„Zu Gast im Westen“ von Ingo Schulze: Aus dem Kellerloch dieser Transformation
Das Ruhrgebiet holt sich seitdem 2017 regelmäßig therapeutische Hilfe in Form von sogenannten Metropolenschreiber*medial. Deren Aufgabe ist es, durch den Blick des Fremden dem Ruhrgebiet ein realistisches Bild von sich selbst zu vermitteln. Das von dieser Essener Brost-Stiftung finanzierte Projekt versammelt so illustre Namen wie Wolfram Eilenberger, Nora Bossong, Per Leo und seitdem 2022 Neben… Ingo Schulze. Momentan amtiert die Philosophin Eva von Redecker.
Seine Fremdbeobachtung hat Schulze jetzt in Buchform vorgelegt. Im Titel Zu Gast im Westen. Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet steckt gleichsam schon dessen These: Er ist denn Ostdeutscher zu Gast im Westen, zu Händen den dies Ruhrgebiet pars pro toto steht. Gleichzeitig ist dieser Titel zumindest hier im Ruhrgebiet populär, weil er Herbert Grönemeyers Bochum-Hymne mit dem Intro „Tief im Westen“ zitiert und mit Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch verbindet. So könnte man sagen: Tief im Westen, wo die Sonne immer noch verstaubt, sitzt man nicht im Gefängnis, sondern im Kellerloch dieser ewigen Transformation.
Schulzes Schreiben changiert zwischen Genres und Stilen. In manchen Passagen steht dieser Beobachter im Mittelpunkt, es verfolgen Porträts und Reportagen. So entsteht ein Panorama von Textsorten, in denen dies Ruhrgebiet sich spiegelt oder nun mal durch Lektüre entsteht.
Aus Schulzes Sicht, dieser im Buch aus seiner ostdeutschen Perspektive uff dies Ruhrgebiet keinen Hehl macht, teilen dieser vielfältige Osten dieser Republik und dies Ruhrgebiet eine gemeinsame Erfahrung: die dieser Transformation. Diese Perspektive macht seinen Blick so interessant und singulär, weil er mit dieser Erfahrung permanenten Wandels ein Drittes entdeckt, welches Vergleichbarkeit ermöglicht.
Die Transformationserfahrung in Ost und West unterscheidet sich dann gleichwohl doch: Während dieser Osten die Transformation uff eine gewisse Weise verschlossen hat, weil so eine bessere Zukunft hat möglich werden können (so sehen es manche, gleichwohl sicherlich nicht ganz – siehe Dirk Oschmann), wird dies Ruhrgebiet permanent transformiert, ohne dass irgendetwas substantiell Neues derbei hervor käme. Die Zeit des Ruhrgebiets – darauf nach sich ziehen Wolfram Eilenberger und Per Leo in ihren Büchern oberhalb dies Ruhrgebiet konzentriert gemacht – ist die verklärte Vergangenheit dieser Kohle- und Stahlindustrie. Die Zukunft kommt immer, wird gleichwohl nicht so recht visuell, weil dieser Blick zurück den Blick nachher vorne erschwert. Weit verbreitet ist die Unfähigkeit, sich uff dies zu besinnen, welches zusammensetzen in die Zukunft bringt: nämlich dieser Aufbau von Infrastruktur oder verstärkte Investitionen in Bildung. Daran mangelt es offensichtlich.
Dieses Kirchturmdenken!
Schulze, dieser ja denn Gast trennbar in seiner Kritik sein muss, stellt uns die mit dem Deutschen Schulpreis vielfach ausgezeichnete Grundschule am Dichterviertel in Mülheim an dieser Ruhr vor. An dieser Schule wird Bildungsgerechtigkeit weitläufig geschrieben, in einer immer schon durch Migration geprägten Region. Dass dies gleichwohl vor allem mit Hilfe privater Mittel gelungen ist, zeigt Schulze lukulent uff. Er zeigt damit synchron, dass Zukunftsfelder von dieser öffentlichen Hand vernachlässigt werden. Die beeindruckende Ruhrgebiets-Hochschullandschaft, die in ihrer Dichte in Europa ihresgleichen sucht, erwähnt Schulze leider nicht. Auf dieser anderen Seite lassen seine Erfahrungen in Bus und Bahn kaum den Eindruck eines Aufbruchs entstehen.
Seine Touren zeugen nicht nur Leser:medial aus dem Ruhrgebiet klar, dass hier Kirchturmdenken (es gibt zwanzig kommunale Verkehrsunternehmen!) mit einer dysfunktionalen Organisation zusammentrifft: Der Horizont endet hier ohne Maß oft an dieser eigenen Stadtgrenze, die es keiner gibt, weil ganz Städte ineinander ignorieren. Deswegen sind wir ja hier im Revier eine Ansammlung von Städten mit Hochschulen mit einem so gut wie provinziell-kleinbürgerlichen Flair und keine Metropole. Die Hoffnung gleichwohl stirbt zuletzt.
Zu Gast im Westen: Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet Ingo Schulze Wallstein 2024, 344 Schwefel., 24 €