Zeitgeschichte | Preußenschlag 1932 in Berlin: Generalprobe für Hitler

Durch einen Erlass des Reichspräsidenten Paul von Hinderburg wird am 20. Juli 1932 die Regierung Preußens gestürzt

Wollten sie bauen, täten sie recht daran und würden ihrem König dienen. Friedrich Wilhelm I. (1713 – 1740) bedeutet um 1725 herum den preußischen Adelsgeschlechtern in seiner ungeschlachten Art, sie sollten der Residenzstadt Berlin zu Pracht und Prunk verhelfen. Um dem Nachdruck zu verleihen, vergibt der Landesherr Grundstücke an der Wilhelmstraße für Herrenhäuser und Paläste. Ja, er verschenkt sie geradezu. Was daraufhin mit den Jahren und Jahrzehnten entsteht, kann sich sehen lassen. Das Palais Pannewitz, das Haus Stolze, die Residenz des Grafen Dönhoff, das Palais Schwerin, das Johanniter-Ordenspalais und andere Bauten mehr bezeugen Staats- und Standesbewusstsein.

Erst recht von sich reden machen soll die barocke und klassizistische Topografie der Präsentation, als sich im 19. Jahrhundert der Staat ihrer bemächtigt und die Wilhelmstraße mit der Reichsgründung von 1871 zur Domäne geballter Regierungsautorität aufsteigt. Das Reich und sein Kernstaat Preußen residieren mit ihren Schlüsselministerien Haus an Haus, als sollte verkündet werden, das Eine kann ohne das Andere nicht sein. Das Grundgesetz staatstragender Machtbalance hält es mit der Formel: Wer Preußen hat, beherrscht das Reich. Wem Preußen verwehrt bleibt, der kann auch im Reich nicht durchregieren. Das galt zur Kaiserzeit, das gilt nach 1919 für die Weimarer Republik. Die Wilhelmstraße ist einem „faites vos jeux“ nie abgeneigt, hier fängt vieles an und hört alles auf.

Am späten Vormittag des 20. Juli 1932 hält ein Kastenwagen mit Militärkommando – ein Leutnant und sein Trupp – vor dem Gebäude des preußischen Ministerpräsidenten in der Wilhelmstraße 63, dem einstigen Palais Dönhoff, um es zu besetzen. Mit prophetischer Gabe hat Kurt Tucholsky zehn Jahre zuvor im Couplet für die Bier-Abteilung bereits „Acht Mann in einem Auto – ein Auto und acht Mann“ durch Berlin fahren und Unheil stiften sehen. Jetzt ist die Fuhre da. Und die Bescherung auch.

Staatsstreich heißt „Preußenschlag“

Mit Widerstand ist in der Wilhelmstraße 63 nicht zu rechnen. Hausherr Otto Braun, Preußens sozialdemokratischer Ministerpräsident, weilt im Urlaub. Vor seiner Abreise hat er sich für die vorauseilende Kapitulation entschieden und mitgeteilt, er wolle nicht „in das Amt zurückkehren“. Es bleibt ihm erspart. Seinem Amtssitz schräg gegenüber liegt im ehemaligen Palais Schwerin an der Wilhelmstraße 73 die Residenz des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Der Ex-Generalfeldmarschall und Verlierer des Ersten Weltkrieges ist seit 1925 – nicht zuletzt dank Beihilfe der SPD – als verkappter Monarchist oberster Repräsentant der Weimarer Demokratie.

Im April 1932 wiedergewählt, hat er sich gegen den Kandidaten Adolf Hitler durchgesetzt. Man dürfe das keineswegs als Richtungsentscheidung missverstehen, schreibt Tucholsky an den Publizisten Carl von Ossietzky. Er halte Hindenburg mitnichten für ein „kleineres Übel“, sondern für „dreiviertel faschistisch“. Recht hat er. Hindenburg ist als deutschnationale Galionsfigur einem Klüngel aus Militärs, Junkern, Bankiers und Industriellen zu Diensten, denen nichts weniger am Herzen liegt als die Republik. Unverfroren und immer häufiger macht er von Artikel 48 der Weimarer Verfassung Gebrauch, um per Notverordnung am Parlament vorbei zu regieren. Der 20. Juli 1932 allerdings übertrifft, was bis dahin an autokratischer Selbstherrlichkeit üblich war. Die Regierung Braun wird aus dem Amt gefegt und Preußen des Reiches Untertan. Der Staatsstreich heißt „Preußenschlag“, und Hindenburg dekretiert, der Reichskanzler werde „zum Reichskommissar für das Land Preußen bestellt“. Er sei „in dieser Eigenschaft ermächtigt, die Mitglieder des Preußischen Staatsministeriums ihres Amts zu entheben … und selbst die Dienstgeschäfte des Preußischen Ministerpräsidenten zu übernehmen.“

Der mit diktatorischen Vollmachten ausgestattete Kanzler heißt Franz von Papen, den Hindenburg kurz zuvor – selbstredend ohne Votum des Reichstages – berufen hat. Er soll der Republik den Todesstoß versetzen, ohne allzu sehr auf Hitler angewiesen zu sein. Vielmehr will man die NSDAP „einbinden“, wenn nötig als Koalitionär einer Reichsregierung unter Führung oder zumindest maßgeblicher Teilhabe der Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP) des Medienoligarchen Alfred Hugenberg „gewinnen“. Um die Naziführung gnädig zu stimmen, ist das Abräumen der Preußen-Regierung aus SPD und katholischem Zentrum unumgänglich, wissen die Verschwörer um Hindenburg. Je unerbittlicher, desto besser. Schließlich können die Umstände günstiger nicht sein. Nach der Preußenwahl vom 24. April 1932 kann die SPD nach dem Verlust von fast einer Million Stimmen im Landtag keine Mehrheit mehr finden. Auch dem Wahlsieger NSDAP ist das trotz der erreichten 36 Prozent nicht möglich, sodass Ministerpräsident Braun geschäftsführend im Amt bleibt. Ein Regierungschef auf Zeit, dessen Zeit am 20. Juli abgelaufen ist.

Putsch nimmt am helllichten Tag seinen Lauf

Um den Coup d’État abzurunden, wird die preußische Polizei ebenfalls entmachtet und der Reichswehr unterstellt. Ein Fotograf von Wolffs Telegraphischem Bureau hält den Augenblick am frühen Nachmittag des 20. Juli fest, als Oberst Magnus Heimannsberg aus dem Berliner Polizeipräsidium am Alexanderplatz mit wehendem Mantel zum wartenden Wagen eskortiert wird. Das Stillleben einer Agonie führt zusammen, was dazugehört. Polizeioffiziere salutieren ihrer Amtsenthebung, ein Doppelstockbus mit Odol-Werbung am Oberdeck fährt Linie und am Putsch vorbei, der am helllichten Tag seinen Lauf nimmt. Auf dem Trottoir sind Menschen stehen geblieben, um zu verfolgen, was geschieht. Zwei Passanten in Knickerbockerhosen grüßen Heimannsberg mit geballter Faust, ein Mann im Hintergrund hält ein Fahrrad fest und den Arm zum Hitlergruß erhoben.

Den Putschisten würde ein Generalstreik in die Parade fahren wie beim Kapp-Putsch 1920, doch die SPD will davon nichts hören und geißelt solcherart Verlangen als Abenteurertum der Kommunisten. Am 21. Juli 1932 heißt es im Zentralorgan Vorwärts: „Provokateure sind am Werk! Sie schwätzen von Generalstreik und Aktionen, ohne die Massen hinter sich zu haben.“ Sie wollten die „Arbeiterschaft in ein Blutbad hineintreiben“. Soeben auf illegale Weise um ihre wichtigste Regierung gebracht, will die SPD alles vermeiden, was auch nur den Eindruck erwecken könnte, Grenzen der Legalität zu überschreiten. Der entmachtete preußische Innenminister Carl Severing ruft den Staatsgerichtshof als Wahrer der Verfassung an, obwohl bekannt ist, dass in dieser Kammer Gesinnungsgenossen Hindenburgs und Papens sitzen, dazu viel Zeit verstreichen wird, bis eine Entscheidung fällt. So lange soll sich eine Republik in Not die Notwehr verkneifen. Dabei hatte Tucholsky im Couplet von 1922 gewarnt: „Wenn diese Republike den Zimt so weitermacht, wird eines Tags sie stike von hinten umgebracht.“

Von hinten? Eigentlich haben ihre Feinde keine Scheu, mit offenem Visier anzutreten. Und das mit Erfolg. Ein Blick in die Wilhelmstraße drei Jahre nach dem „Preußenschlag“ offenbart, wie durchschlagend der ausfällt. Mittlerweile wurde aus der Topografie der Republik eine der Diktatur. 1935 haben sich im Palais Dönhoff, wo die preußische Staatsregierung abserviert wurde, Rudolf Heß und die Reichsleitung der NSDAP niedergelassen. Im Palais Schwerin, dem Domizil Hindenburgs, trifft Hitler das diplomatische Korps zum Neujahrsempfang. Ins Johanniter-Ordenspalais am Wilhelmplatz ist Reichspropagandaminister Joseph Goebbels gezogen, um zu verkünden, das „alte Preußen“ habe stolze Erben gefunden. Die würden auch in tausend Jahren nicht weichen. Ein Jahrzehnt später, im Mai 1945, sind Pracht und Prunk, die ein preußischer König beschwor, unwiderruflich verflogen. Wie düstere Felsblöcke überragen die Reste von Palais und Palästen eine verkohlte Steinwüste. Wer vorn in die Wilhelmstraße hineinfährt, kommt hinten nicht mehr heraus. Sie ist im Schutt zur Sackgasse geworden.

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