„Wir haben das Desaster geboren und Geschichte gemacht“

Vor ein paar Jahren bat man Joy Williams, in den USA für ihre Kurzgeschichten verehrt, vor Studenten über ihr Handwerk zu sprechen. Die hagere ältere Dame – Williams ist heute 79 – trat daraufhin sonnenbebrillt ans Pult und machte, was sie auch in ihren Kurzgeschichten macht, nämlich allen einen Strich durch die Rechnung. Alles Handwerk berühmter Short-Story-Schreiber, erklärte sie, sei nie etwas anderes als Sehnsucht gewesen; seit Mark Twain würden Kurzgeschichten außerdem mit einem Stift aus der Hölle verfasst.

Immerhin: Liest man Williams’ teuflische Kurzgeschichten, ist die Hölle nie weit. Als Dwight und Lucy, zwei von vielen Williams-Figuren, in den Besitz eines leichenwagenschwarzen Ford Thunderbird gelangen, fahren sie nirgends hin, sondern parken ihn im Wohnzimmer. Irgendetwas, dämmert es Lucy, während sie ohne Erwartung im Auto hockt, habe die „Welt ihrer Verheißung“ beraubt. „Rost“ heißt die Geschichte, weil nicht mal vom T-Bird etwas übrigbleibt.

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Nachzulesen ist „Rost“ jetzt in Williams’ „Stories“, einem Best-of, das deutsche Buchhandlungen mit beinahe skandalöser Verspätung erreicht. Schließlich hat Joy Williams schon mit ihrem Romandebüt „State of Grace“ Thomas Pynchons „Enden der Parabel“ beim National Book Award Konkurrenz gemacht (das war 1974) und wird von nunmehr drei Generationen amerikanischer Großschriftsteller verehrt: Früher sangen Raymond Carver und James Salter ihr Loblied, heute tun es so unterschiedliche Autoren wie Jonathan Franzen und Lauren Groff. Bret Easton Ellis, selbst ein Kind schrecklicher Traurigkeit, behauptet gar, sich vor Williams’ Geschichten zu fürchten.

„Wir haben das Desaster geboren“

Abwegig ist das nicht. Selbst wenn Williams’ Figuren nicht an einem Hirntumor leiden (und sich mangels besserer letzter Wünsche eine Sonnenbrille kaufen), hält das unerbittliche Schicksal einzig das Nichts für sie bereit. „Dass jeder Mensch jeden Augenblick vor der Ewigkeit steht“, zählt nicht nur zu den Überzeugungen jener Sterbenskranken, die wie zum Hohn dann auch noch Gloria heißt. In ihrer unerbittlichen Unsentimentalität ist sie eine typische Williams-Heldin: mutig genug, nichts zu erwarten, aber menschlich genug, es klammheimlich doch zu tun.

Die Liebe etwa – darauf sind schon andere gekommen – scheint gegen den Tod die beste Option, und tatsächlich schürt Williams’ gleich in der ersten, „Liebe“ überschriebenen Story der Sammlung diese Hoffnung – allerdings offenbar nur, um sie dann zwölf Geschichten lang zu enttäuschen: Ein namenloses „Mädchen“ hängt sich allein aus Angst vor der eigenen inneren Leere an einen verheirateten Mann; eine psychisch Erkrankte will die Fürsorge ihrer klammernden Freundin überhaupt nicht; eine Gruppe von Müttern findet zusammen, weil ihre mit Liebe großgezogenen Kinder trotz allem zu Mördern geworden sind. „Wir haben das Desaster geboren und Geschichte gemacht“, sagt die Älteste von ihnen. „Ach, Frauen, meine Freundinnen, wir haben nichts geklärt, und die Erde ist nicht mehr schön.“

„Gegen das Leben selbst allergisch“

Dieser letzte Satz (aus der jüngsten der versammelten Erzählungen, die zwischen 1972 und 2014 erschienen sind) ist verräterisch: Williams erzählt von Menschen, „die praktisch gegen das Leben selbst allergisch sind“. In einem ihrer lichteren Momente hofft die todkranke Gloria auf einen Hund, in ihrem besten fallen ihr die Namen von „Löffelente, Stockente, Gänsesänger“ ein. Doch leider sind die Enten, denen sie begegnet, nicht echt, und der Hund wird auf eine jener Straßen gejagt, an denen doch bloß Motels für Menschen liegen, die wohl qua Art letztlich unbehaust sind.

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Während die frühe Joy Williams auf einen psychologischen Realismus setzt, wie man ihn etwa von Raymond Carver kennt, hat die spätere schon mehr mit den Grotesken eines George Saunders gemein: In „Kongress“, zuerst 2004 erschienen, klammert sich die Hauptfigur Miriam nicht mehr an Mann, Freundin oder Kind, sondern an eine aus den Läufen eines Rehs gefertigte Lampe und sucht die Erlösung nicht in der Liebe, sondern im Naturkundemuseum.

Der Präparator dort, der, selbst wenn er es wollte, kein Tier tot aussehen lassen kann, gilt weithin als weiser Mann. Man darf ihm Fragen stellen und auf die ganz große Antwort hoffen. Doch, Vorsicht: Der Präparator könnte der Wiedergänger eines Radiomoderators sein, von dem Joy Williams Jahre zuvor erzählt hat. Als eine der Williams-Heldinnen ihn fragt, wann denn wohl ihre Stunde komme, lautet die Antwort: „Sie war da, als Sie schliefen.“

Joy Williams: Stories. A. d. Engl. v. Brigitte Jakobeit und Melanie Walz. dtv, 304 Seiten, 25 Euro.

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Source: welt.de