„Wie es euch gefällt“ von Ulrich Raulff: Schaut doch gut aus
Hässlichkeit gehört zur Grundausstattung der Welt. Mit einigermaßen sensiblem Blick wird man sie ständig und überall entdecken. Sie dominieret Fassaden, Interieur und Akustik, Optik und Seelen. Hässlichkeit ist eine Alltagserfahrung der menschlichen Spezies (wobei man sie kaum je bei sich selbst vermuten würde, schließlich ist der eigene Schönheitssinn meist über alle Zweifel erhaben). Also schwingt der moderne Mensch ein magisches Schwert, das vor all den ästhetischen Zumutungen bewahren und ihnen etwas entgegensetzen soll. Es heißt Geschmack.
Was das genau ist, wie er entsteht, warum manche ihn haben und manche nicht, wie man ihn bekommt, sich mit ihm abgrenzt oder andere um sich schart, warum er sich ändert oder auch nicht: All das ist sehr rätselhaft. Philosophen und Designer haben sich darüber den Kopf zerbrochen, ästhetische Theorien erdacht oder praktische Regeln dekretiert, ohne zu einem systematischen Schluss zu kommen. Klar ist nur, dass Geschmack extrem mächtig sein kann und zugleich äußerst diffus – und oft verdammt anstrengend. Aber Hoffnung naht, ausgerechnet ein Historiker will es uns jetzt leichter machen. Ulrich Raulff hat sich auf die Spur des Rätsels begeben, sein Buch Wie es euch gefällt mit dem Untertitel Eine Geschichte des Geschmacks ist fraglos eines der wichtigsten deutschen Sachbücher der vergangenen Jahre. Denn so etwas gab es schlicht noch nicht. Und dazu etwas Neues ausgerechnet hierzulande? Geschmack ist ja traditionell nicht unbedingt deutsches Terrain.
Die Form ist bei diesem Buch entscheidend: Raulffs Geschichte birst vor Details und Gelehrsamkeit, ist aber dennoch ein eleganter 420-Seiten-Essay, in dem er seinen Stoff in dreister Subjektivität virtuos arrangiert und durchaus kokett zelebriert. Das Korsett einer strengen Systematik verweigert der Autor ausdrücklich, er tänzelt um sie herum: Geschmack ist ihm zufolge eine „soft power“, die hilfreich, aber nicht unabdingbar sei, dennoch offenbar extrem erstrebenswert.
„Es ist schwer zu sagen, was er ist“, schreibt Raulff, „ja, ob es ihn überhaupt gibt, aber es lässt sich zeigen, was er bewirkt.“ Stattdessen sprechen also in diesem Buch die Dinge und Szenen selbst. So wie im ersten, ikonischen Bild, das Raulff aufruft: Audrey Hepburn in der Rolle der Holly Golightly im Film Frühstück bei Tiffany, frühmorgens in der New Yorker Fifth Avenue Anfang der Sechzigerjahre, im kleinen Schwarzen des Designers Hubert de Givenchy, die Diamanten in den Schaufenstern des Luxus betrachtend, mit Kaffee und Gebäck. Trost und Sehnsucht werden sichtbar, Macht und Geist der Form – eine legendäre Urszene für wirkungsvollen Geschmackszauber, der auf die Betrachter überspringt.
Es sind schließlich die schönen, coolen Jahre vor 1968, noch schien man Moral durch Ästhetik ersetzen zu können, wie Raulff schreibt, was die Achtundsechziger dann abgeräumt hätten. Sein Konstellationsbewusstsein lässt ihn sogleich hinüber nach Europa springen, es wird in diesem Buch überhaupt gerne gesprungen, bis einem angenehm schwindelig wird. Es geht vom Hudson zum Neckar, wo damals in Heidelberg der Philosoph Hans-Georg Gadamer in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode über den Geschmack grübelt, der „eher so etwas wie ein Sinn“ sei und im glücklichsten Fall „Sicherheit vor dem Geschmacklosen“ biete. Immerhin.
Raulff unternimmt einen Streifzug in 24 Kapiteln durch die Kontinente und Jahrhunderte, mit einer Fülle an Quellen und prominentem Personal an tastemakern, Geschmackserzeugern, die Epochen geprägt haben, darunter Madame de Pompadour, die Rokoko-Influencerin, und Vivienne Westwood, Josiah Wedgwood und Steve Jobs, viele Bekannte und Unbekannte. Geschmack braucht dabei den Resonanzraum der bürgerlichen Gesellschaft, denn erst hier kann sich seine Paradoxie austoben: einerseits originell sein zu wollen, andererseits dank des Marktes genügend Herdentiere zu finden, die hinterhertraben. Die Renaissance um 1500 beschränkte Geschmacksfragen noch auf wenige superreiche Eliten.
Das ändert sich im 18. Jahrhundert allmählich. Denn es tauchten Leser, Reisende und Käufer auf, genügend „Schwarmsensibilitäten“ (Raulff) – und ausgerechnet ein Deutscher, gebürtig aus Stendal, stand am Anfang des modernen Geschmacksdiskurses (ansonsten kommen als Deutsche in Raulffs Erzählung neben den üblichen Philosophenköpfen nur der Designer Dieter Rams und die Bauhäusler kurz vor). Der Archäologe und Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann dekretierte 1755 in einem berühmten Paradox die Nachahmung der antiken Kunst zum einzigen Weg, „unnachahmlich zu werden“.