Was Klee und Picasso von der Urgeschichte lernten: Über die Grenzen von Raum und Zeit
Für den Beginn der Moderne in der Kunst kommen drei Gründungsdaten in Frage, die sich wundersamerweise nicht ins Gehege kommen: 1907, 1937 oder um 37.000 vor Christus. Alle drei aber gehen von der Kunst der Urzeit aus. Bei Picassos im Jahr 1907 vollendeten und ausgestellten „Demoiselles d’Avignon“ mit ihren wie geschnitzten Gesichtslarven und in Linien aufgelösten Körpern war immer bekannt, dass sie ihren Ursprung in vom Maler begeistert gesammelten afrikanischen Masken hatten, die ihre Vorläufer wiederum in steinzeitalten Stilisierungen des menschlichen Gesichts und Körpers haben.
Der Direktor jenes Museum of Modern Art in New York, in dem Picassos Urzeit-„Demoiselles“ heute hängen, der legendäre Alfred Barr, musste dann 1937 in seiner epochalen Ausstellung „Prehistoric Rock Pictures in Europe and Africa“ „nur noch“ die letzten dreißig Jahre Kunstproduktion mit jener der vergangenen dreißigtausend zusammenbringen: Er stellte die vorzeitlichen Bilder vor allem des afrikanischen Kontinents und Europas neben die Gemälde moderner und surrealistischer Künstler, und siehe da – die vermeintliche Nullsetzung der Moderne durch Befreiung von jeglicher Tradition war gar keine – vielmehr erschien das Zurück zu den Ursprüngen menschlichen Kunstschaffens als massive Rückbesinnung auf die Bildwelten der Altvorderen zehntausende Jahre vor der Zeitrechnung.
Der Big Bang der modernen Kunst fand vor 40.000 Jahren statt
All diese drei Gründungslegenden werden nun im Hessischen Landesmuseum Darmstadt präsentiert. Die Universalsammlung von der Vorvergangenheit bis zum sogenannten Beuys-Block übertreibt daher nicht, wenn sie ihre große Ausstellung mit 43 Meisterwerken der Moderne von Paul Klee über Jean Arp und von Pablo Picasso bis Willi Baumeister mit der astronomisch gedehnten Hyper-Chronologie „Urknall der Kunst“ betitelt, denn tatsächlich stammt die moderne Malerei zu wesentlichen Teilen aus diesem.Wobei das verblüffende ist, dass selbst die ältesten bislang gefundenen Artefakte wie der aus Elfenbein geschnitzte Löwenmensch aus der Weltkulturerbe-Höhle Hohle Fels auf der Schwäbischen Alb wie auch das handtellergroße Mammut aus der dortigen Vogelherdhöhle mit in den Körper eingravierter Binnenzeichnung und subtil angedeuteter Bewegung derart kunstvoll sind, dass sie eigentlich ihrerseits chronologisch Vorgänger haben müssten, auf denen sie aufbauen.
Wie aber kamen die Künstler der MoMA-Ausstellung 1937 an diese Vorbilder, wenn sie sich nicht wie Picasso mit afrikanischen Masken von Flohmärkten oder dunklen Quellen eindeckten? Es ist der Verdienst vor allem der frühgeschichtlich interessierten Ethnologen und Kulturwissenschaftler wie Aby Warburg zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, die konzertiert die Malereien der immer zahlreicher gefundenen Urzeithöhlen weltweit untersuchten und publizierten. Herausragend war hier der Berliner Völkerkundler Leo Frobenius. In bald dreißig Expeditionen erforschte er von 1905 bis 1935 mit seinen je unterschiedlich zusammengesetzten Künstler-Teams die Höhlenmalereien Europas (vor allem Skandinavien und die Petroglyphen des lombardischen Valcamonica), Afrikas (sein in der Frühzeit noch fruchtbarer Norden, aber auch Sudan und Kongo) und Asiens (dort vor allem Papua in Indonesien), wo auf teils abenteuerlichen, bis zu fünf Meter hohen Bambusgerüsten auf Augenhöhe mit den Felszeichnungen über achttausend gemalte Nachschöpfungen dieser überraschend vielgestaltigen Bilderwelten angefertigt wurden.
Der vorsichtigere Begriff „Nachschöpfung“ anstelle von Kopien empfiehlt sich schon deshalb, weil es sich um zwar sorgfältig vor den Originalen erstellte Bilder nach Bildern handelt, die Entstehungsumstände und Materialitäten jedoch grundverschieden waren: unter anderen Lichtverhältnissen und nicht mit den einst verwendeten lokalen Erdpigmenten, sondern mit künstlich erzeugten Pelikanfarben aufgenommen, mussten etwa die in die Höhlenwände eingetieften Ritzungen auf Papier dreidimensional oder mit Frottagetechnik umgesetzt werden. Zu der auf höchstem Niveau in Dschungel und Wüstenhitze arbeitenden Riege des Ethnologen gehörten auch früh schon viele Künstlerinnen, die der gewiefte ehemalige Kaufmann Frobenius schliemannhaft unter den Töchtern aus wohlhabenden Familien rekrutierte, damit sie ihre Reisekosten und einen Teil der Exkursionsaufwendungen tragen konnten.
Immer verbunden waren die Urbilder auf Papier mit vor Ort gefundenen Artefakten wie Tongefäßen oder Werkzeugen. Diese umfangreiche Sammlung von Frobenius‘ „Institut für Kulturmorphologie“ erwarb die Stadt Frankfurt 1925, worauf er dorthin umsiedelte. 1934 wurde Frobenius, der auch an der Frankfurter Universität lehrte, zum Direktor des dortigen Museums für Völkerkunde ernannt, die Forschungseinrichtung heißt heute ihrem Gründer zu Ehren „Frobenius-Institut“.
Glücklicherweise ließ er sich nicht mit dem Nationalsozialismus ein, im Gegenteil rühmte ihn der Begründer der Négritude Léopold Senghor, er habe „Afrika seine Würde und seine Identität wiedergegeben“. Im Zweiten Weltkrieg konnten die Tausenden von dokumentierten Urgeschichtsbildern rechtzeitig ausgelagert werden, die Artefakte-Sammlung des Instituts aber wurden Opfer eines Bombentreffers, sodass sie mit den Gebäudetrümmern teils ins durch die Bomben aufgepflügte Erdreich gelangten. Aus diesem Grund finden Bauarbeiter in Gruben um das ehemalige Institutsgelände herum heute noch bisweilen uralte Objekte etwa aus Afrika unter dem Frankfurter Straßenpflaster.
All diese Forschungen und Zeichnungen der Urbilder veröffentlichte Frobenius in Kunstzeitschriften, wiederholt lud er aber auch Künstler wie Picasso und Miró zu Ausstellungen der „neuesten“ Felsbilder ein, die sein Frankfurter „Institut für Kulturmorphologie“ seit Anfang der Dreißigerjahre fleißig präsentierte.
Auch Paul Klee fieberte stets Frobenius’ neuen Bildern aus dem Altertum entgegen, wie eine Gegenüberstellung in Darmstadt augenfällig macht: die Reptilien seines Bildes „Zweierlei Schildkrot“ ähneln verblüffend zwei behäbigen und in die Fläche projizierten Steinzeit-Schildkröten aus Simbabwe der Zeit mindestens von 2.000 vor Christus. Wie bei seinem „Vorbild“ füllt auch Klee den Körper eines der Tiere mit braunroter Farbe aus. Er nutzt dafür wie so oft Kleisterfarbe, die besonders spröde und archaisch wirkt. Schon im Blauen Reiter in München, dem er sich sehr verbunden fühlte, war er damit nicht allein – der Kollege Franz Marc stapelt in seinem Turm der blauen Pferde ebenso Urzeitvierbeiner übereinander wie Wassily Kandinsky durch die lineare Zerlegung markanter Landschaftsmerkmale und Figuration zur Abstraktion kam. Erst recht eine Rolle spielt das zurück zu den Ursprüngen bei den Südseereisen von Künstlern, die auf der Suche nach der verlorenen Unschuld in diesen vermeintlich noch unberührten Urzeitparadiesen waren – auf deutscher Seite steht hierfür Emil Nolde, dessen Expressionismus ohne die Vorvergangenheit gar nicht denkbar wäre, auf französischer ragt Paul Gauguin heraus.
Der Surrealismus ist wie Steinzeitmalerei – figurativ und abstrakt zugleich
Vielleicht weil die Manieriertheit des Symbolismus in Frankreich und die Endzeitstimmung des dortigen Fin-de-siècle in besonders hohen Amplituden ausgeschlagen hatten, gingen die Künstler in Paris weiter zurück in die Vergangenheit als andernorts. Von Picasso sind im Hessischen Landesmuseum zwar nicht die „Demoiselles“ zu sehen, seine Serie von zwölf Stierzeichnungen in Leuchtkästen, die abwechselnd das sukzessive Entfleischen der Tierleiber und die schrittweise Reduktion auf nur noch die allernötigsten Konturlinien herausleuchten, entschädigen dafür reich. Erinnern konnte sich Picasso an die Wisentbilder der kantabrischen Höhle von Altamira aus seiner Jugend in Spanien, genauso gut konnte er sich allerdings auch das von der Künstlerin Katharina Marth aus der Frobeniusgruppe verewigte weibliche Wisent vor Augen führen. Das mächtige, im Profil stehende Tier mit seinen imposanten Hörnern nutzt – noch auf der Umzeichnung klar erkennbar – äußerst geschickt und anatomieerfahren die Ausbuchtungen der Höhlenwand, um die Schultern und Lendenpartien noch plastischer hervortreten zu lassen, gleichzeitig reduziert der Steinzeitkünstler die gesamte Flanke und den Hinterlauf auf nur drei Linien.
Schon der Bildhauer Ewald Mataré lernte in den Zwanzigern viel von dieser subtilen Balance aus Abstraktion und Plastizität in ein- und derselben Figur, erst recht dann sein Schüler Joseph Beuys, der sich selbst einen „wiedergeborenen Höhlenzeichner“ nannte und in Darmstadt mit traumschönen Zeichnungen zu sehen ist, so etwa dem „Hirsch“ von 1956, dessen direkte Ahnen in den Nachzeichnungen von Urzeithirschen aus Norwegen daneben stehen. Doch auch in den sechs Bänden von Beuys‘ „Ulysses“ und ihren vielen Vorarbeiten im Beys-Block des Hessischen Landesmuseums lassen sich die Einflüsse vorgeschichtlicher Kunst deutlich erkennen.
Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Begeisterung für die Urknall-Kunst im Surrealismus und nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. In der Anfangszeit trieb die neue Bewegung wohl die verborgene Welt der Höhlen tief im Inneren der Erde um, die metaphorisch mit dem Verdrängten und Unbewussten im Menschen gleichgesetzt werden konnte; nach dem verheerenden Krieg bestach zusätzlich die Utopie der mutmaßlichen Unschuld einer Gesellschaft von Höhlenmalern im vorpolitischen Urzustand, bei der Männer und Frauen kollektiv malten. Stilistisch ideal war die Urmalerei für die Surrealisten, weil sie wie diese nie auf die Figur verzichtete, im Inhalt (Mischwesen aus Menschenleib mit Tierköpfen und Metamorphosen, Traumzeit, Kultisch-Okkultes) jedoch stets abstrakt blieb. Nicht wenige von Yves Tanguys unergründlichen Mischwesen in undefinierten Schwebezuständen gehen auf Steinzeitmalereien zurück.
Bei Joan Mirós Krakelmännchen und stilisierten Sonnensymbolen sahen bereits die frühesten Kunstkritiker die Abkunft aus dem Treibgut der Urzeit, was freilich nicht immer wohlwollend gemeint war. Und André Masson ließ in seinem Gemälde „Le sang des oiseaux“ von 1956 vogelartige Wesen in Rot auf einem höhlenartigen Untergrund in einer Art Dripping auslaufen, um den sowohl zeichenhaften als auch gestisch bewegten Charakter der Felszeichnungen einzufangen.
Eines der komplexesten Felsbilder in Darmstadt ist jenes in vielen Schichten über Jahrtausende wie ein Palimpsest aufgebautes der Rucherahöhle in Simbabwe, 1929 in Aquarellfarben auf einer meterlangen Papierbahn gemalt. Zuunterst liegt ein Zug dreier mächtiger weiser Elefanten. Darüber liegt ein Wimmelbild aus Jägern, Menschen mit ornamental auslaufenden Penissen, zickzackförmigen Wegen und einem Flusslauf, der sich im Zentrum durch die Landschaft schlängelt und in einem Delta ausläuft. Die zeitlich jüngste Schicht bilden Weißhöhungen und florale Motive wie orchideenhafte Pflanzen und Palmen, sie ist viertausend Jahre alt. Genauso gut könnte das Bild aber auch von Willi Baumeister aus den Fünfzigerjahren stammen.
Wo mancher Maler sich nur motivisch inspirieren ließ, versuchten andere, ihre Bilder auch stilistisch und inhaltlich den versunkenen Welten anzugleichen. Allen Künstlern dieses „Zurück zum Ursprung“ aber war gemein, dem völkerverbindenden anthropologischen Kern aller Kunst so nahe wie möglich zu kommen. Denkt man an die teils in Steinzeitmanier mit Händen gemalten „Graffiti“ eines Louis Soutter, Harald Naegeli oder Keith Haring, wird beim Wiedereintritt in den Stadtraum die anhaltende Faszination für diese äußerste Reduktion umso klarer.
Urknall der Kunst. Moderne trifft Vorzeit. Hessisches Landesmuseum Darmstadt; bis zum 25. Juni. Der Katalog kostet 35 Euro.
Source: faz.net