Zeitgeschichte | Sensation und Skandal: 1923 erscheint Raymond Radiguets Roman „Le diable au corps“

Respektlos und kolossal ungezogen. Eine Frechheit. Ein Tabubruch. Der kleine Roman Le diable au corps (deutsch: Den Teufel im Leib) des Autors Raymond Radiguet spielt in einem Vorort von Paris und erzählt die Liebesgeschichte eines Gymnasiasten – gerade 15, als er ihr im April 1917 erstmals begegnet – und der vier Jahre älteren Marthe, verlobt und bald darauf verheiratet mit einem Soldaten, der in der „Grand Guerre“, wie die Franzosen den Weltkrieg nennen, im Feld steht. Diese Liebe verbietet sich aus moralischen und politischen Gründen. Aber sie wird gelebt, sie wird gefeiert. Zweimal ist der Stoff folgerichtig Skandal gewesen. Jeweils nach Kriegen.

Raymond Radiguet, Jahrgang 1903, ist eine Ausnahmeerscheinung. Mit 15 schmeißt er die Schule, um sich dem Schreiben zu widmen und nach Paris zu kommen. Die Bohème dort umarmt ihn. Er bezaubert die gestandenen Künstler durch seine Jugend und sein Können. Es gibt ein Gemälde Amedeo Modiglianis, auf dem Raymond als der 15-Jährige zu sehen ist. „Er trat wie ein Widerspruch auf den Plan. Mit anderen Worten, alles, was für uns neu war, wischte er weg“, schreibt der Künstler Jean Cocteau, Jahrgang 1889. Sie werden enge Freunde. Liebende? Raymond hält sich für hässlich. Versucht, älter zu erscheinen. Er hat sich einen leichten Spazierstock zugelegt, auch ein Monokel. „Seine Haare fielen ihm über den Kragen und die Ohren“, erinnert sich Cocteau. „Später ließ er sich von einem Fischer mit einer Austernschale (wirklich) den Kopf rasieren, und diesen Kahlkopf zeigt uns die herrliche Büste von Lipchitz.“ Radiguet säuft. Cocteau drängt zur Disziplin. „Man musste ihn einsperren, damit er arbeitete. Manchmal entwischte er durchs Fenster. Wenn er auf dem Land eintraf, war er durch und durch von Alkohol getränkt, wechselte aber anstrengungslos zu Wasser und Milch. Dieser alternierenden Diät verdanken wir seine Bücher.“

Le diable au corps erscheint 1923 mit einer Banderole, darauf ein Portrait Radiguets, das der berühmte Dadaist Man Ray fotografierte, dazu der Satz: „Das Debüt eines Romanciers von 17 Jahren.“ Konkurrenz und Kritik finden die Marktschreierei des Verlegers ärgerlich.

Dass das Buch aber zündet, ja explodiert (und sich hält), liegt an keinem Marketing. Le diable au corps setzt alle, die es lesen, in Flammen. Begeistert die einen. Entsetzt die anderen. Selbst Cocteaus Mutter ist schockiert. So offenherzig, dreist, geil, altklug, angeberisch, dabei immer unsentimental im Ton und an keiner Stelle patriotisch erzählt der liebende Egoist. Bricht die Soldatenfrau die Ehe. Wünscht der Jugendliche seinem Rivalen den Tod im Schützengraben an den Hals. Zugleich gerät dieser Krieg, der die Voraussetzung für alles ist, was geschieht, in Vergessenheit, bleibt zunehmend unerwähnt, ist höchstens noch lästig. Was da an irgendeiner Front geschieht, wer siegt oder verliert, interessiert die beiden Liebenden, Streitenden, sich Versöhnenden kein bisschen. Die Briefe, die der Soldat seiner Frau daheim schreibt, während er fürs Vaterland das Leben riskiert, werden immer beunruhigter. Marthe wird schwanger …

Der Affront, den der Roman wagt, ist kalkuliert. Kriege wollen verherrlicht werden von den Siegern. Und ist eine bürgerliche Ehe nicht heilig? Radiguet schert das einen Dreck. Er feiert die tabulose Liebe. Er feiert die Jugend. Die muss er nicht aus der Erinnerung kramen wie andere. Er ist die Jugend. Natürlich weiß der Ich-Erzähler, dass er sich mit dieser Geschichte allerhand Ärger einhandeln wird. Aber er hebt die Schultern: „Was kann ich dafür? Ist es meine Schuld, dass ich ein paar Monate vor Kriegsbeginn zwölf wurde?“

Das respektlos Unheroische ist poetisch, noch heute. Nehmen wir den Kriegsbeginn, die Mobilmachung: „Jeden Abend nach dem Essen gingen wir zum zwei Kilometer entfernten Bahnhof von J. und beobachteten die vorbeifahrenden Militärzüge. Wir nahmen Glockenblumen mit und warfen sie den Soldaten zu. Damen in Kittelschürzen füllten Rotwein in die Feldflaschen und verschütteten ihn dabei literweise auf den blumenbesäten Bahnsteig. In der Erinnerung ist das alles für mich das reinste Feuerwerk. Nie gab es so viel vergossenen Wein, so viele welke Blumen. Zuhause mussten wir Flaggen in die Fenster stellen.“ Wie das Sterben dem Bild bereits eingeschrieben ist! – Das bellizistische Engagement der Familie erlahmt jedoch schnell, denn es gibt Wichtigeres: Sommerferien. Die beiden jüngeren Brüder des Protagonisten bringen ihre Fahrräder in Schuss für eine Urlaubstour an die See, die sie herbeisehnen, und der Erzähler schätzt: „Um früher loszukommen, hätten sie Paris in Brand gesteckt.“ Überhaupt Ferien. Ausgesetzte Zeit. Freiheit. „Wer mich verurteilt“, lässt uns der Erzähler wissen, „soll sich erst mal vor Augen führen, was der Krieg für viele Jungen meines Alters bedeutete: vier Jahre lang große Ferien.“

Was für ein Gegensatz zur Literatur der Kriegsbegeisterten, etwa eines Guillaume Apollinaire, der 34-jährig 1914/15 noch darum rang, an der Front für Frankreich kämpfen zu können. Bis ihm das endlich gelang (und er schnell schwer verletzt wurde), dichtete er Dräuendes, träumte vom „Entstehen eines neuen Universums“ durch den Weltkrieg: „wütende Riesen erhoben sich über Europa / Adler verließen ihre Nester in Erwartung der Sonne / gefräßige Fische trieben vom Abgrund nach oben / die Völker waren in schneller Bewegung, um sich von Grund auf kennenzulernen / die Toten zitterten vor Angst in ihren dunklen Bleiben.“

Jetzt die unerhörte Stimme Radiguets. So leicht. Auch er schreibt Gedichte. Eins heißt Karneval. „Die Männer hatten sich verkleidet als / Soldaten. Niemand weiß, was / geschehen ist. / Einer nach dem anderen betreten die Schatten / das Zimmer. Nichts, ihnen anzubieten. / Muss man sie folglich töten? / Wenn du die Wand sähest, wenn sie / ganz nackt ist, du hättest Angst.“

Le diable au corps, das Werk will nicht einmal ein Anti-Kriegsroman sein! Solche gibt es schon. Dennoch wird das Buch selbstverständlich als Angriff wahrgenommen und gehasst von Leuten und „Helden“, die den Krieg von gestern weiter mit sich schleppen oder stolz vor der Brust tragen. Geliebt aber von jenen, denen diese Leute stinken und jeder Krieg zum Hals raushängt. Es wird zum Bestseller. Die Erstauflage von 45.000 Exemplaren findet reißenden Absatz. Der Autor ist über Nacht ein Star – und stirbt am 12. Dezember 1923 an Typhus. Das Wunderkind ist tot, die Bohème schockiert. Romain Rolland schreibt an Cocteau: „Wie kann man sich nur sterben lassen, wenn man einen solchen Prankenhieb ins Leben gemacht hat?“

1947 wird der Roman verfilmt. Im deutschen Verleih wird er später unter dem Titel Stürmische Jugend laufen. Die Handlung ist leicht verändert, der Protagonist etwas älter. Er wird von Gérard Philipe gespielt, den die Rolle zum Star macht. Doch ein Skandal ist der Film ebenso wie einen Krieg zuvor der Roman. Im Spiegel liest man im August 1947: „In Paris hat der Film ‚Le diable au corps‘ zu Diskussionen geführt. Er hatte schon auf den Brüsseler Filmfestspielen von sich reden gemacht. Er läuft jetzt in der französischen Zone, aber nur in für Franzosen reservierten Vorstellungen.“ Der „mit allem künstlerischen Raffinement ausgestattete“ Streifen sei menschlich überzeugend gestaltet, attestiert der Kritiker, und „aufs Wohlwollendste motiviert“. Es stehe aber „auf einem anderen Blatt, ob man ihn als ethisch bezeichnen darf“. Eine Liebe, „die eine plötzlich verhängte Urlaubssperre mit Jauchzen begrüßt, die mitten im Jubel des Waffenstillstandes in tödlicher Trauer den Satz zu prägen vermag: C’est fini pour nous [Das war’s für uns].“ Großes Fragezeichen.

Steht man dieser Tage in Berlins lärmend-wimmelnder Mitte an der Ecke Mollstraße / Prenzlauer Allee an einer roten Ampel, wartet, atmet den Verkehr, fällt der Blick aufs Haus gegenüber. Da steht geschrieben: „Das ist nicht unser Krieg.“ Ohne Fragezeichen.