Wilde Biografie | Leseprobe aus „Der Liebe zuliebe“ von Konstantin Wecker: „Die Poesie gehört uns allen“

Zersplitterndes Glas

Klirrend fallen die Bruchstücke der Scheibe zu Boden. Mit bloßer Faust habe ich in einem Anfall von Wut und geistiger Umnachtung ein Fenster unseres Hauses in Italien eingeschlagen und stehe nun im wahrsten Sinne des Wortes vor einem Scherbenhaufen.

Wie durch einen Nebel klingen die Worte eines Freundes, der Arzt ist, zu mir: »Konstantin, du hast die Kontrolle über dich verloren. Das erinnert mich alles sehr an meine Mutter. Die mussten wir dann irgendwann von anderen Menschen fernhalten.«

Sätze wie Paukenschläge, die mich endlich, endlich wachrütteln.

So vieles ist in den letzten Jahren in irgendeiner Form zu Bruch gegangen – nicht nur Glas. Im Rausch habe ich manche Dummheit begangen und bin immer tiefer in einen Strudel von Abhängigkeit und Schwermut hineingeraten. Abend für Abend habe ich auf meinen Tourneen nach den Konzerten an der Hotelbar viele Flaschen Wein geleert und dabei immer gedacht, ich könnte jederzeit mit dem Trinken aufhören. Was für ein Unsinn!

Es ist ein Moment der Verlorenheit – einer jener Augenblicke, in denen wir uns fragen, warum bin ich überhaupt hier? Oder: Das kann doch nicht wahr sein, dass so etwas mir passiert … Aber was wäre, wenn jede Grenze, an die wir stoßen, zugleich auch eine Einladung zu einem Neuanfang ist?

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Ende 2021 ist mir jedenfalls klar: So kann es nicht weitergehen. Ich muss mir eingestehen, dass ich alkoholabhängig bin. Mir ist bewusst, dass ich an einem Punkt angekommen bin, an dem eine Entscheidung ansteht. Und jetzt beschließe ich endlich, einen Schlussstrich zu ziehen.

Immer wieder hatte ich mir in den letzten Monaten in schwermütigen Augenblicken vorgestellt, dass ich mich mit anderen Alkoholikern unter irgendeiner Straßenbrücke, wo ich meine letzten Tage verbringe, zu Tode saufe. Es gab einfach keine andere Perspektive.

Sich zu berauschen, weil es Spaß macht, ist das eine. Es löst Glücksgefühle aus. Aber Alkohol zu trinken, um dich zu betäuben, damit du mit dem, was dich belastet, klarkommst, ist ein riesiger Fehler. Es ist eine Endlosschleife aus Scham und Rausch, Trauer und Wut. Ein Höllenritt

(…)

Ob mich die Götter noch lieb haben?

Während die Wunde an meiner Hand heilt – der Glaser hat längst eine neue Scheibe eingesetzt –, stellen sich in meinen Träumen, in meinen Gedanken immer wieder die »Hungergeister« ein. Nach buddhistischer Lehre sind dies seltsame Wesen, die in diesem Leben etwas nicht zu Ende gebracht haben. Sie irren ohne Körper als verlorene Seelen im Jenseits umher und können sich auch nicht mehr weiterentwickeln. So bleiben sie in ihren Problemen, in ihren Süchten gefangen. Das spiegelt sich in einem Bild: Die Hungergeister hängen an Zapfhähnen und versuchen auf diese Weise ihre Sucht zu befriedigen – was nicht gelingt. Was auch überhaupt nicht gelingen kann, weil sie ja keinen Körper haben! Dieses Bild, der Gedanke daran, selbst bald einer von diesen Hungergeistern sein zu müssen, lässt mich nicht mehr los. Es hat sich in meiner Seele eingebrannt. Und ich habe mich entschieden: Ich will mein Leben keinesfalls in einem derart erbärmlichen Zustand beenden!

Wie viele Tage und Nächte habe ich mit Freunden und Fremden dem Alkohol und Drogen zugesprochen? Die rauschenden Feste, die ich in meinem Leben gefeiert habe, sie sind nicht zu zählen. Ich habe die Zeiten genossen, den Moment ausgekostet, das fröhliche Miteinander – als gäbe es kein Morgen.

Mir ist klar: Ich muss mich endlich der Sucht stellen und aufhören, so viel zu trinken. Und das mit einer großen Wahrhaftigkeit. Es wäre auch fahrlässig, den Gedanken, wie es eigentlich mit mir weitergehen soll, fortwährend zu verdrängen. Das bin ich nicht nur mir selbst, sondern auch meiner Familie, den Menschen, die ich liebe und denen ich im Suff immer wieder so lieblos begegne, schuldig. Und auch meinem Publikum.

Wir leben in einer Gesellschaft, die, von panischer Angst getrieben, der Vergänglichkeit ins Auge blicken zu müssen, nichts unversucht lässt, den Tod aus dem Leben auszuklammern. Aber wir müssen ihn beizeiten ins Auge fassen, begreifen, dass unser Dasein auf Erden endlich ist. Damit wir das Leben bewusst leben. So, als könnte jeder Tag unser letzter sein. In meinen Liedern kommt die Vergänglichkeit eigentlich fast immer vor – es gibt kaum ein Gedicht, in dem das Sterben keine Rolle spielt. Aber mit meiner Ratio habe ich mich nie wirklich mit dem Tod beschäftigt.

Dass wir eines Tages sterben müssen, wissen wir schon – aber wir schieben den Gedanken zur Seite, wollen uns lieber nicht damit beschäftigen. Natürlich ist dies anders, wenn wir schwer krank oder im nahen Umfeld mit einem Todesfall konfrontiert werden.

Den Tod anderer Menschen zu betrauern, ist das eine. Aber stell dir vor, du selbst stirbst – und du bist nicht dabei. Dieser Gedanke, dass ich im Rausch meinen eigenen Tod verpassen könnte, weil ich so berauscht und zugedröhnt bin, dass ich nichts und niemanden mehr wahrnehme, hat sich in mir festgesetzt. Und er setzt mir zu: In einem derart desolaten Zustand will ich an meinem letzten Tag auf dieser Erde die Schwelle ins Reich des Todes nicht überschreiten. Am Ende will ich aufrecht gehen. Und ich will keinesfalls als Hungergeist enden!

Vor vielen Jahren, 1981, in meiner Sturm-und-Drang-Zeit, bin ich einmal ganz bewusst mit einem Jeep auf einem Waldweg in der Toskana an einen Baum gefahren – und ich war dabei noch nicht einmal angeschnallt. In einem Anflug von Selbstüberschätzung wollte ich einfach einmal ausprobieren, ob mich die Götter noch lieben. Und auch damals war ich berauscht, sonst wäre ich vermutlich nicht auf die Idee gekommen, so etwas zu tun … Entschlossen habe ich den Wagen vom Weg herunter gelenkt und direkt auf einen großen Baum zugehalten. Es hat unheimlich gekracht, ich wurde gegen das Lenkrad geschleudert, der Jeep war hin. Doch ich stieg unversehrt aus und hatte das beglückende Gefühl: Ja, die Götter stehen mir bei, sie lieben mich noch.

Nach dem Unfall bin ich ziemlich weit gelaufen, bis ich wieder zu Hause war. Vermutlich hatte ich nicht allzu viel Alkohol oder Drogen intus, sonst hätte ich den langen Rückweg nicht geschafft.

In der darauffolgenden Nacht habe ich dann wohl meine Elegien geschrieben, eine Reihe besonderer Texte. Genau weiß ich das aber nicht. Ich kann mich nur daran erinnern, dass ich am nächsten Morgen aufwachte und sah, dass auf dem Tisch einige beschriebene Blätter lagen. Interessiert nahm ich die Bögen in die Hand und las voller Erstaunen, was ich geschrieben hatte. Wie die Zeilen aufs Papier gekommen sind, kann ich nicht sagen. Aber es war meine Handschrift, es musste also von mir sein. Wenn der Text ordentlich gesetzt in einem Buch gestanden hätte, hätte ich gedacht, er stamme von Rainer Maria Rilke. Aber nie und nimmer von mir.

Die erste Elegie

Anstatt sie zu betreten, treten wir die Welt. Wie eine Silbe doch entscheidend scheiden kann! Wie erst ein Wort!

Als wir noch schliefen, war’n die Wörter schon gemacht, und alles, was wir heute niedrig sehen, war immer groß genug; uns aufzunehmen ins Geschehen.

Wie sich die Luft noch niemals wünschte, Mensch zu sein, sieht alles, was sich selbstlos gibt, sanft lächelnd auf uns nieder.

Ach, würden wir an solcher Größe uns gestalten, die es ertragen kann; von uns geschändet und zerstört zu werden.

Uns birst die Lunge, wir vergehen vor Schmerz und Wut, wenn wir die letzten Bäume fällen.

Und wie bedauert uns das Tier! Mit welchem warmen Mitleid wacht die Erde über uns, wenn wir sie quälen.

Armselig sind die Herrschenden, denn sie genügen nicht sich selbst. Und was wir uns auch immer neu zu schaffen glauben, verkleinert nur, was längst geschaffen war.

Die Welt hält stand. Selbst wenn wir sie in Stücke jagen – wir gehen nur an dem zu Grund, was wir verstehen.

Nichts ist erklärbar. Nur im Unsichtbaren lernen wir zu sehen.

(…)

Die neunte Elegie

Uns ist kein Einzelnes bestimmt. Ein jeder ist die Menschheit, geht mit ihr unter oder wendet sie zum Guten hin.

Da mein Haus im italienischen Ambra zu dieser Zeit umgebaut wurde, habe ich damals im Nachbardorf gewohnt. Eine Nachbarin, die Schriftstellerin Claretta Cerio, der ich von meinem Erlebnis erzählte, sagte zu mir: »Ach, Konstantin, wenn dich die Götter geliebt hätten, dann hätten sie dich geholt.« Dieser Satz hat mir lange zu denken gegeben. Claretta ist übrigens 92 Jahre alt geworden.

In der dritten Elegie schreibe ich: »Dichtung ist Abglanz von anderswo und strömt als Gleiches durch ungleiche Herzen.« Und die letzte Strophe der fünften Elegie lautet: »Werden heißt: immer mehr von sich und der Welt verlieren.« Aus heutiger Sicht betrachtet, ist dies eine geradezu prophetische Vorhersage …

Wird die Welt von gestern wieder zur Welt von morgen?

Die Literatur und die politische Weitsicht des Schriftstellers und Pazifisten Stefan Zweig haben mich schon immer tief bewegt. Seitdem ich mich mit der aus meiner Sicht täglich menschenverachtender werdenden Rhetorik und Praxis vieler Politiker und Politikerinnen von Giorgia Meloni über Herbert Kickl bis Alice Weidel konfrontiert sehe, erinnere ich mit Schrecken an die Klugheit von Zweig. Erschreckend, weil die Menschheit aus seinen Erkenntnissen und Erfahrungen hätte lernen können. Und besorgt, ob wir die drohende Entwicklung in den heutigen Faschismus noch verhindern können.

Stefan Zweigs Buch »Die Welt von Gestern: Erinnerungen eines Europäers« ist ein autobiografisches Werk. Das Buch wurde erst kurz vor seinem Tod fertig und entstand in den letzten Jahren seines Exils und nach der Flucht vor den Nazis aus Europa nach Lateinamerika. Es erschien erst posthum 1942. Der folgende Auszug aus dem Buch liest sich wie eine messerscharfe aktuelle Analyse der heutigen Medienstrategien von AfD bis FPÖ: »Denn der Nationalsozialismus in seiner skrupellosen Täuschertechnik hütete sich, die ganze Radikalität seiner Ziele zu zeigen, ehe man die Welt abgehärtet hatte. So übten sie vorsichtig ihre Methode: immer nur eine Dosis und nach der Dosis eine kleine Pause. Immer nur eine einzelne Pille und dann einen Augenblick Abwartens, ob sie nicht zu stark gewesen, ob das Weltgewissen diese Dosis noch vertrage. Und da das europäische Gewissen – zum Schaden und zur Schmach unserer Zivilisation – eifrigst seine Unbeteiligtheit betonte, weil diese Gewalttaten doch ›jenseits der Grenze‹ vor sich gingen, wurden die Dosen immer kräftiger, bis schließlich ganz Europa an ihnen zugrunde ging. Nichts Genialeres hat Hitler geleistet als diese Taktik des langsamen Vorfühlens und immer stärkeren Steigerns (…).«

Würden wir die Worte und Namen »Nationalsozialismus« und »Hitler« ersetzen durch »AfD«, »Weidel« und »Höcke« oder »FPÖ« und »Kickl«, dann liest sich diese Analyse brisant aktuell und bedrohlich für unsere Zukunft. Doch was mich noch mehr erstaunt und erschüttert als die Menschenverachtung von AfD und FPÖ, ist die Skrupellosigkeit und Dummheit der bürgerlichen Parteien und Konservativen. Sie übernehmen Stück für Stück die rechte Propaganda gegen Geflüchtete und sozial Schwächere und paktieren für ihren eigenen Machterhalt in der EU bereits offen mit den Meloni-Faschisten. Sie spielen mit dem Feuer. Sie könnten wissen, dass sie damit nur die Rassisten, Faschisten, Nazis und ihre Hetze weiter stärken. Wir sollten sie daran erinnern, dass es schon einmal die Konservativen und bürgerliche Kräfte in Deutschland waren, die offen mit den Faschisten paktiert und die Macht an sie freiwillig und ohne Gegenwehr übergeben haben. Die Faschisten in Österreich lassen grüßen.

In Zeiten, in denen Tech-Milliardäre offen Faschisten, Rassisten und Sexisten unterstützen und der reichste Mann der Welt eine rechtsextreme Partei in Deutschland für seine eigenen Profitinteressen stark machen will, sollten wir auf den Straßen und in den Parlamenten laut und deutlich klarmachen: »Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.« Und wir sollten es tun, bevor es zu spät ist.

Zäune töten

Zäune bedeuten Ein- und Ausschluss von Menschen. Vielleicht waren mir Zäune deshalb schon immer zutiefst verhasst. Und zwar schon lange bevor ich als Jugendlicher das erste Mal im Knast in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland eingesperrt wurde. Bis heute symbolisieren Zäune für mich die gesellschaftliche Auseinandersetzung zwischen emanzipativen sozialen Bewegungen und reaktionären Tendenzen.

Bereits als Kind haben mich die Gartenzäune in den Vorstädten der miefigen Adenauerrepublik abgestoßen. Eine beklemmende Spießigkeit wurde mit Jägerzäunen vor Thujenhecken abgeschirmt. Unabhängig davon, dass damals viele alte Nazis noch in Amt und Würden waren und sie keine Reue zeigten für die Massenvernichtung von Menschen hinter den elektrisch geladenen Stacheldrahtzäunen der Konzentrationslager. Sie liebten ihre Gartenzäune. Das alles habe ich erst viel später begriffen und dagegen demonstriert.

Der Mechanismus von In- und Exklusion durch Zäune ist bis heute tödlich. Ich hatte das Glück, in einem antifaschistischen Elternhaus aufwachsen zu dürfen, kurz nach der Befreiung vom Faschismus. Später, als politisch denkender und handelnder Mensch in der BRD der 1970er- und 1980er-Jahre, waren Zäune für mich das Symbol für den autoritären Atomstaat von Franz Josef Strauß bis Helmut Schmidt. Bei den Protesten von Hunderttausenden gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage (WAA) in Wackersdorf war die Zerstörung des angeblich unüberwindbaren »Sicherheitszauns« aus Spezialstahl und NATO-Draht der Anfang vom Ende der Atomkraft in Deutschland. Ich hoffe von Herzen für die nächsten Generationen, dass sich die aktuellen Forderungen so mancher Politikerinnen und Politiker nach dem Wiedereinstieg in diese tödliche Technologie und nach deutschen Atombomben niemals durchsetzen mögen.

Heute sterben wieder Menschen wegen der meterhohen Zäune, die Deutschland und die EU an ihren Außengrenzen bauen. Das 10.000-fache Sterben als Folge der Abschottung der Festung Europa gegen Geflüchtete ist unerträglich. »Und nun fliehen die Ärmsten vor deinen Gewehren, und du lässt sie ersaufen in verseuchten Meeren«, habe ich 2021 in meinem Lied »Schäm dich Europa« geschrieben. Wer fliehen muss, trifft heute auf immer höhere Zäune und Mauern, auf tiefere Gräben und immer mehr Gewehrläufe und erbarmungslose Grenzregime. Die Fluchtrouten durch die Wüsten, Wälder und über die Meere werden immer länger und gefährlicher. Wer flieht, ertrinkt, erfriert, verdurstet immer öfter.

Mit meinem Lied »Schäm dich Europa« möchte ich uns allen Mut machen, weiter zusammen gegen Rassismus und Grenzregime zu kämpfen. Mein Lied ist Anklage und Hoffnung zugleich, sich endlich zu besinnen, solange es noch möglich ist: »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!«

Nüchterne Trunkenheit

In vielen meiner Texte und Lieder ist etwas zu spüren von diesem Ringen um die Seele und den Sinn des Daseins, der sich eben nicht in Ruhm und Reichtum, Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll erfüllen kann. (…)

Wie es mich meine Poesie immer schon gelehrt hat und wie es mir jetzt, im Alter, zunehmend bewusst wird, geht es in unserem menschlichen Dasein nicht um Lusterfüllung, sondern um Erkenntnisgewinn. Die Not und die Trauer sind dabei gute Lehrmeister. Und ein viel besserer Lehrmeister als so manche Befriedigung von Wünschen. Das Scheitern bringt uns weiter, wenn wir es bewusst annehmen.

Viele Menschen scheitern andauernd und akzeptieren nicht, dass es ein Scheitern ist. Und sie versuchen, es anderen in die Schuhe zu schieben, übernehmen keine Verantwortung für ihr eigenes Handeln. Immer noch übe ich mich darin. Und ich bin mir sicher, dass der Zustand der Nüchternheit, der einem ganz unbetäubt auch die Schrecknisse des Lebens vor Augen führt, mir noch einmal neue Türen öffnen wird. Oft kommt der Anstoß für ehrliche Seelenarbeit durch ein unvorhergesehenes Leid. Auf die eine oder andere Art zu sterben – innerlich oder äußerlich.

Menschen, die unglaubliches Leid erfahren haben, sind oft auch daran gewachsen – trotz allem Schrecken. Und es ist so wichtig, auch das Leid anderer zu sehen, so vieler Milliarden von Menschen, die am Leben leiden müssen. Sie leiden auch deshalb, weil wir aus reinem Lustgewinn und sinnlosem Ehrgeiz diese Erde kaputt gemacht und vieles zerstört haben. Daran, dass wir Menschen unterdrückt und versklavt haben, dass wir Tiere schlecht behandeln. Dieses Leid von so unzählig vielen Menschen auch mal in sich zu spüren, ist so unendlich wichtig. Wir sind doch alle verbunden. Wir sind alle eins. Und natürlich sind wir auch eins im Leiden.

An den Tiefpunkten des Lebens kommen wir oftmals auch zu tiefer Erkenntnis. Am meisten gelernt habe ich ganz persönlich immer im Scheitern. Denn in den Abgründen, die wir erleben, sind wir wahrhaftiger. Dann sind wir eben nur noch wir selbst, ganz ohne Maske, und nicht mehr das, was wir uns vorgaukeln, was wir seien – um den vermeintlichen Normen der Gesellschaft zu genügen. Meine Hochachtung vor denen, die nicht den Ansprüchen anderer genügen, habe ich in meinem Gedicht »Es lebe die Zerbrechlichkeit« beschrieben.

Angekommen am Ziel meiner inneren Reise bin ich noch nicht. Aber ich weiß, dass ich das Ziel in einem nicht benebelten Zustand erreichen will – und es auch nur so überhaupt erreichen kann. Hingabe ist in einem berauschten Zustand nicht möglich.

Für mich steht fest, dass ich zukünftig nüchtern trunken sein möchte, so wie es Augustinus beschreibt. Trunken nicht von Rauschmitteln wie dem Alkohol, sondern von spirituellem Erleben. So wie ich schon als Knabe trunken war – über das Hilfsmittel Musik, über die Poesie –, trunken vom Sein. Des eigenen Seins bewusst.

In Ambra, unter dem Maulbeerbaum, den ich so sehr liebe, hatte ich Momente, in denen ich dieses Gefühl – »trunken vom Sein« – gespürt habe. Leider waren es immer nur wenige Augenblicke, denn es waren Momente höchsten Glücks. Ich stand da und dachte: Es gibt überhaupt keine Zeit mehr, es war ewig. Eins sein mit mir selbst. Angekommen im Hier und Jetzt.

Vor nichts mehr weglaufen müssen. Wenn wir vom Einssein reden, dann geht es um das Göttliche. Wenn du eins bist mit deinem Sein, dann hast du schon etwas von der Ewigkeit erkannt.

So etwas können wir alle erleben. Jede und jeder. Aber wir lassen es meist nicht zu, wir drücken dieses Gefühl weg, lenken uns mit irgendetwas ab. Und wer eine Abneigung gegen das Wort Spiritualität hat, lehnt es natürlich auch innerlich ab, solche Momente zu haben, in denen wir ganz verbunden sind mit dem Größeren.

Auf der Bühne habe ich solche heiligen Momente immer wieder. Wenn ich eins bin mit dem Publikum, mit den Musikern, mit meinen Inhalten. Das sind mystische Erfahrungen.

Die Kraft von Utopia – Visionen einer besseren Welt

»Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen.« Was für ein schöner, bewegender und großartiger Satz, den Ernst Bloch uns geschenkt hat in seinem Werk »Das Prinzip Hoffnung«. Für Bloch ist Hoffen ein philosophisches Prinzip und eine soziale Praxis zugleich. Und so werden gesellschaftliche Entwicklungen seit Jahrtausenden maßgeblich von den Hoffnungen der Menschen auf ein besseres Leben und eine gerechtere Welt vorangetrieben. Oder wie es der Münchner Filmemacher und Autor Alexander Kluge einmal formuliert hat: »Eine aktuelle Wirklichkeit besteht aus Vergangenheit, Zukunft und dem Konjunktiv der Möglichkeit, die neben ihr einhergeht und große Gravitation hat – wie ein Echo begleitet die Möglichkeit die sogenannte Wirklichkeit.«

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Hoffen macht Mut. Und, wenn wir uns gegenseitig Mut machen, können wir auch in diesen stürmischen Zeiten wieder zusammen das Hoffen lernen:

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Seit Jahrtausenden wollen uns Fürsten und Könige, Herrscher, Generäle und Politiker einreden, dass eine andere, gerechtere Gesellschaft unmöglich sei: Lasst uns endlich dafür sorgen, das angeblich »nicht Verwirklichbare« zu suchen und möglich zu machen, bevor die Reichen und Mächtigen die Welt für immer zerstört haben werden.

Folgen wir denen nach, die sich bereits vor uns auf die Suche begeben haben und ohne die wir nicht wären, was wir sind. Ab heute gibt es für uns keine Denkverbote mehr: Wir machen einfach gemeinsam, was für uns alle ein besseres Leben möglich macht. Jeden Tag, jede Nacht und überall.

(…)

»Das Privateigentum klammert sich an seine Existenz, obwohl es unsozial ist, vielfältig verbrecherisch. (…) Der Zusammenbruch des Finanzkapitals mit seinen Diebstählen, der makabre Tanz der Banken, die Verschwendungen der Regierungen begeben sich in ihrer Panik freiwillig in den Schutz der Armee, um die ihnen genehmen politischen Vertretungen und um auch die Festgelage ihrer Unersättlichkeit zu schützen. Alle diese Schandtaten grinsen ein letztes Mal den Armen ins Gesicht.«

Das klingt verdammt visionär und modern. Diese Zeilen schrieb die französische Revolutionärin, Autorin und Lehrerin Louise Michel 1888. In ihren Texten stecken ihre gesammelten Erfahrungen und ihre ganze Leidenschaft, die sie vor über 150 Jahren im Freiheitskampf der Pariser Commune vom 18. März bis 28. Mai 1871 zur Anarchistin und zur Streiterin für eine herrschaftsfreie Gesellschaft werden ließ. Sie wusste schon damals: »Niemand auf der Welt kann allein die gegenwärtige Lage beseitigen. Niemand allein, aber wenn es alle tun, ist es ihr Ende. Fort mit ihnen, her mit der Sozialen! Der Menschheit die Welt! (…) Die Anarchie ist die Ordnung durch Harmonie. Gleichheit, weltweite Harmonie für die Menschen, so wie für alles, was lebt. So wird alles allen gehören.« Was für eine traumhaft schöne Sprache.

(…)

Der kurdische Politiker, Repräsentant und bedeutende Theoretiker Abdullah Öcalan schreibt in seinem Buch »Jenseits von Staat, Macht und Gewalt«: »Attraktiv finde ich ethisch-politische Menschen, die Freundschaft mit Tieren pflegen, in Eintracht mit der Natur leben, auf einem Gleichgewicht der Geschlechter aufbauen, in Freiheit, Gleichheit und Liebe leben und die Kraft der Wissenschaft und der Technik davor bewahren, Spielzeug für Krieger und Mächtige zu sein. (…) Ich rede von einem geistig-seelischen Paradigma. Kategorisch sage ich: Das Anbeten von Kraft und Macht, das funkelnde und glitzernde Leben aller blutbesudelten Zivilisationen, ich habe es wirklich satt und hasse es. (…) Die Kindheit der Menschheit, die ins Vergessen gestoßene Geschichte der Werktätigen und der Völker, die Welten der Freiheit und der Gleichheit in den Utopien der Frauen, der Kinder und der Kind gebliebenen Greise – ich will mich lieber an ihnen beteiligen, dort einen Erfolg erzielen. All das ist Utopie. Aber manchmal sind Utopien die einzig rettende Inspiration. Aus den heutigen Bauten, die schlimmer sind als Gräber, wird man natürlich durch Utopien ausbrechen.«23

Öcalan sitzt seit über 26 Jahren in Isolationshaft auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer. Eine gerechte und friedliche Lösung für die Menschen in Kurdistan setzt die Freilassung von Abdullah Öcalan voraus. Doch der Despot vom Bosporus nennt ihn bis heute einen Terroristen, so wie Nelson Mandela jahrzehntelang als Terrorist diffamiert wurde. Die Geschichte entscheidet letztlich darüber, wer Despot und wer Streiterin oder Streiter für den Frieden und eine gerechtere Welt ist.

In unserem gemeinsamen antimilitaristischen Manifest zum internationalen Antikriegstag am 1. September 2023 haben die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek und ich geschrieben: »Als Künstler*innen, als Literatin und als Musiker, bestehen wir darauf, was Ernst Bloch formuliert hat: ›Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen.‹«24

»Ein besseres Leben für alle Menschen auf unserer Welt ist möglich – davon zu träumen, darüber zu schreiben, davon zu singen, darauf zu bestehen und sich gemeinsam dafür zu engagieren, das wollen wir alle einzeln und zusammen tun – überall und jeden Tag weltweit. Wir werden niemals aufhören zu träumen von einer herrschaftsfreien Welt ohne Kriege, Faschismus, Rassismus, Patriarchat, ohne die zerstörerische Ausbeutung von Menschen und Natur.«25

Der Anthropologe, Anarchist und Antifaschist David Graeber ist am 2. September 2020 viel zu früh aus dem Leben gerissen worden. Er, der Denker, der Forscher und Occupy-Aktivist, versichert seinen Leserinnen und Lesern stets, dass wir die Probleme der Welt überwinden können, indem wir Alternativen schaffen.

(…)

Er wusste, dass die Utopie von Rojava uns alle angeht: Die Menschen dort brauchen jetzt unsere weltweite Solidarität. Und wir brauchen die Utopie von Rojava: dieses gesellschaftliche Experiment einer basis- und rätedemokratischen, feministischen, ökologischen und sozial gerechten, multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft. Seit Jahren ist das selbstverwaltete Projekt in Rojava ein Hoffnungsschimmer in der gesamten Region für Frieden und es ist gelebte antirassistische Solidarität gegen Hass und Zerstörung. Heute umso mehr angesichts der Eskalation der Kriege in der gesamten Region.

(…)

»Wer die Geschichte gelesen hat, weiß, dass Ungehorsam die ursprüngliche Tugend des Menschen ist. Durch Ungehorsam ist der Fortschritt geweckt worden, durch Ungehorsam und Rebellion«, erkannte der großartige englische Schriftsteller Oscar Wilde bereits 1881, und die brillante Denkerin Hannah Arendt forderte kurz und konsequent: »Niemand hat das Recht zu gehorchen.«

Die Poesie gehört uns allen, denn sie wartet schon immer darauf, gepflückt zu werden wie die Blüten eines Maulbeerbaumes, oder im Wind zu verwehen. Alle Verse sind schon geschrieben, von einer tieferen Weisheit, als unsere Schulweisheit es sich erträumen lässt. Lasst uns irre, einsame, verlassene, tatsächliche Rebellinnen und Rebellen sein. Nur so werden wir diese gierige, profitorientierte, klägliche und zerstörerische Welt in ein liebevolles Miteinander verwandeln. In diesem Sinne möchte ich meinen kurzen Text »Die Kraft von Utopia« mit einigen meiner Zeilen enden lassen, die mich seit vierzig Jahren begleiten:

So wie wir jetzt kurz vor dem Untergang stehen,

kaum noch eine Hoffnung, in Würde zu überleben,

so lasst uns jetzt mal die Möglichkeit ergreifen,

alles ganz anders zu versuchen

wie einer,

der kurz vor seinem Tod noch das Leben

erleben und durchleben möchte,

ohne Rücksicht auf das Gequassle

der Zyniker und Drübersteher.

Dass diese Welt nie ende,

nur dafür lasst uns leben.

Lieber Vater

dieses Buch beginnt mit einem Brief an Dich und soll mit einigen Zeilen an Dich enden. Wie gerne hätte ich Dir dies alles noch zu Lebzeiten erzählt. Aber ich hoffe auf ein Wiedersehen in anderen Welten.

Als ich ein kleiner Junge war, habe ich Dich einmal gefragt, ob es etwas gäbe, was ganz anders sei als alles, was man kennt. Anders als Menschen und Tiere und Dinge, anders als alle Farben und Klänge, ja sogar anders als das große, unbekannte Universum. Soweit ich mich erinnere, bist Du mir damals die Antwort schuldig geblieben. Seitdem hat mich die Sehnsucht nach dem Unbekannten, Unerklärlichen, Unverfügbaren, Wunderbaren nicht mehr losgelassen. Und nun scheint es, als würde ich ein wenig mehr von diesem großen Geheimnis begreifen.

Im Rückblick denke ich, dass mich meine unerschöpfliche, grenzenlose Sehnsucht vermutlich dazu getrieben hat, nicht nur mit Begeisterung Gedichte zu lesen und auch selbst viele poetische Texte zu schreiben, sondern auch stundenlang am Klavier neue Melodien zu improvisieren.

(…)

Es wird Abend in Ambra. Der Mond steht am Himmel über dem Olivenhain. Sanft streicht der Wind über die Höhe. Ich sitze an meinem Schreibtisch mit Blick ins Freie und drehe mich langsam um. Da hängt eines Deiner Bilder, die Du mit so viel Liebe gemalt hast, und erinnert mich an all das, was war und was ist und was kommt. Danke, Vater.

Dein Konstantin

Eine Verlagsbeilage in Zusammenarbeit mit bene!