Wehrbeauftragte Högl: Noch kein Cent des Sondervermögens bei Soldaten angekommen

Die Bundeswehr ist nach Auffassung der Wehrbeauftragten Eva Högl (SPD) noch weit von der geforderten Einsatzbereitschaft entfernt. Von den 100 Milliarden Euro für die Ertüchtigung der Truppe sei bislang „noch kein Cent angekommen“, so ihre Bilanz. Högl listete am Dienstag in ihrem Jahresbericht zahlreiche grundlegende und gravierende Mängel auf, die weiter verhindern, dass die Truppe in näherer Zukunft die Fähigkeit erwirbt, ausreichend ausgestattet, durchsetzungsstark und mit reichlich Reserven an Personal und Material in einen größeren militärischen Konflikt ziehen zu können.

Um das zu ändern, bedürfe es nach ihrer Auffassung weitreichender Reformen im Beschaffungswesen, eines starken Bürokratieabbaus und einer Investitionssumme von etwa 300 Milliarden Euro. Der Etat müsse sich „stetig und in deutlichen Schritten“ hin zum Zwei-Prozent-Ziel der NATO bewegen, sagte Högl, die im Auftrag des Bundestags die Streitkräfte als unabhängige Ombudsfrau begleitet.

Neben den bekannten Defiziten beim Material und der Beschaffungsbürokratie beschreibt ihr Bericht einen akuten Personalnotstand. Demzufolge gelingt es der Bundeswehr nicht, das geforderte Personal anzuwerben. Von den geplanten 203.000 militärischen Dienstposten seien derzeit mehr als 18.000 Stellen oberhalb der Mannschaftsdienstgrade unbesetzt. Das entspricht 15,8 Prozent. In manchen Bereichen, etwa bei IT und Cyber, ist jede fünfte Stelle vakant.

Sexuelle Übergriffe steigen an

Zugleich ist die Zahl der Bewerber nach Auskunft von Högl im vergangenen Jahr um mehr als zehn Prozent zurückgegangen. Und wer dann doch kommt, bleibt oft nicht: Beim Heer bricht jeder dritte Soldat die Ausbildung innerhalb der ersten Monate ab. Herausragend unattraktiv ist die Bundeswehr nach wie vor für Frauen. Högl schreibt, dass ihr Anteil am Personal außerhalb des Sanitätsdiensts bei 9,5 Prozent liege. Und selbst wenn man diesen Frauen seit jeher offenen Bereich mitrechne, kommen man nur auf 13,2 Prozent.

Gestiegen ist Högls Bericht zufolge hingegen die Zahl der gemeldeten sexuellen Übergriffe gegen Frauen in der Bundeswehr, mehr als 350 galten als „meldepflichtige Ereignisse“ mit Verdacht auf Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. In den allermeisten Fällen, achtzig Prozent, waren Frauen betroffen. Högl geht von einer hohen Dunkelziffer aus.

„Insgesamt positiv“ bewertet sie das Vorgehen der Bundeswehr gegen Rechtsextreme in den eigenen Reihen; die Zahl der Fälle ist nicht gestiegen. Zu den häufigsten Delikten gehört das Zeigen des „Hitler-Grußes“ und antisemitische Äußerungen.

Beschaffungswesen weiter „behäbig“

Was die Bemühungen angeht, die Bundeswehr rasch zu reformieren und durch massive Investitionen aus einem 100-Milliarden-Sonderetat die bestehenden Mängel auszugleichen, schreibt Högl in ihrem Bericht: „Bei unseren Soldatinnen und Soldaten ist 2022 noch kein Cent aus dem Sondervermögen angekommen.“ Das Beschaffungswesen, Gegenstand jahrelanger Kritik durch sie und zahlreiche Vorgänger, bezeichnet Högl als weiterhin „behäbig“.

Der russische Angriff auf die Ukraine bedeute eine „Zeitenwende“, so ein Begriff von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Doch Högls Fazit nach einem Jahr: „Getan hat sich seitdem und trotzdem erschreckend wenig.“

Die Wehrbeauftragte legt dem Parlament in jedem Jahr einen Tätigkeitsbericht vor. Die frühere SPD-Politikerin hatte zuvor mehr als siebzig Standorte der Bundeswehr besucht. Ihr Bericht beinhaltet neben grundsätzlichen Bemerkungen eine Vielzahl von Einzelbeispielen, an denen sie erläutert, was Männer und Frauen in den Streitkräften ihr berichten. Darunter sind auch einige Verbesserungen der Ausstattung, etwa beim Schuhwerk. Generell aber regiert der Mangel.

Kasernen in „jämmerlichem Zustand“

Einige Beispiel erläutern die groteske Dauer von Beschaffungsvorgängen. So wird seit neun Jahren ein marktgängiger, von den amerikanischen Streitkräften seit 30 Jahren genutzter Fliegerhelm von der deutschen Beschaffungsbürokratie geprüft und einer „luftfahrtrechtlichen Musterzulassung“ näher gebracht. Mit der Einführung des Helms werde nun Ende 2023 gerechnet.

Ähnlich lange dauert es bei vielen Projekten, egal ob groß oder klein. Die Aufforderungen, daran endlich etwas zu ändern, durchziehen auch den diesjährigen Bericht wie ein roter Faden. Auch die Kasernen seien vielfach in einem „jämmerlichen Zustand“. Dabei gehe es nicht um Luxus, sondern um funktionierende Toiletten, saubere Duschen und funktionstüchtiges WLAN.

Zu Baumängeln berichtet Högl etwa, dass die beiden Artilleriekasernen in Idar-Oberstein seit den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhundert nie saniert wurden, undichte Fenster, Rohrbrüche, Dachschäden, gesperrte Sanitäranlagen bestimmten dort das Bild. Nach derzeitigem Planungsstand, so wurde Högl „mit restloser Resignation“ berichtet, werde die Anlage 2042 saniert sein – „im Idealfall“, wie es hieß. Ähnliche Berichte bekam Högl in Husum, Havelberg und an vielen anderen Orten zu hören.

In Eckernförde warten die Kampfschwimmer seit zwölf Jahren auf das Ende der Sanierung einer Schwimmhalle. Insgesamt schätzt Högl alleine den Nachholbedarf bei den militärischen Liegenschaften auf 50 Milliarden Euro. Doch mit Geld alleine sei es ebenso wie bei Panzern und Munition nicht getan. Die unterbesetzten Bauverwaltungen der Länder würden bei heutigem Arbeitstempo rund 50 Jahre brauchen, „bis alleine nur die jetzige Infrastruktur für die Bundeswehr komplett saniert wäre“.

Zusammenfassend lobte der Bericht der Wehrbeauftragten vor allem den ungeheuren persönlichen Einsatz vieler Soldaten, ohne den der Betrieb längst nicht mehr aufrecht zu erhalten wäre. Angesicht der Lage sei die „hohe Motivation, Einsatzbereitschaft und Leistungsfähigkeit unserer Soldatinnen und Soldaten nicht selbstverständlich sondern bemerkenswert“. Dafür, so Högl in ihrem Bericht, „verdienen sie unsere Anerkennung, Respekt und Wertschätzung. In diesen Zeiten mehr denn je.“

Source: faz.net