die Glückwunschschreiben ein. Eines stammt von Wolfgang Koeppen, der Goethe zitiert. Unseld merkt in seiner Chronik an, dass es sich überhaupt empfehlen würde, die Wahlverwandtschaften jetzt zu lesen. „Die Ehe ist der Anfang aller Kultur. Sie macht den Rohen mild und der Gebildetste hat keine bessere Gelegenheit, als seine Milde zu beweisen. Unauflöslich muß sie sein: denn sie bringt so vieles Glück, daß alles einzelne Unglück dagegen gar nicht zu rechnen ist.“ Das Zitat ist nicht ganz korrekt, es fehlt das Wort „Gipfel“. Unseld muss es auswendig aufgeschrieben haben – was für eine Gedächtnisleistung!
Der Journalist Willi Winkler führt jetzt noch einen anderen Aspekt aus dem Verlegerleben ins kulturelle Gedächtnis zurück, und dieser klingt zunächst wie eine weitere der vielen Fußnoten: Kissinger & Unseld. Die Freundschaft zweier Überlebender. Mit einer Empfehlung von Hermann Hesse und einer Dissertation über seinen geliebten Dichter in der Tasche trat Unseld zu Lebzeiten Peter Suhrkamps 1952 in den Verlag ein. Wiederum mit einer Empfehlung Hesses besuchte er im Juli/August 1955 die International Summer School an der Harvard University. Dort wollte ein gewisser Henry Kissinger jungen Deutschen (später auch Ingeborg Bachmann) die Überlegenheit des amerikanischen way of life vorführen. Die beiden sollten sich nicht mehr aus den Augen verlieren. Zumal Kissinger in den 1960ern seinen gar nicht trauen wollte – angesichts des vermeintlichen Abdriftens des Suhrkamp Verlags ins Antiamerikanische, in ein linkes und kritisches Geistesleben. Aber Unseld beschritt nie den Weg nach links. „Seine Autoren und Lektoren schlugen ihn ein, und er – das war sein großes Verdienst – ließ sie gewähren, eine Zeit lang wenigstens.“ Winklers Buch ist mehr als eine Doppelbiografie, sie erzählt die Geschichte zweier Machtmenschen in Zeiten des Kalten Krieges und was die „Boygroup Suhrkamp“ um Frisch & Co. und Hesse damit zu tun hat. Muss die Geschichte über Unseld jetzt neu geschrieben werden? Nicht unbedingt, Unseld hat sie in seiner Chronik längst selbst aufgeschrieben.
Hundert Briefe. Mitteilungen eines Verlegers 1947 – 2002 Siegfried Unseld
Suhrkamp 2024, 468 S., 26 €
Unternehmen Unseld Zeitschrift für Ideengeschichte Heft XVIII/3
C. H. Beck 2024, 144 S., 20 €
Kissinger & Unseld. Die Freundschaft zweier Überlebender Willi Winkler
Rowohlt 2024, 304 S., 24 €
Ein Porträt in Briefen Die Schau aus dem Literaturarchiv Marbach ist in Teilen im Holzhausenschlösschen in Frankfurt am Main zu sehen