Wahlrechtsreform: Das war unnötig rücksichtslos
Der Bundestag verkleinert sich und beweist, dass er sich selbst reformieren kann. Aber die Ampel hat dabei einen handwerklichen Bock gebaut, der gefährlich ist.
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Wahlrechtsreform
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Das war unnötig rücksichtslos – Seite 1
Mit der heute beschlossenen Reform haben die Regierungsfraktionen das Wahlrecht weiter politisiert. Zwei der vier aktuellen Oppositionsparteien, Linke und CSU, sind durch die Änderungen künftig in ihrer parlamentarischen Existenz bedroht. Die Spielregeln des politischen Wettbewerbs stehen deshalb nun zu Recht im Verdacht, parteipolitisch nicht neutral zu sein.
Es ist Gift für eine Demokratie, wenn sie sich nicht mehr auf unstrittige Regeln einigen kann, wenn aus dem Ringen um inhaltliche Positionen innerhalb der Demokratie eines um die Demokratie selbst wird. Denn dann werden aus Gegnern, die anderer Meinung sein dürfen, Feinde der Demokratie, die unbedingt zu bekämpfen sind. Die Bundestagsdebatte an diesem Freitag, in der sich die Rednerinnen und Redner (von Opposition wie Regierung) ständig gegenseitig Methoden à la Trump oder Orbán vorwarfen, zeigt das bereits. Die Gefahr, dass dieser hässliche, gefährliche Ton zur Regel wird, hat die Ampel nun vergrößert – und zwar, das ist das Ärgerlichste: völlig ohne Not.
Denn wäre die Ampel bei ihrem ursprünglichen Reformvorschlag geblieben, könnte sie sich heute feiern lassen. Sie verkleinert den aufgeblähten Bundestag endlich wirkungsvoll, nachdem unionsgeführte Regierungen daran acht Jahre teils willentlich, teils aus Unvermögen gescheitert waren. SPD, Grüne und FDP widerlegen so den Eindruck, der in dieser Zeit der Reformverweigerung entstanden war: Dass Politiker dann besonders reformunfähig sind, wenn es um sie selbst geht. Es haben auch Abgeordnete für die Reform gestimmt, die dadurch ihr Mandat bei der kommenden Wahl verlieren könnten. Nein, das ist leider nicht selbstverständlich, sondern ein Zeichen für die Integrität der Volksvertreter.
Man muss auch den insbesondere von der CSU idealisierten Direktmandaten nicht nachtrauern. Die Erststimme ist nicht die im Vergleich zur Zweitstimme für die Parteien irgendwie wertvollere “Bürgerstimme”, wie Markus Söder behauptet. Das zeigt sich schon daran, dass seit Gründung der BRD, seit 1949, kein einziges Mal ein parteiunabhängiger Kandidat einen Wahlkreis gewinnen konnte. Studien belegen, dass die meisten Wählerinnen und Wähler nicht mal zwei der Direktkandidaten kennen, die auf ihren Stimmzetteln stehen. Und dass diese Politiker, wenn sie denn gewählt sind, sich im Bundestag gar nicht stärker für regionale Themen engagieren als die von den Parteilisten. Nein, all die Christsozialen in Bayern, und früher all die Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen: Sie wurden und werden nicht als Charakterköpfe für ihre lokale Verwurzelung gewählt, sondern, ganz schnöde und ebenso wie die Listenkandidaten, wegen ihrer Parteizugehörigkeit.
Hier trägt die Reform nur der Realität der Parteiendemokratie Rechnung. Dass CSU-Generalsekretär Martin Huber deshalb von “organisierter Wahlfälschung” wie in einem “Schurkenstaat” spricht – das ist eine völlig überzogene Diffamierung der demokratischen Zustände. Ausgerechnet von der CSU, die jahrelang eine wirkungsvolle Wahlrechtsreform verhindert und sich stattdessen drei Extramandate im Bundestag gesichert hat.
Die Demokratie hat längst ein Repräsentationsdefizit
Ihren Erfolg stellt die Ampel nun infrage, indem sie die Grundmandatsklausel abschafft. Obwohl ihr die drei Verfassungsrechtler, die sie am engsten beraten haben, ausdrücklich davon abgeraten hatten. Sollten CSU und Linke bei der kommenden Wahl knapp unter der Fünfprozenthürde landen, könnten rund 4,5 Millionen Wählerinnen und Wähler zusätzlich im Bundestag nicht mehr vertreten sein. Mit der Wahlbeteiligung und den sonstigen Ergebnissen von 2021 gerechnet hieße das: Die Abgeordneten würden unter 40 Millionen Stimmen vertreten, die Mehrheit der 83 Millionen Menschen im Land (Minderjährige, Ausländer, Nichtwähler und Wählerinnen von Parteien, die unter fünf Prozent bleiben) wäre nicht mehr direkt vertreten. Die deutsche Demokratie hat längst ein Repräsentationsdefizit, die Reform könnte das noch vergrößern.
Der größte Schaden aber ist: Die Reform verliert den Anschein der Unparteilichkeit. Mag sein, dass das Wahlrecht ohne die Grundmandatsklausel schlüssiger ist. Aber eine Wahlrechtsreform ist kein Modellbau, sondern eine Operation am lebenden Körper der Demokratie. Die Opposition hat recht: Eine in ihren Folgen potenziell so dramatische Änderung so eilig durchzuziehen, die allein auf Kosten der politischen Gegner geht, ist “ein Akt der Respektlosigkeit”, wie CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte. Ein gutes Wahlrecht sollte Jahrzehnte halten. Dass die Ampel erst Anfang dieser Woche, wenige Tage vor der Abstimmung, ihren Reformentwurf an so entscheidender Stelle geändert hat, macht es noch schlimmer. Diese Eile hat das Thema nicht verdient. Dass FDP-Fraktionschef Christian Dürr noch am Vorabend der Abstimmung andeutete, man könne über die Details ja noch mal reden, verstärkt den Eindruck der Überstürztheit noch.
Warum tut die Ampel das? Zwei Erklärungen bieten sich an, beide sind wenig schmeichelhaft für die Regierungsfraktionen. Entweder wollten sie wirklich keine Rücksicht mehr nehmen auf die anderen Parteien, speziell auf die CSU, die den Prozess bisher aus plumpen Eigeninteresse verzögert hat. Dann hätten sie sich berauschen lassen von der Macht. Das wäre insbesondere für Grüne und FDP ein Offenbarungseid, die sich seit Langem und mit guten Gründen für die Bedeutung der Opposition im Bundestag starkmachen.
Fehler nicht erkannt
Wahrscheinlicher ist die zweite Erklärung: Teile der Ampel, insbesondere die Liberalen, hatten die falsche Hoffnung, durch die Last-minute-Änderungen noch Abgeordnete der CDU auf ihre Seite zu ziehen. SPD und insbesondere Grüne haben das zähneknirschend mitgetragen, weil auch sie nicht erkannt haben, was die Pläne für die CSU bedeuten können. Noch drei Tage vor der Abstimmung gab es Spitzenpolitiker verschiedener Parteien in Berlin, die die Wirkung noch nicht überblickt hatten. Die überstürzte Abschaffung der Grundmandatsklausel ist ganz einfach schlechtes politisches Handwerk. Regierung und Opposition stehen nun in der Pflicht, eine Lösung zu finden, die die regionale Repräsentation weiter ermöglicht, ob in Bayern oder anderswo, ohne dabei das ansonsten faire neue Wahlrecht wieder zu zerschießen.