Was wir dieser Guillotine verdanken

Sie ist eine Hinrichtungsmaschine. Aber sie veränderte auch das Denken. In seinem neuen Buch zeigt der Philosoph László Földényi, wie die Idee des scharfen Schnitts die Moderne geprägt hat – von der Fotografie bis zum Städtebau.
Die Todesmaschine, die am 25. April 1792 auf der Pariser Place de Grève in Betrieb genommen wurde, stand ganz im Zeichen des neuen Ideals der Gleichheit. Der Straßenräuber Nicolas Pelletier, der an jenem Tag als erster Mensch durch die Guillotine hingerichtet wurde, stammte aus einfachen Verhältnissen. Im Ancien Régime wäre er erhängt, vielleicht auch gerädert worden. Die Enthauptung durch das Schwert oder das Beil war ein Privileg der höheren Stände.
Doch nun starb Pelletier auf dieselbe Weise wie später der zum „Bürger Capet“ degradierte Ludwig XVI., dessen gekröntes Haupt am 21. Januar 1793 über das Schafott rollte. Mit frühindustrialisierter Regelmäßigkeit kam die Guillotine ab 1792, vor allem aber während der jakobinischen Schreckensherrschaft von Juni 1793 bis Juli 1794 zum Einsatz. Allein in diesem Zeitraum wurden in Frankreich fast 17.000 Menschen wegen vermeintlicher und tatsächlicher konterrevolutionärer Umtriebe hingerichtet.
Die ausgeschnittene Wirklichkeit
Allerdings erwies sich das berüchtigte Fallbeil nicht nur als hocheffizient, wenn es darum ging, massenhaft Köpfe von Körpern zu trennen. Die Guillotine führte auch in den Köpfen der Lebenden einen einschneidenden und nachhaltigen Wandel herbei. Mit unwiderstehlicher Eigenwilligkeit wird dieser Gedanke von dem ungarischen Kulturtheoretiker László Földényi entfaltet. „Der lange Schatten der Guillotine“, so lautet der Titel des Essays, der sich als mentalitäts-, kultur- und architekturgeschichtliche Skizze über das Paris des langen 19. Jahrhunderts ebenso gewinnbringend liest wie als Beitrag zur Genese des modernen Bewusstseins.
Folgt man den interdisziplinär verzweigten Ausführungen, verwandelte sich der simple Mechanismus der Guillotine ab 1800 zum prägenden Gestaltungs- und Wahrnehmungsprinzip: Mit einem Mal gab es überall scharfe Schnitte, Abspaltungen, Fragmente, Bizarrerien. Das galt laut Földenyi sowohl für die Literatur (Baudelaire, Rimbaud, Lautréamont, Jarry) und Malerei (Degas, Géricault, Caillebotte) als auch für die Fotografie, die einen einzigen Augenblick rabiat aus der Wirklichkeit herausschnitt. Nicht von ungefähr hieß die Verschlussvorrichtung der frühen Fotoapparate „Guillotine“. Offenkundig folgten die mit Werbeanzeigen, Kurzmeldungen und Fortsetzungsromanen gepflasterten Seiten der Tageszeitungen ebenfalls der neuen Leitidee des Zerstückelten und Rumpfhaften.
Auch Földényi zeigt sich dieser Maxime verpflichtet. Seine Darstellung ist von programmatischer Unsystematik geprägt, von der „unkonzentrierten Aufmerksamkeit“, mit der einst die archetypischen Flaneure durch Paris schlenderten. Sprunghafte Assoziationen wechseln sich mit meditativ-analytischen Bildbetrachtungen und subtilen Deutungen literarischer Werke ab. Dazwischen werden Anekdoten eingestreut. Etwa die von Goethe, der 1793 seiner Mutter schrieb, sie möge ihrem Enkel, dem kleinen August, zu Weihnachten doch bitte eine Miniaturguillotine schenken. Oma Goethe kam diesem Wunsch nicht nach. Diese barbarische Spielzeugmode wollte sie nicht unterstützen. Damals kursierten auch Berichte über Katzen, die unter kindgerechten Guillotinen verendet waren.
Als regelrechte Hinrichtung des alten Paris schildert Földényi die epochalen Umbaumaßnahmen durch Baron Haussmann. Ein stadtplanerischer Gewaltakt, wie ihn die Neuzeit noch nicht gesehen hatte. Ganze Viertel wurden dem Erdboden gleichgemacht, um in moderner Gestalt wieder aufzuerstehen. Wo sich einst in engen Gassenlabyrinthen schiefe mittelalterlicher Häuser aneinander drängten, verliefen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts pfeilgerade, breite Boulevards als ordnungsstiftende, herrschaftsstützende Sichtachsen durch Paris.
Eindrücklich führt Földényi dem Leser das spannungsgeladene Verhältnis von Neuanfang und Tradition, von Konvention und Tabubruch vor Augen. Demnach war es gerade die von Haussmann und dessen Auftraggeber Napoleon III. verschuldete urbane Monotonie, durch welche die Subversionslust der Bohème erneut befeuert wurde. Um 1880 fanden sich in einem Café am Fuß des Montmartre ein paar heute fast vollständig vergessene Schriftsteller und Künstler zusammen und erfanden den „Fumisme“: die ultimative Form des Spotts, dem gar nichts heilig war. Selbst der Spott wurde von den Fumisten verspottet. Unaufdringlich verdeutlicht Földényi den enormen Einfluss, den diese Gruppe auf den Surrealismus, den Dadaismus, den Kubismus und andere prominente Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts ausübte.
Der Begriff „Dada“ stammt ursprünglich von Baudelaire, der bei Földényi in erster Linie als früher Kronzeuge des Fortschrittsskeptizismus auftritt. So stand für den Verfasser von „Les Fleurs du Mal“ bereits um 1850 fest, dass die moderne Kultur den Keim ihrer Vernichtung in sich trägt und sich fortlaufend selbst unterminiert. Der Gedanke an „Disruption“ liegt in der sogenannten Spätmoderne wieder im diskursiven Trend. Nur kommt er heute selten so abgeklärt charmant und originell verpackt wie bei Földényi daher.
László F. Földényi: Der lange Schatten der Guillotine. Lebensbilder aus dem Paris des neunzehnten Jahrhunderts. Aus dem Ungarischen von Akos Doma. Matthes & Seitz, 302 Seiten, 28 Euro
Source: welt.de