Yves Tumor: Liebesgrüße aus dem Fegefeuer

Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen und mindestens eine solide Mittelstadt, um Yves Tumor auf irgendetwas festzunageln. Der US-amerikanische Künstler und Weltenbürger ist ein Trickster, er gehört zu den begabtesten Formwandlern des Popgeschäfts und macht sich seit jeher einen Spaß daraus, Fans und Presse an der Nase herumzuführen. Erstmals tauchte Tumor 2010 noch unter dem Namen Teams in der Schattenwelt des Musikportals SoundCloud auf, wo er an einem Gegenentwurf zu jenem sonnenverbleichten Sound arbeitete, den man in Szenekreisen damals Chillwave nannte. Ein paar Jahre später zog er von Tennessee nach Berlin, gab sich den Namen Yves Tumor und brachte das von Clubmusik inspirierte Album Serpent Music heraus. Aus Krachstücken schälte er große Zärtlichkeit, Ambient klang bei ihm plötzlich wütend.

Die Musikpresse zeigte sich begeistert, konnte aber nicht einmal den bürgerlichen Namen des Künstlers herausfinden. Heute weiß man immerhin, dass Yves Tumor wohl eigentlich Sean L. Bowie heißt und derzeit in Turin lebt. Mysteriös ist er trotzdem geblieben, auch nach seiner Unterschrift beim großen, für elektronische Musik einst wegweisenden Label Warp Records. Als vermeintlicher neuer Star der britischen Plattenfirma spielte Tumor plötzlich eine moderne Version von Glamrock, die er im Jahr 2020 mit seinem vierten Album Heaven to a Tortured Mind zur Vollendung brachte. Was bei ihm bisher auch immer hieß, dass er nun für neue Kostüme bereit ist.

Zumindest auf den ersten Blick ist es diesmal anders. Auf dem Cover seines neuen Albums Praise a Lord Who Chews But Which Does Not Consume; (Or Simply, Hot Between Worlds) zeigt sich Tumor noch einmal sexy und lasziv, als Glamrockstar mit Toupet und hohen Absätzen, der Stil und Sound seiner letzten Platte eher fortzusetzen als abzustreifen scheint. Die Musik bestätigt das teilweise. Was auf dem Vorgänger noch Andeutung blieb, etwa in einem gut versteckten Sample der Altherrenband Uriah Heep, rückt diesmal in den Fokus: Yves Tumor macht Schweinerock, natürlich zu seinen Bedingungen, nicht denen des tendenziell reaktionären Genres. Heaven Surrounds Us Like a Hood heißt ein Song des Albums, dessen Intro an die Band Hawkwind erinnert. Tumor singt dazu schaurig-absurde Zeilen im Falsett, überlässt das Stück jedoch schnell einem Kräftemessen zwischen Gitarre und Schlagzeug.

Hier untersucht Tumor die Grenzen der Rockmusik, an anderer Stelle von Praise a Lord tut er das Gleiche mit seiner eigenen Stimme. Vor allem in der zweiten Hälfte des Albums gleitet er durch höchstmögliche Register, schnippt Vokale weg wie aufgerauchte Zigaretten und verätzt einem den Gehörgang. Die zahlreichen Frauenstimmen, die in Duetten oder im Chor mit Tumor erklingen, bringen die Sehnsucht des Künstlers nach dem anderen in sich selbst zum Ausdruck, nach der Überwindung körperlicher Grenzen, die auch schon in Tumors elektronischer Musik ein Thema war. Das Konzept erscheint nicht so ausgereift wie bei Prince und dessen Alter Ego Camille, steht aber sicherlich in dieser Tradition. Es wird kein Zufall sein, dass die zwei Farben, die in den Videos zu und in den Songtexten von Praise a Lord immer wieder auftauchen, Rot und Blau sind. Gemischt ergeben sie Lila, was nicht nur die Farbe von Prince ist, sondern außerdem, wie der Musikjournalist Simon Reynolds in seinem Buch Sex Revolts schreibt, die Farbe der List und der Täuschung, aber auch der Ambiguität und des gay pride.

Spätestens wenn auf Praise a Lord auch noch Engelschöre einsetzen, möchte man sich darüber wundern, wie ernst Tumor es wohl meint mit seiner Abwandlung von Schweinerock. Der Künstler selbst scheint sich diese Frage zu stellen, nur um sie gleich wieder in eine David-Bowie-Pointe zu verwandeln: “Bin ich die Parodie eines Popstars?”, fragt er im Verlauf des Albums. “Ist das hier alles nur Make-up?” Tumor versieht solche Rätsel mit Selbstironie und Federboa, sein Sinn für Humor bleibt auch deshalb speziell, weil er sich den vermeintlichen Zwängen eines Popstarlebens weitgehend entzieht. Interviews gibt er so gut wie nie, statt ein skandalträchtiges Leben zu führen, entwirft er in seiner Freizeit lieber Schmuckstücke, die auf nächtlichen Heimwegen auch zur Selbstverteidigung taugen sollen.

Rockmusik ist in den letzten Jahren weiblicher geworden, Künstlerinnen wie St. Vincent gewinnen inzwischen Gitarren-Grammys, während Bands und Soloprojekte wie Boygenius und Mitski eine Szene anführen, in der früher höchstens mal Platz für eine Bassistin war. Was indes noch immer fehlt, sind weitreichende queere und nicht binäre Repräsentanz. Tumor scheint bereit für diese Rolle – wenn er sich nicht gerade hinter Rätselhaftigkeit und Verweigerung versteckt. Praise a Lord zelebriert queere Subkultur zu breitbeinigen Gitarrenposen und verbindet beides mit Hinweisen auf die morbide, für bürgerliche Augen möglicherweise auch perverse Bildsprache solcher Wegbereiterinnen wie Throbbing Gristle. Das ist dann schon der Horror, aber eben immer auch camp.

God Is a Circle heißt ein Song auf Praise a Lord, in dessen Video Tumor unter Keuchen im knappen Fetischoutfit zu Kreuze kriecht, es liebt, jemandes “little girl” zu sein und sich in einer Pasolini-Referenz von obszönen Nonnen und naziähnlichen Figuren quer durch postapokalyptische Landschaften peitschen lässt. Gleichzeitig begreift Tumor die Qualen der Romantik ganz ernsthaft. Nach einem Galopp durch die Höllenkreise geht er mit dem letzten Song Ebony Eye unironisch in der Liebe zu einer “beloved saint” auf.

Tumor schraubt also weiter am eigenen Mythos und stößt zugleich noch tiefer in musikalische Richtungen vor, die bei Fans seiner früheren Alben traditionell Fluchtreflexe auslösen. Allen Finten und Widersprüchen, allem Widerspenstigen zum Trotz ist Praise a Lord dabei auch ein Album über die Liebe, das nicht bloß jongliert mit großen Gefühlen, sondern verantwortungsvoll mit ihnen umgeht. Yves Tumor verspricht das. Hoch und heilig.

“Praise a Lord Who Chews But Which Does Not Consume; (Or Simply, Hot Between Worlds)” von Yves Tumor erscheint am 17. März bei Warp/Rough Trade.