Wladimir Putin: Er will eine Welt ohne Regeln

Über die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee ist ein heftiger Streit ausgebrochen, über ein halbes Jahr nach den Anschlägen auf die Gasleitungen zwischen Russland und Deutschland auf dem Grund der Ostsee. Derzeit regen sich das russische Regime und die Kremlverwaltung eher über die westlichen Aufklärungsversuche auf als über die Sprengung selbst. Wladimir Putin hat höchstpersönlich interveniert und die Lesart der ZEIT und anderer westlicher Medien als „völligen Quatsch“ zurückgewiesen. Und das, obwohl die Hinweise, dass es eine ukrainische Gruppe gewesen sei, doch eigentlich perfekt ins russische Weltbild passen müssten. Gefällt in Moskau aber nicht. Was ist da los?

Bei einem Besuch in der sibirischen Stadt Ulan-Ude Mitte der Woche bezeichnete Putin die Anschläge als „Terrorakt“ – und einen solchen Terrorakt könne nur ein mächtiger Staat begehen und keine Hobbypyromanen. Der Putin-treue großrussische Dumaabgeordnete Konstantin Satulin bezichtigte „Deutschland mit seinen Medien“, eine falsche Version in die Welt zu setzen, „nur um die Vereinigten Staaten von jeglicher Schuld reinzuwaschen“.

„Warum tut Deutschland das?“, fragte ein russischer Journalist. Putin hatte dafür in Ulan-Ude eine Erklärung parat. „Nach dem Zweiten Weltkrieg war Deutschland nie im vollen Sinne ein souveräner Staat“, sagte er und unterschlug glatt den Zwei-plus-vier-Vertrag von 1990, den auch Moskau unterschrieb. Damals hätte die Sowjetunion ihre Truppen aus Deutschland abgezogen, sagte Putin, „aber die Amerikaner setzten ihre Besatzung fort“. Heute würde in Europa und in Deutschland eine Generation von Politikern herrschen, die „den Instinkt für das nationale Interesse“ verloren habe. Man sei in vielen Bereichen in „eine erniedrigende Abhängigkeit“ gerutscht. Von Amerika, dem Quell europäischer Unsicherheit.

Die russische Regierung hat sich schon lange auf die Version festgelegt, die Amerikaner hätten die Pipeline gesprengt. Die hat der Vorsitzende des Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew, am Montag noch einmal ausgebreitet. Die Regierungen in Washington und London seien schon immer gegen die „enge wirtschaftliche Zusammenarbeit Deutschlands und Russlands“ gewesen. Heute „zwingt Washington Berlin seine wirtschaftliche und ökologische Politik auf“. Dazu gehöre, dass Deutschland nun eine Version der Pipelinesprengung verbreite, die vorteilhaft für die US-Regierung sei.

Nicht ganz zufällig prallten in dieser Woche auch die USA und Russland aufeinander. Russische Kampfflugzeuge haben am Dienstag eine amerikanische Drohne über dem Schwarzen Meer zum Absturz gebracht. Das unbemannte Aufklärungsflugzeug war nach amerikanischer Darstellung im ukrainischen Luftraum unterwegs, wo es von zwei Kampfjets attackiert wurde. Ein Video bezeugt das eindrücklich. Die Russen bestreiten das, können aber auch nicht erklären, was ihre Flugzeuge in den von den USA gezeigten Aufnahmen gemacht haben. Das hyperriskante Vorgehen passt zu den Manövern, die russische Kampfjets gegen Flugzeuge von Nato-Ländern über der Ostsee fliegen.

Die USA, der einzige wirkliche Gegner

Russland eskaliert also die Auseinandersetzung mit den USA in einem Moment, in dem der russische Präsident Deutschland und Europa für praktisch nicht verhandlungsfähig erklärt, weil sie ja abhängig von den USA seien. Zugleich lehnt Putin Gespräche mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kategorisch ab. Mit wem will er überhaupt noch sprechen?

Hinter Putins symbolischen Brückensprengungen könnte auch eine neue Konsequenz stecken. Wenn Deutschland und Europa nicht souverän seien, wenn die Ukraine kein Gesprächspartner sei, dann bleiben wirklich nur noch die USA. Der einzige wirkliche Gegner. Dieser Feind aller Feinde hat Putin zufolge in einem „Terrorakt“ die Pipeline Nord Stream 2 gesprengt. Derzeit gibt es also aus Putins Sicht nichts zu bereden. Egal, welche Gesprächsinitiativen da aus China oder Brasilien kommen mögen. Russland schlägt nur noch zurück. Seine Kampfjets lassen amerikanische Drohnen über dem Schwarzen Meer abstürzen. Putin hat vor Kurzem den wichtigsten aller Abrüstungsverträge aufgekündigt, den New-Start-Vertrag über die strategische Nuklearrüstung. Er prescht voran in eine Welt ohne Regeln, aber mit sehr viel Risiko. Putin deutet daraus nur einen Ausweg an. 

In Ulan-Ude erinnerte er an eine aus seiner Sicht bessere Zeit: die Welt von Jalta. „Nach dem Zweiten Weltkrieg sei die globale Ordnung von den Siegern des Krieges geschaffen worden, den USA und der Sowjetunion“, sagte Putin. (Er vergaß das damals nicht ganz unwichtige Großbritannien zu erwähnen.) Putin pries die „Koexistenz“ der Supermächte: „Sie teilten zwischen sich die Einflusssphären auf und mischten sich nicht weiter in die Angelegenheiten des anderen ein.“

Wenn das ein Angebot von Putin sein soll, dann ist es nichts anderes als die Aufteilung Europas.