Warum das Einhalten der deutschen Klimaziele kein Erfolg ist

Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland 746 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente freigesetzt – durch Fabriken, Autos, Tierhaltung oder die Stromproduktion. Gegenüber dem Vorjahr ist der Ausstoß damit zwar leicht gesunken – um 1,9 Prozent oder gut 15 Millionen Tonnen – und das jährliche Klimaziel wurde formal eingehalten. Doch es gibt eine ganze Reihe von Gründen, warum diese Bilanz in Wirklichkeit kein Erfolg, sondern ein Problem für die Regierung ist:

  1. Bis 2030 – das ist in weniger als acht Jahren – dürfen laut Klimagesetz statt der 746 Millionen Tonnen nur noch 440 Millionen Tonnen ausgestoßen werden. Das sind über 300 Millionen Tonnen weniger als derzeit! Pro Jahr müssten ab jetzt also nicht 15, sondern rund 40 Millionen Tonnen eingespart werden, um das Etappenziel 2030 noch zu schaffen. Das entspricht ungefähr zweimal dem Jahresausstoß des dreckigsten Kohlekraftwerks Deutschlands (Neurath).

  2. Die Ziele wurden 2022 nicht eingehalten, weil die Regierung eine so ambitionierte Klimapolitik gemacht hat. Im Gegenteil wurden aufgrund der Energiekrise zahlreiche Kohlekraftwerke hochgefahren. Richtig ist, dass die Klimaziele trotz der Kohlekraftwerke und den bisher eher laschen Klimavorhaben erreicht wurden. Das lag wiederum an günstigen Umständen: An vorteilhaften Wetterbedingungen durch den warmen Winter 2021/2022, an hohen Gas- und Strompreisen, durch die ebenfalls Energie gespart wurde, an überdurchschnittlich guten Windbedingungen, die zu einem hohen Anteil der Erneuerbaren im Strommix geführt haben. Und am EU-Emissionshandel, dessen Preis pro Tonne CO₂-Zertifikat im Jahr 2022 bei durchschnittlich 80 Euro lag. Alles also Umstände, für die die Politik wirklich gar nichts kann.

  3. In zwei Bereichen, dem Verkehr und Gebäuden, wurden die jährlichen Ziele dann auch gerissen. Das ist deshalb so gravierend, weil es wiederholt passiert. Hier zeigen die Zahlen vielleicht sogar am deutlichsten die Schwäche der Regierung: Während in der Energiewirtschaft günstige Wetterbedingungen für Erneuerbare und in der Industrie hohe Energiekosten und Produktionsausfälle die Emissionsbilanzen drückten, funktioniert das bei Verkehr und Gebäuden nicht. Ohne regulierende Maßnahmen wie einem Tempolimit, dem massiven Ausbau der Schiene, einem Verbot von fossilen Heizungen oder dem deutlichen Aufstocken von Sanierungsprogrammen, wird es schlicht keinen Umbau geben.


Der größte Teil der Transformation steht Deutschland noch bevor

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Foto: Oliver Berg / dpa

Ergo: Ändert sich nichts am Engagement der zuständigen Minister, wird die Lücke bei den Klimazielen in diesen Sektoren immer größer werden. Bei Verkehr und Gebäuden müssen jetzt die Weichen gestellt werden. Jedes Haus, das jetzt mit einer Gas- oder sogar Ölheizung ausgestattet wird, heizt noch 30 Jahre mit fossilen Rohstoffen. Jede neue Autobahn zementiert den Individualverkehr für Jahrzehnte.

Und nicht jedes Jahr hat die Regierung so ein Glück mit den Bilanzen: Wenn es in einem Jahr mal richtig kalt wird, die fossilen Energiepreise wieder sinken und die Industrie wieder hochfährt, haben wir bald einen enormen »overshoot«, wie die Klimaforscher das Überschreiten der Ziele auch nennen.

Bei Energie und Industrie gibt es immerhin die Hoffnung, dass der EU-Emissionshandel weiterhin Wirkung zeigt und etwa Kohlekraftwerke bald schlicht nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Allerdings ist die Sache in der Industrie etwas schwieriger als im Energiesektor: Der Ausfall bei der Produktion kann auf Dauer keine Lösung zur Rettung der Klimaziele sein. Fabriken müssen dringend auf einen klimaneutralen Betrieb umgestellt und billige, CO₂-intensive Konkurrenz verteuert werden.

Angesichts dieser Herausforderungen sind minus 15 Millionen Tonnen Einsparung durch begünstigende Umstände wirklich lächerlich.


Überschwemmungen im Ahrtal: Noch können wir zwischen »bestcase« und »worstcase« wählen

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Foto: Boris Roessler / dpa

Das denken sich vielleicht auch die Autoren des Weltklimaberichts, die gerade im Schweizerischen Interlaken zusammensitzen. Sie haben den Überblick über den Stand beim Klimaschutz. Ihre Szenarien zeigen nicht nur, wie dringend dieser ist. Sie demonstrieren auch, dass die Welt sich noch zwischen dem »bestcase« und dem »worstcase« entscheiden kann. Sie kann auch zwischen teurem und günstigem Klimaschutz wählen. Nur schnell muss es gehen.

Am Montag wird der Synthesebericht des Sechsten Sachstandsberichts des Weltklimarats IPCC vorgestellt. Es ist die Zusammenfassung der drei Teilberichte, die in den vergangenen zwei Jahren veröffentlicht wurden – und ein erneutes Signal an die Regierungen, endlich etwas zu tun. Im Sommer kommt der Rat übrigens für die erste Sitzung des 7. Sachstandsberichts zusammen. Daran sollen Forscherinnen und Forscher aus aller Welt die nächsten sechs bis sieben Jahre arbeiten. Der nächste Bericht zum aktuellen Stand der Weltklimaforschung erscheint dann kurz vor der Klimazielmarke 2030. Ende der Zwanzigerjahre kommt es demnach wohl zu einem echten Showdown in der Klimapolitik. Spätestens dann haben die Regierungen keine Wahl mehr.


Blockheizkraftwerk in Frankfurt (Oder)

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Foto: Patrick Pleul / dpa

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Bleiben Sie zuversichtlich,

Ihre Susanne Götze


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