„Wir müssen von den deutschen bürokratischen Standards runter“, sagt Palmer

Die Herausforderungen sind enorm. Mehr als eine Million Menschen sind allein vor der russischen Invasion aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Am Donnerstag haben die Regierungschefs der Bundesländer größere finanzielle Unterstützung vom Bund gefordert, um Geflüchtete unterbringen und versorgen zu können. „Ihr schafft das schon! Viele Flüchtlinge und kein Plan?“, fragte Maybrit Illner die Ministerpräsidenten aus Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst (CDU), und Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer (SPD), sowie den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne), den Landrat Tino Schomann (CDU), die Journalistin Helene Bubrowski und die ukrainische Ärztin Hanna Stoiak am Donnerstagabend.

Die Fluchtgeschichte Stoiaks lieferte zunächst eine bemerkenswerte Diskussionsgrundlage. Kurz nach dem Beginn des russischen Angriffs war sie mit ihrer Tochter aus Saporischschja ins rheinland-pfälzische Mülheim geflüchtet. Trotz ihrer zehnjährigen Berufserfahrung als Kinderärztin lebt sie nun von Sozialhilfe und darf lediglich als Praktikantin arbeiten. Ein bis zwei Jahre können vergehen, bis ihre Approbation von den deutschen Behörden anerkannt werde. Das sei „nicht so einfach zu verstehen“, sagte die Ukrainerin. Malu Dreyer zeigte sich „bedrückt“.

„Wir wären wirklich verrückt, wenn wir es nicht schaffen würden, diese Verfahren zu erleichtern.“ „Ukrainerinnen und Ukrainer möchten gerne arbeiten und gleichzeitig kämpfen wir mit einem Fachkräftemangel“, bemängelte die SPD-Politikerin. Während 65 Prozent der ukrainischen Geflüchteten in Polen arbeiten, rechnete Maybrit Illner vor, liege dieser Anteil hierzulande bei nur rund 20 Prozent.

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Hendrik Wüst verwies angesichts dieser Zahlen auf ein „hohes Anforderungsniveau“ des hiesigen Arbeitsmarkts sowie andere „Kapazitätsprobleme“. So habe Hanna Stoiak fünf Monate auf einen Sprachkurs warten müssen.

Die Situation sei für die Ärztin „fast schon entwürdigend“, kritisierte Boris Palmer: „Wir müssen von den deutschen bürokratischen Standards runter.“ Der Tübinger Oberbürgermeister sprach auch von der „Knappheit von elementaren Gütern“. Jede fünfte Sozialwohnung seiner Stadt sei in den letzten Jahren an Flüchtlinge vergeben worden.

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Die ukrainische Ärztin Hanna Stoiak bei „Maybrit Illner“
Quelle: Claudius Pflug

Bei neuen Geflüchteten sei er erneut „unterbringungspflichtig“: „Das ist ein Verdrängungswettbewerb auf Kosten der Menschen mit kleinen Einkommen.“ Malu Dreyer zeichnete ein weniger düsteres Bild. Regional müsse sie zwar für Wohnungen sorgen, doch der Bund zahle Integrationsleistungen und Lebenshaltungskosten, womit er die Länder und Kommunen „sehr stark“ entlaste.

45.000 Menschen seien nach Rheinland-Pfalz geflüchtet, von denen 6.600 arbeiten, sagte Dreyer und schloss daraus: „Wir sind nicht so schlecht.“ Als Politiker könne er „jeden Tag nur dankbar sein“, dass etwa Lehrer und Erzieherinnen eine hohe Belastung tragen, erklärte Wüst. Eine Arbeit aufzunehmen, habe für Mütter traumatisierter Kinder eine geringere Priorität. Palmer hob ebenfalls hervor, dass ein „eklatanter Mangel“ an Kita-Plätzen bestehe. Deshalb müssen Eltern die Arbeit „zurückfahren“. Er plädierte dafür, die Geflüchteten „in ein eigenes System zu bringen“.

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„Ohne die ganzen bürokratischen Standards“ könnten ukrainische Flüchtlinge selbst Spielgruppen aufbauen, wo sie Kinder in ihrer Muttersprache betreuen. Es handele sich um einen „guten Zwischenschritt“, insbesondere da unklar sei, wie lange die Menschen bleiben wollen. „Die Menschen werden länger bleiben“, betonte Hendrik Wüst, „manche sicherlich auch für immer.“ Auf Ebene der Kommunen seien dafür „verlässliche Strukturen“ notwendig, für die sie wiederum einen „fairen Anteil von Bund und Ländern“ benötigen.

In Richtung Berlin forderte der CDU-Politiker „Ordnung und Humanität zusammenzudenken“, Verfahren zu beschleunigen und Standards abzusenken. „Darüber müssen wir mit der Bundesregierung sehr ernsthaft sprechen.“ Die nächste Gelegenheit dafür wird sich am 10. Mai ergeben. Dann wird sich Bundeskanzler Olaf Scholz mit den Ministerpräsidenten zu einem Sondergipfel zum Umgang mit Geflüchteten treffen.

Source: welt.de