Wie Wikipedia Helfer findet

Es reicht einfach nicht aus. Drei Millionen Artikel und nur 6000 regelmäßige freiwillige Autoren – da müsste jeder Freiwillige rund 500 Seiten aktuell halten, damit die Wikipedia dauerhaft auf dem neuesten Stand bleibt. Damit die Enzyklopädie gut funktioniert, braucht sie also mehr Mitstreiter. Wo sollen die herkommen?

„Wikipedia ist ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie aus freien Inhalten, zu denen du sehr gern beitragen kannst“: So steht es in der deutschsprachigen Wikipedia ganz oben. Und theoretisch stimmt das auch. Praktisch ist es nicht ganz so einfach. Denn Menschen sind nicht immer nur freundlich. Manche hinterlassen aus Jux blanken Unsinn in der Wikipedia, andere wollen die Öffentlichkeit manipulieren, wieder andere nur sich selbst promoten. Schon vor Jahren hat die Wikipedia deshalb eine kleine Hürde eingezogen: Wer die ersten Male einen Artikel verbessert, dessen Änderungen werden nicht gleich angezeigt. Sie müssen erst von einem erfahreneren Autor angesehen werden. Da stehen aber 14.000 Änderungen und warten. Einige Änderungen warten schon seit vier Wochen darauf, dass sie endlich auf der Seite erscheinen.

Der Anfang der Mitarbeit ist bei Wikipedia also schon mal nicht besonders motivierend. Es fehlen Leute, und weil so wenig Leute mithelfen, ist die Gewinnung neuer Freiwilliger umso schwieriger. Ein Teufelskreis.

Banner und Infokampagnen ermutigen zum Mitmachen

Die Folgen untergraben das Vertrauen, das viele Menschen in Wikipedia setzen. Mindestens ein Fünftel der Artikel enthält Stellen, die inzwischen veraltet sind. Fast genauso viele Artikel kommen dazu mit Sätzen, die von vornherein nicht gestimmt haben. Zusammen enthalten 40 Prozent der Artikel problematische Stellen. Im Artikel über den Film „Harry Potter und der Halbblutprinz“ werden dem Film Einspielrekorde zugesprochen, die er schon lange wieder verloren hat. Im Artikel über die Saar stimmen die Angaben zum Saar-Radweg und zu den S-Bahnen entlang des Flusses nicht mehr. Und wer etwas über Amrum erfahren möchte, findet dort Arbeitslosenzahlen aus dem Jahr 2017, die inzwischen acht Jahre alt sind.

Das Problem ist den Wikipedia-Autoren sehr bewusst. Seit Jahren versuchen sie, neue Mitstreiter zu gewinnen – und vor allem: neue Mitstreiterinnen. „Um die Zahl der aktiven Autoren zu erweitern, informieren die Community und Wikimedia Deutschland über Banner in der Wikipedia oder Informationskampagnen auf anderen Kanälen über Möglichkeiten zum Mitmachen. Mentoringprogramme von Erfahrenen sollen den Einstieg in das enzyklopädische Arbeiten erleichtern“, heißt es von der Stiftung.

F.A.S.

Die Autoren diskutieren, wie sie ihren Umgangston untereinander verbessern können, und haben das auch schon geschafft. Neue Freiwillige finden ausführliche, liebevoll gemachte Anleitungen. Es gibt sogar eine Telefonhotline: Unter 0800-Wikipedia beantworten mittwochs und donnerstags zwei Stunden lang erfahrene Wikipedianer die Fragen von Neulingen.

„Zugang zu Wikipedia mittlerweile nicht mehr niederschwellig“

Und doch beweisen all diese Initiativen nur eines: Der Einstieg ist kompliziert. Wer in der Wikipedia mithelfen möchte, muss erst mal viel lernen. Niemand kann mehr so sanft und locker anfangen wie bei der Gründung der Enzyklopädie, als tatsächlich jeder eine Idee für eine Verbesserung haben konnte, seine Sätze hinterließ und das Ergebnis direkt auf der Seite sah. Heute muss man abwarten, bis alles geprüft ist, und handelt sich dann öfter mal als Erstes Hinweise ein, wie es besser wäre. Selbst wenn diese Hinweise freundlich hervorgebracht werden: „Das ist natürlich demotivierend“, wie Matthias Sutter sagt, der Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern.

Die Wikipedia muss sich nicht nur gegen Unfug und gezielte Desinformation schützen. Sie hat im Lauf der Jahre auch eine Menge an Qualitätsstandards entwickelt, die einerseits den Lesern nützen, aber andererseits den Einstieg erschweren. 38 Druckseiten füllen allein die Regeln dafür, zu welchen Themen ein neuer Artikel angelegt werden darf. Dazu kommen Zitierregeln, Richtlinien zum Umgang mit Fremdwörtern, Vorgaben über die Gliederung des ganzen Textes und noch vieles mehr. „Der Zugang zu Wikipedia ist mittlerweile schon weiß Gott nicht mehr niederschwellig“, betonte ein Wikipedianer in einer internen Diskussion schon im vergangenen Jahr. Die Wikipedia hat sich professionalisiert. Umso schwieriger ist es, Amateure zu gewinnen.

Max-Planck-Direktor Sutter hat eine Idee, wie man den Aufwand für den Einstieg senken könnte. Chatbots könnten Einsteigern helfen, ihre Änderungen mit den vielen Regeln abzugleichen und sanfte Vorschläge für Anpassungen zu machen.

Stark durch Unabhängigkeit

Bei all solchen Ideen geht es darum, den Aufwand der Freiwilligen zu reduzieren. Auf der anderen Seite könnte man die Belohnung steigern. „Man müsste es schaffen, Wikipedia wieder hip zu machen, zu einem Ort, wo sich junge Leute auszeichnen.“ Er erinnert daran, dass viele Ehrenamtliche sich auch deshalb engagieren, weil sie damit anderen zeigen können, dass sie ein guter Mensch sind. „Das ist völlig okay“, sagt Sutter. „Wenn es gelingen würde, die Mitarbeit bei Wikipedia zu so etwas zu machen, und dann hätte man einen Startvorteil bei Bewerbungsgesprächen, das würde es attraktiver machen.“

Einst gab es sogar einen jährlichen Preis für gute Wikipedia-Artikel und Projekte. Der allerdings wurde 2014 zum letzten Mal verliehen. Damals wie heute darf auch jeder Freiwillige einen Preis an einen anderen verleihen. Das macht sich gut innerhalb der Autorenschaft, hilft aber außen nur begrenzt.

Am Institut für Organisation und Lernen der Universität Innsbruck plädiert Leonhard Dobusch schon länger dafür, dass Wikipedia nicht mehr rein ehrenamtlich funktionieren soll, so ähnlich wie das Rote Kreuz, wo auch hauptamtliche und ehrenamtliche Helfer gemeinsam arbeiten. In der Wikimedia-Stiftung stößt dieser Vorschlag allerdings nicht auf offene Ohren. „Die Wikipedia ist ein Freiwilligenprojekt. Das ist die Haltung der Community und von Wikimedia Deutschland. Denn die Unabhängigkeit von politischen oder wirtschaftlichen Interessen ist – neben der Transparenz – eine Stärke der Enzyklopädie“, teilt die Stiftung mit und sagt weiter: Sie wolle Wikipedia kostenlos halten.

Geld wäre da. Knapp 25 Millionen Euro nahm die deutsche Sektion der Wikimedia-Stiftung im vergangenen Jahr ein. Sie hat mehr als 100.000 regelmäßig zahlende Mitglieder. Es gibt also deutlich mehr zahlende Mitglieder als regelmäßige Autoren. Zwölf von den 25 Millionen Euro leitete die deutsche Wikimedia an andere weiter, vor allem an ihre internationale Einheit, die mehr als 100 Millionen Euro auf den Konten liegen hat. Dobusch plädiert dafür, die Hälfte der deutschen Spendeneinnahmen solle in die Redaktionsarbeit fließen. Er überschlägt, dass das für rund 50 Stellen reichen könnte. „Damit ließe sich schon eine Menge bewegen, denke ich.“