YouTube: Wenn kluge Menschen dumme Dinge tun
Als ich meinem kleinen Bruder später erzähle, dass er es war, der mich zu YouTube brachte, sagt er, es täte ihm unendlich leid. Es war 2018. Tagsüber hatte ich meinem Bruder beim Umzug geholfen und mich aufgeregt, weil er sich ständig Stöpsel in die Ohren steckte und auf sein Telefon starrte, anstatt sich auf die Kisten zu konzentrieren. Es war, als würde man mit einem Zombie umziehen, nur dass ein Zombie kein 40-Kilo-Hantelset transportieren will.
Natürlich kannte ich YouTube, die Videoplattform, die schon 2005 online ging. Als den Ort, an dem man schnell nachschaute, wie man den Ölstand überprüft oder die Spülmaschine richtig reinigt. Wo man in unter 20 Minuten erfolgreiche Unternehmenskommunikation lernen konnte, die eigene Kreativität freischalten, das Glück finden oder wenigstens Wissenswertes über Orgasmen. Was man außer Video-Tutorials und TED-Talks auf YouTube angucken sollte, das aber war mir ein Rätsel. Noch am selben Abend besuchte ich die Plattform. Ich wollte verstehen, was mein Bruder an den vielen Quatschvideos dort fand. Was bedeutete: Ich wollte ihm zeigen, dass ein vernunftbegabter Mensch von so einem Mist nun wirklich nicht abhängig werden konnte. Heute muss ich dankbar sein, dass es YouTube war und nicht Heroin.
Anfangs spürte ich nichts. Ich scrollte die Website runter, klickte lustlos auf ein Video, brach es nach wenigen Sekunden gelangweilt wieder ab. Nebenbei, und ohne dass ich mir damals darüber Gedanken machte, lernte der Algorithmus mich kennen. Besser, so scheint es mir heute, als ich mich selbst, denn dass ich auf Videos stehe, in denen junge Frauen mit großer Ernsthaftigkeit unfassbar unnütze Konsumprodukte testen, das hätte ich selbst nie von mir gedacht. Aber so ist es.
Meine Einstiegsdroge hieß „I Wore The Ugliest Jacket In The World For A Week“. Hochgeladen hat es die YouTuberin Safiya Nygaard, seitdem wurde es 5,5 Millionen Mal geschaut. Die Jacke im Video ist eine Jeansjacke der Firma Y/Project, deren Ärmel bis zu den Fußgelenken verlängert sind. Nygaard testet die Jacke mit den grotesken Ärmeln beim Abendessen mit ihrem Freund Tyler, den sie im Studium in Stanford kennengelernt hat, beim Einkaufen, auf Rolltreppen. Die Stelle, bei der es um mich geschehen war, dauert nur wenige Sekunden. Man erkennt sie im Verlaufsbalken unter dem Video an den Worten „most played“.
Es ist der dritte Tag des Selbstversuchs, Nygaard kommentiert aus dem Off „An Tag drei ging ich mit der Jacke einen Freund besuchen“. Im nächsten Bild steht sie vor der Filiale eines Mitsubishi-Händlers. Neben ihr ein roter „Sky Dancer“, also eine dieser schlauchförmigen Figuren, die von einem Gebläse mit Luft gefüllt werden, sodass sie wild hin und her wackeln. Nygaard stellt sich neben die Windfigur und reißt ihre Arme nach oben, lässt ihren Oberkörper auf einmal schlaff werden, die überlangen Ärmel peitschen im Wind, dann richtet sie sich ruckartig wieder auf, lässt die Arme kreisen wie eine manische Ausdruckstänzerin, die sich aus ihrer Zwangsjacke befreit hat. Oder eben: wie ein Sky Dancer. Dazu ihr Kommentar: „I’m trying to study the craft“ – „ich versuche das Handwerk zu lernen“. So hingebungsvoll versucht sie es, dass nach wenigen Minuten der Mitsubishi-Händler die „neue Mitarbeiterin“ freundlich grüßt.
Ich weiß noch, dass ich laut lachte und dass ich danach nächtelang alle Videos von Nygaard anschaute. Das mit dem haarigen Badeanzug, das mit der Hose aus durchsichtigem Plastik, das, in dem sie alle ihre Lippenstifte einschmolz zu einem einzigen Frankenstein-Lippenstift. Nichts von dem, was Safiya und Tyler da taten, interessierte mich inhaltlich. Im Gegenteil: Ich verabscheue den Massenkonsum, der die Grundlage der meisten Videos bildet, besitze selbst zwei vernünftige Hosen und keinen Lippenstift. Mein eigentlicher Kink – der Algorithmus weiß das – ist Nygaards Ironielosigkeit, die Aufrichtigkeit, mit der sie aus den Dingen, die sie testet, noch den letzten Tropfen Freude herauszuquetschen versucht. Damit ist sie nicht allein. Später schaute ich einer für die kanadische Regierung arbeitenden Kriminologin dabei zu, wie sie hundert Schichten Nagellack auf ihre Fingernägel auftrug. YouTube ist der Ort, an den der Spätkapitalismus zum Spielen kommt. Wo schlaue Leute sich treffen, um dumme Dinge zu tun.
Und gleichzeitig ist es der Ort, an dem schlaue Leute Schlaues machen oder Dumme Dummes, oder eigentlich alle genau das, was sie wollen, oder wenigstens das, was gut klickt. YouTube ist streng hierarchisch – der Algorithmus bestimmt, wie viele Menschen welche Videos gezeigt bekommen – und dennoch anarchisch, denn jeder darf (fast) alles hochladen. Und die meisten, das unterscheidet YouTube von anderen Social-Media-Plattformen, werden dafür bezahlt. Content-Creators erhalten 55 Prozent der Werbeeinnahmen. Außerdem belohnt der Algorithmus die tatsächlich gesehenen Minuten und nicht bloß die Klicks.
Das Ergebnis: eine Plattform, die bei jungen Menschen erfolgreicher ist als alle anderen Plattformen, vielleicht auch weil sie nicht den gleichen ekelerregenden Kontrollverlust auslöst wie die chinesische Schnipsel-App TikTok. Klar gibt es Schrott auf YouTube, aber nur für die, die ihn wollen. Man bekommt, was man sich lange anschaut. PewDiePie, einer der erfolgreichsten YouTuber aller Zeiten, ist mir noch nie über die Timeline gelaufen. Dafür darf sich Sabine Hossenfelder bei mir über den Niedergang der akademischen Physik aufregen. Hank Green, einer der beiden „Vlogbrothers“, die meinen Bruder einst zu YouTube brachten, macht mit der SciShow besseren Wissenschaftsjournalismus, als die meisten Zeitungen ihn sich leisten können. Und von der Tiefe, dem Humor und der ästhetischen Überspanntheit, die Natalie Wynns stundenlange Video-Essays auszeichnen, können wir im Feuilleton nur träumen. Und wenn mir das alles zu viel wird, dann gibt es Kochvideos.
Mein Bruder hat YouTube mittlerweile verlassen. Er guckt jetzt DropOut, weil es dort keine Werbung gibt und weil alle Videos professionell produziert werden. Da herrsche einheitlich poliertes Niveau. Wie traurig! Ich wiederum bezahle für meinen werbefreien YouTube-Account. Abend für Abend folge ich dem Algorithmus von experimenteller Archäologie bis Quantenphysik, von Make-up-Tutorials – bis in den Schlaf. Ich könnte aber natürlich jederzeit aufhören.