Zukunft des Landes: Deutschland braucht eine Grand Strategy

Deutschland steht vor den größten Herausforderungen seit Jahrzehnten. An die Stelle einer vermeintlich dauerhaft friedlichen Welt ist eine aus der Geschichte bekannte Rivalität großer Mächte getreten. Die Verschlechterung der geopolitischen Lage fördert Vorbehalte gegenüber einer Globalisierung, von der Deutschlands wirtschaftliches Wohl und Wehe wesentlich abhängt. Im Inneren profitiert ein politischer Populismus unter anderem von einer nur noch stagnierenden Wirtschaft.

Eine Grand Strategy kann dazu beitragen, ein demokratisches, freiheitliches und der sozialen Marktwirtschaft verpflichtetes Deutschland in einer unruhigen Welt fest zu verankern. Der aus dem Militärwesen stammende Begriff bezeichnet in der in den Vereinigten Staaten gebräuchlichen Anwendung den Abgleich der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Ziele eines Staates mit seinen Ressourcen. Ein Denken in solch umfassenden strategischen Konzeptionen ist in Deutschland in der Vergangenheit ein viel zu knappes Gut gewesen.

Eine Grand Strategy spiegelt Grundüberzeugungen wider, die wie ein Kompass den Weg in einer unübersichtlichen Welt weisen. Sie stützt sich auf Fachwissen, darf aber nicht als Elitenprojekt verstanden werden. Eine Grand Strategy wird nicht von einer Regierung verabschiedet, sondern im rationalen Diskurs einer bürgerlichen Gesellschaft verhandelt. Dieser Beitrag skizziert Pfeiler, auf denen eine deutsche Grand Strategy ruhen könnte.

Trump zwingt Verbündete zur Finanzierung der Supermacht

Für die Analyse der geopolitischen Positionierung Deutschlands erweist sich ein in der amerikanischen Politikwissenschaft unter anderem von Hal Brands (Johns Hopkins University) vertretener Ansatz als nützlich. Er beschreibt die Geschichte seit 1945 als ein Bestreben der Vereinigten Staaten, die durch wirtschaftliche Stärke oder Rohstoffreichtum gekennzeichneten Randgebiete des eurasischen Doppelkontinents mit lokalen Partnern gegen eine Herrschaft autokratischer Großmächte zu verteidigen.

Von einer Überdehnung ihrer Macht bedroht, richtet sich das amerikanische Interesse derzeit vor allem auf das pazifische Randgebiet Eurasiens. Gleichzeitig zwingt Donald Trump langjährige Verbündete stärker zur Finanzierung der amerikanischen Supermacht und gemeinsamer Sicherheitsinteressen. „Die Forderung an die Verbündeten, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen und wirtschaftliche Subventionen zu leisten, wird ihre Gefühle verletzen. Aber sie wird die demokratischen Militärausgaben insgesamt erhöhen“, schreibt Brands in einem aktuellen Beitrag. „Eine Wirtschaftspolitik nach dem Motto ‚America First‘ könnte nach dieser Logik die freie Welt stärken.“

Sowohl der Verlauf des jüngsten NATO-Gipfels als auch die Bombardierung iranischer Atomanlagen sprechen gegen eine Abwendung der Vereinigten Staaten von anderen Randgebieten Eurasiens. Auch die Politik Trumps steht, allen verbalen Exzessen und erratisch wirkenden kurzfristigen Ankündigungen zum Trotz, nicht in einem fundamentalen Gegensatz zur bisherigen Eurasien-Konzeption.

Geopolitische Spannungen hinterlassen deutliche Spuren

Daher erscheint auch angesichts offenkundiger Veränderungen in Amerika und einem, wie Brands einräumt, viel zu harschen Umgang Washingtons mit jahrzehntelangen Partnern, ein aufgeregter Abgesang auf die Idee des Westens verfrüht. Zu einer deutschen Grand Strategy gehören folglich weiterhin ein festes Bekenntnis zum Westen und zur NATO als einem starken Verteidigungsbündnis, eine – wenn auch unbestritten schwierige – Beziehungspflege zu Washington, die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit in Europa und stabile Beziehungen zu wohlwollenden Nationen in anderen Weltgegenden.

Seit Jahrzehnten ist Deutschland ein Teil des Westens; alle Versuche, sich als Mittler zwischen Ost und West zu verstehen, sind in der Geschichte auf verheerende Weise gescheitert. Daher gefährdete eine Annäherung an die alternative Eurasien-Konzeption eines gemeinsamen Raumes von Lissabon bis Wladiwostok die Existenzgrundlagen eines demokratischen Deutschlands. Diese Konzeption, für die nicht zufällig in Kreisen der extremen deutschen Rechten Sympathie existiert, wird seit Langem von Moskau vertreten.

In der Weltwirtschaft hinterlassen die geopolitischen Spannungen deutliche Spuren. Trotz aller Eingriffe, etwa durch Zölle und Sanktionen, dürfte die Idee der Schaffung von Wohlstand durch wirtschaftliche Offenheit mit einer hohen Wahrscheinlichkeit den Test der Zeit bestehen. Das mehr als 200 Jahre alte Freihandelstheorem des britischen Ökonomen David Ricardo wird sich als stärker erweisen als der Protektionismus Donald Trumps. Die Globalisierung ist ein dynamischer Prozess und kein statischer Zustand, sie kann sich an ein schwierigeres Umfeld anpassen. Eine deutsche Grand Strategy sollte mit den europäischen Partnern eine Außenwirtschaftspolitik begünstigen, die internationale Märkte so offen wie möglich lässt.

Eine der wichtigsten Gefahren für eine weiterhin möglichst freie Weltwirtschaft bildet der politische Populismus, der sich bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. „Globalisierungsschocks wirken auf latente kulturelle und identitätsbedingte Spaltungen in der Gesellschaft, die sie sowohl aktivieren als auch verstärken. Handels-, Einwanderungs- und Finanzschocks lassen sich offensichtlich Außenseitern zuordnen: ausländische Exporteure, kulturell andersartige Arbeitnehmer und internationale Banken“, hat der Ökonom Dani Rodrik beobachtet. „Wirtschaftliche Ängste und Unsicherheiten können als Bedrohung der traditionellen Lebensweise der dominierenden Bevölkerungsgruppen umgedeutet werden, was die Kluft zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘ vertieft.“

„Zu groß für Europa, aber zu klein für die Welt“

So wird verständlich, warum der Populismus im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten stärker wirkt als in New York oder Los Angeles. Gemessen an den Stimmenanteilen der AfD ist er im Osten Deutschlands erfolgreicher als in westdeutschen Metropolen, und er bleibt im ländlichen Frankreich tiefer verankert als in Paris. Das Bedrohungsgefühl in einer homogenen Gruppe, die sich in der Mehrheit sieht, aber einen Kontrollverlust des Nationalstaats beklagt, stärkt populistische Kräfte.

Unbestreitbar hinterlassen die geopolitischen Spannungen Spuren in der Weltwirtschaft, aber auch in den Köpfen vieler Menschen. „Wir sind an einem weltwirtschaftlichen Epochenwandel“, sagte Moritz Schularick, der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, auf einer Veranstaltung der F.A.Z. im Mai 2025. „Amerika glaubt nicht mehr an die Globalisierung“, sagte Schularick zur Begründung. Auch in Deutschland sei „eine gewisse Nostalgie“ nach weniger globalisierten Zeiten spürbar.

Deutschland besitzt als eine den Supermächten unterlegene Mittelmacht ein vitales Interesse an einem starken, sich zum Westen zugehörig fühlenden Europa. Unverändert gilt Henry Kissingers alte Feststellung: „Armes altes Deutschland – zu groß für Europa, aber zu klein für die Welt.“ Unter rivalisierenden Großmächten definiert sich Macht allerdings nicht nur durch Wirtschaftskraft, sondern auch durch Gegner abschreckende militärische Kapazitäten.

Panzerfahrzeuge von Rheinmetall: Deutschland sollte eine militärische und wirtschaftliche Vitalisierung Europas anregen und befördern.
Panzerfahrzeuge von Rheinmetall: Deutschland sollte eine militärische und wirtschaftliche Vitalisierung Europas anregen und befördern.Reuters

Jede Vorstellung, Europa könne auf eine absehbare Zeit einen starken, mit den USA und China rivalisierenden Machtblock bilden, scheitert daher an einer unzureichenden militärischen Präsenz, aber auch an der Erosion einer Wirtschaft, die vor allem bei modernen Technologien weit zurückgefallen ist. Europa wird, zuletzt mehrfach von Trump regelrecht gedemütigt, auf lange Zeit von Amerika abhängig bleiben. Eine militärische und wirtschaftliche Vitalisierung Europas ist zwar möglich und notwendig, aber keinesfalls selbstverständlich. Sie sollte von Deutschland aus ureigenem Interesse angeregt und befördert werden.

Die digitale Revolution „weitgehend verpasst“

Das Versagen Europas besitzt eine lange Vorgeschichte. Schon vor mehr als 30 Jahren konstatierte der damalige belgische Premierminister Mark Eyskens: „Europa ist ein wirtschaftlicher Riese, ein politischer Zwerg und ein militärischer Wurm.“ Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Zwei von früheren italienischen Ministerpräsidenten vorgelegte Berichte haben in den vergangenen Jahren deutliche Defizite thematisiert. Der Letta-Bericht, benannt nach Enrico Letta, verwies vor allem auf die wirtschaftlichen Potentiale einer Vollendung des Binnenmarkts. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds entsprechen die wirtschaftlichen Schranken in der Europäischen Union einem Zollsatz von mehr als 100 Prozent auf Dienstleistungen und von rund 40 Prozent auf Industrieprodukte.

Ebenfalls seit vielen Jahren sind Forderungen nach einer Kapitalmarktunion zu vernehmen, für die sich schon mehrere Bundesregierungen eingesetzt haben. Sie scheitern an nationalen Vorbehalten. Ein gemeinsamer europäischer Kapitalmarkt erleichterte die Finanzierung besonders vielversprechender Projekte. „Die Europäische Union beherbergt die unglaubliche Summe von 33 Billionen Euro an privaten Ersparnissen, die überwiegend auf Girokonten liegen. Dieser Reichtum wird jedoch nicht in vollem Umfang genutzt, um die strategischen Bedürfnisse der Europäischen Union zu befriedigen“, schreibt Letta. „Ein besorgniserregender Trend ist die jährliche Umleitung europäischer Ersparnisse in die amerikanische Wirtschaft zu amerikanischen Vermögensverwaltern.“

Weitere Defizite, die neben der Europäischen Union im Allgemeinen gerade Deutschland im Speziellen betreffen, finden sich im Draghi-Bericht. „Europa hat die digitale Revolution, die durch das Internet angeführt wurde, und die damit verbundenen Produktivitätsgewinne weitgehend verpasst: Der Produktivitätsunterschied zwischen der Europäischen Union und den USA lässt sich zum größten Teil durch den Technologiesektor erklären“, schreibt Mario Draghi. „Die EU ist schwach bei den neuen Technologien, die das künftige Wachstum antreiben werden. Nur vier der weltweit führenden 50 Technologieunternehmen sind europäische Unternehmen.“

Modernisierung muss in den Köpfen beginnen

Einer grundlegenden Modernisierung bedarf daher nicht zuletzt auch Deutschland. Beginnen muss sie in den Köpfen eines Landes, das nach dem Fall der Berliner Mauer mental viel zu lange im Ideal einer friedlichen Welt verharrte. Die deutsche Vorstellung, die Welt werde künftig nur noch durch „Soft Power“ regiert, zerschellte spätestens an der brutalen Realität im Osten Europas. Die heutige Aufgeschlossenheit eines großen Teils der Bevölkerung für die Notwendigkeit deutlich höherer Militärausgaben steht für einen allmählichen Bewusstseinswandel, der Erörterungen einer Grand Strategy erleichtern sollte.

Die politischen und militärischen Anforderungen erfordern ebenso wie die Auseinandersetzung mit dem Populismus eine Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Eine an den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft ausgerichtete und auf das Setzen guter Rahmenbedingungen anstelle eines planlosen Interventionismus vertrauende Politik kann die notwendigen Voraussetzungen durch Reformen schaffen.

Denn die deutsche Wirtschaft steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Aus dem 19. Jahrhundert stammende Indus­trien, die lange der Stolz der deutschen Wirtschaft waren, haben zumindest in der Heimatproduktion ihren Höhepunkt überschritten. Gleichzeitig muss sich Deutschland neuen Technologien öffnen. Im Bereich von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz steht Deutschland besser da, als ein oberflächlicher Blick vermuten lässt. Aber die Konkurrenz in den USA und in China schreitet mit Siebenmeilenstiefeln voran.

Veränderung als Chance

Strategisches Herangehen erfordert auch der demographische Wandel. Die erheblichen Veränderungen, vor denen Deutschland steht, müssen in einer rasch alternden Gesellschaft stattfinden. Unabhängig von dem durch die Herren Trump, Xi und Putin auferlegten Druck wird sich Deutschland im Jahr 2040 nachhaltig verändert haben, weil sich dann die geburtenstarken Jahrgänge im Ruhestand befinden.

Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft werden in den kommenden zwölf Jahren 19,5 Millionen ältere Menschen aus dem Arbeitsleben in den Ruhestand wechseln, aber nur 12,5 Millionen jüngere Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten. Das Institut warnt vor verschärften Verteilungskonflikten zwischen Jung und Alt. Der höhere Anteil der Ruheständler an der Zahl der Wahlberechtigten droht jedoch eine den Wandel vorantreibende Politik zu erschweren. Denn eine Erkenntnis aus der Wirtschaftslehre besagt: In einer alternden Gesellschaft äußert der Medianwähler eine größere Präferenz für Statuserhalt und den Empfang zusätzlicher Transfers als für Investitionen in eine (ferne) Zukunft. Veränderung gilt zuerst als Bedrohung, nicht als Chance. Auch hier bedarf es eines Wandels der Mentalitäten.

Die Zeiten sind rau. Doch haben weder der Westen noch Deutschland Anlass, den aktuellen Herausforderungen mit Angst zu begegnen. Mit der Volksrepublik China und Russland hat der Rückgang der Bevölkerung bereits die beiden großen autokratischen Regime des Doppelkontinents erfasst. Offene Gesellschaften im Westen lassen den in einer Gesellschaft dezentral befindlichen technischen Fortschritt eher zu als die zen­trale Planung autokratischer Systeme. Der Westen trägt sein Schicksal in seinen eigenen Händen, aber er muss zu seinen Überzeugungen nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten stehen.

Dieser Text basiert auf dem neuen Buch von F.A.Z.-Herausgeber Gerald Braunberger: Neustart für Deutschland. Mit einer Grand Strategy aus der Krise. Frankfurter Allgemeine Buch. Frankfurt 2025. 208 Seiten. 24 Euro.