Yamandú Orsi | Uruguay: Der Linkskandidat Yamandú Orsi will Präsident werden
Das Mitte-Links-Bündnis Frente Amplio könnte Ende November in die Regierungsverantwortung zurückkehren. Aber gesichert ist das nicht. Bei der Stichwahl um das höchste Staatsamt hat auch der konservative Rivale Álvaro Delgado seine Chance
In Uruguay wütete der Neoliberalismus Ende des 20. Jahrhunderts nicht so extrem wie in Chile, Argentinien oder Brasilien, weshalb das soziale Gefälle heute deutlich geringer ausfällt. Das 3,4-Millionen-Einwohner-Land am Río de la Plata kann auf die breiteste Mittelschicht des Subkontinents verweisen, die Wirtschaft ist trotz Abhängigkeit von der Zelluloseproduktion und dem Agrobusiness stabil.
Die demokratische Kultur gilt seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 als vorbildlich. Uruguay bleiben ultrarechte Exzentriker wie Javier Milei in Buenos Aires erspart. Da die Verfassung Uruguays eine direkte Wiederwahl verbietet, muss der rechtsliberale Präsident Luis Lacalle Pou trotz hoher Zustimmungswerte demnächst abtreten. Auch wenn keine ausgeprägte Wechselstimmung herrscht, könnte der Nachfolger wieder aus dem Lager der 1971 gegründeten Linksallianz Frente Amplio (FA/Breite Front) kommen, die schon von 2005 bis 2020 regiert hat.
Favorit für die Stichwahl um das höchste Staatsamt am 24. November ist der 57-jährige Yamandú Orsi. Dass der frühere Geschichtslehrer und langjährige Provinzgouverneur von Canelones als Kandidat der FA nominiert ist, hat er José „Pepe“ Mujica zu verdanken. Da schwerkrank, hat der sich jüngst an der Seite von Orsi in einem bewegenden Wahlkampfauftritt von seiner Basis verabschiedet. Zielsicher baute der charismatische Ex-Guerillero und einstige Präsident (2010–2015) den leutseligen Orsi zu seinem Erben auf. Er steht der ländlichen Gaucho-Kultur nahe und soll dort, wo die rechten Parteien stark sind, mehr Stimmen für die Frente holen. Dass das gelingt, ist nicht garantiert.
Die Linksallianz wandelte sich mit den Jahren zum politischen Vorsänger der urbanen Bevölkerung mit mittlerem Einkommen. Auch dafür steht Orsi: Er hat nichts dagegen, dass private Wohnsiedlungen von Sicherheitsdiensten abgeriegelt werden. Seine Provinz Canelones grenzt mit ihren großen ländlichen Räumen an die Hauptstadt Montevideo und wird oft als „Klein-Uruguay“ beschrieben, weshalb Yamandú Orsi mit seinen Erfahrungen in der Exekutive für das höchste Staatsamt prädestiniert erscheint wie kaum ein Zweiter. Zudem kommt er aus einfachen Verhältnissen: Sein Vater war Landarbeiter, seine Mutter Näherin, später hatten sie ein Lebensmittelgeschäft. Neben Volksnähe setzt Orsi auf Dialog und Konsens nicht zuletzt mit dem Noch-Regierungslager aus den zwei Mitte-rechts-Traditionsparteien, dem Partido Colorado („Colorados“) und dem Partido Nacional („Blancos“).
Ein begnadeter Redner ist Orsi nicht. Am 27. Oktober mussten sich nach dem ersten Wahlgang fahnenschwingende Anhänger mit Gemeinplätzen zufriedengeben. Der Linkspolitiker – er kam auf 46 Prozent der Stimmen – lobte das Votum als „Fest der Demokratie“ und fügte hinzu, Uruguay müsse mehr produzieren und sich entschiedener um seine Bevölkerung kümmern. Ein bedenkliches Haushaltsdefizit wolle er durch Wirtschaftswachstum ausgleichen, aber nicht, indem der Staatsapparat abgebaut oder auf Steuererhöhungen zurückgegriffen werde.
Nach europäischen Kriterien wäre Orsi als gemäßigter Sozialdemokrat einzustufen. Wirtschaftspolitisch unterscheidet er sich kaum von seinem konservativen Rivalen Álvaro Delgado, zuvor die rechte Hand von Staatschef Lacalle Pou. Beide sind gegen das Projekt der Gewerkschaften, per Volksabstimmung ein von 60 auf 65 Jahre erhöhtes Renteneintrittsalter wieder rückgängig zu machen und die private Vorsorge ganz abzuschaffen. Die Furcht vor einem solchen Plebiszit schien parteiübergreifend beachtlich zu sein. Schließlich könnte der Finanzmarkt darauf „beunruhigt“ reagieren.
Sollte er die Stichwahl gewinnen, würde Orsi als Wirtschaftsminister den Finanzexperten Gabriel Oddone in Erwägung ziehen, den der linke Flügel in der Frente Amplio als „Anwalt des Großunternehmertums“ sieht und nicht sonderlich schätzt. Dabei könnte eine Mitte-links-Regierung gerade in der Sozialpolitik am ehesten eigene Akzente setzen, findet Alicia de Oliveira aus der Stadtverwaltung von Montevideo. Als bodenständiger, konzilianter und auf Transparenz bedachter Politiker habe Orsi das Zeug dazu, eine passende Regierung zusammenzustellen und wo nötig mit der Opposition zu kooperieren.
Dies dürfte nach dem Ausgang der Parlamentswahlen, die es am 27. Oktober zusammen mit der Präsidentenwahl gab, unumgänglich sein. Zwar gewann die Frente Amplio ganz knapp, doch hat im Abgeordnetenhaus kein Lager die Mehrheit. „Deshalb erwarte ich bestenfalls punktuelle Fortschritte“, benennt Alicia de Oliveira ihre Erwartungen. Selbst wenn die Linke in der Vergangenheit jahrelang regiert habe, sei die Lage der Armen davon wenig berührt worden. Von den katastrophalen Verhältnissen in den Gefängnissen des Landes ganz zu schweigen.
Der Ausgang des Stechens am 24. November ist jedenfalls völlig offen. Beobachter sprechen von der vermutlich „langweiligsten Wahl des Jahres“ in Südamerika, was verglichen mit Argentinien oder Peru durchaus als Kompliment gemeint ist und so viel heißt wie: Wer auch immer gewinnt, es bleibt vieles, wie es ist.