Wahlrecht: Wie viel zählt künftig ein Direktmandat?

Die Wahlrechtsreform zielt auf eine Entwertung der Erststimme. So mancher Wahlkreissieger würde nicht im Bundestag landen. Ein Fall für das Bundesverfassungsgericht

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Wahlrecht

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Plenarsaal
Blick in den leeren Plenarsaal im Deutschen Bundestag

Wie viel zählt künftig ein Direktmandat? – Seite 1

Bis Anfang der Woche schien es, als bekomme die Ampel ihre
Wahlrechtsreform geräuschlos und pflegeleicht durch das Parlament. Fast sah es
nach einem Durchmarsch aus, selbst die Kritik der Opposition klang relativ
leise, abgesehen von einigen Ausreißern aus Bayern. Nun aber hat sich die
Regierungskoalition auf den letzten Metern selbst noch eine Sprengfalle in den
Weg gelegt.

Das Wahlrecht ist die innere Mechanik der Demokratie. Es
soll den politischen Willen von Millionen Wählerinnen und Wählern in einem Parlament
verdichten und abbilden. Es ist damit in sich hochpolitisch, aber im Idealfall
funktioniert es farbenblind und neutral, leise schnurrend wie ein Uhrwerk. Je
weniger die Bürgerinnen und Bürger davon mitbekommen, wenn sie zur Urne gehen
und abends die Ergebnisse im Fernsehen sehen, desto besser. Wie wenig
selbstverständlich das allerdings ist, wie viel zwischendurch schiefgehen
kann, das hat die Wahl in Berlin gezeigt. Und wohin die Politisierung von
Wahlrecht und Wahlen im Extremfall führen kann, das führen die USA drastisch
vor.

Deshalb haben die Parteien in der Bundesrepublik immer
darauf geachtet, das Wahlrecht im Konsens weiterzuentwickeln. Diesen Versuch
hat die Ampel nun aufgegeben. Nicht aus Machtgier allerdings, vielmehr weil
jahrelang alle Bemühungen gescheitert waren, einen Kompromiss zu finden, dem
alle Parteien zustimmen könnten.

Der tiefgreifendste Umbau seit Gründung der Republik

Dabei waren sich im Grunde alle einig, was das Problem sei:
das ständige Wachstum des Bundestages. Eigentlich soll die Volksvertretung “nur” 598 Abgeordnete haben, aber dieser Richtwert wurde in den letzten Jahren
kaum mehr erreicht. Nach der Bundestagswahl 2017 zogen 709 Parlamentarier unter
die Glaskuppel des Reichstags, 2021 waren es schon 736 (also 138 über den
Durst). Manche Projektionen sahen sogar ein XXL-Parlament mit tausend
Abgeordneten voraus.

Natürlich kostet das viel Geld, es fördert nicht gerade das
konzentrierte Arbeiten im Plenum und in den Ausschüssen – und es ist politisch
verhetzbar: Schwatzbude! Millionengrab! Selbstbedienungsladen! Deshalb
versprach die Ampel: Wir schrumpfen das Parlament. Zunächst wurde die
Richtgröße 598 in Aussicht gestellt, dann immerhin, nach einer letzten
Überarbeitung, eine Begrenzung auf 630 Abgeordnete. Zum Vergleich: Die vielfach
größere USA kommt mit 435 Abgeordneten im Repräsentantenhaus und 100 Senatoren
und Senatorinnen aus.

Um die Obergrenze von 630 Parlamentariern zu garantieren,
plant die Ampel den tiefgreifendsten Umbau des Wahlrechts seit Gründung der
Republik. Alles, was die Bürgerinnen und Bürger bislang über Erst- und
Zweitstimme verinnerlicht haben, über das Aufsplitten der beiden Stimmen, gilt
nicht mehr. Und erst recht müssen die Feinschmecker umlernen, die sich an
Ausgleichs- und Überhangmandaten erfreut haben, den eigentlichen
Wachstumstreibern des Parlaments.

In Zukunft wird alles entscheidend die Stimme für die Listen
der Parteien sein, die bisherige Zweitstimme, die nun folgerichtig “Hauptstimme” heißen soll. Sie entscheidet darüber, wie stark eine Partei im
Parlament vertreten sein soll, wie viele der 630 Abgeordneten ihr zustehen.

Im Extremfall geht ein Wahlkreissieger leer aus

Technisch gesagt, war das deutsche Wahlrecht bislang eine
nicht ganz ausgegorene Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht. Damit
ist es jetzt vorbei. Künftig wird in Deutschland nach den Prinzipien des
Verhältniswahlrechts gewählt. Nur das leicht Unausgegorene bleibt erhalten.

Neben der Abstimmung über die Listen nämlich soll auch
weiter in den 299 Wahlkreisen gewählt werden, mit einer zweiten Stimme, der
bisherigen Erststimme, die jetzt “Wahlkreisstimme” heißen soll. Gewinnt eine
Kandidatin oder ein Kandidat die relative Mehrheit im Wahlkreis, ist damit aber
noch nicht automatisch der Einzug in den Bundestag garantiert. Die Zahl der
Wahlkreiserfolge muss auch hinterlegt sein durch eine entsprechende Stärke der
Listenergebnisse. Anders gesagt: Eine Partei, die beispielsweise nur fünfzehn
Prozent erzielt, aber alle Wahlkreise in einem Bundesland direkt erobert,
dürfte nicht alle Wahlkreisabgeordneten “behalten”. Noch anders gesagt: Im
Extremfall geht ein Wahlkreissieger leer aus, wenn seine Partei insgesamt im
Land schwächelt.

Verfassungsrechtler, die der Reform kritisch
gegenüberstehen, bemängeln, das sei ein Verstoß gegen die Gleichheit der Wahl,
weil nicht alle Stimmen gleiche Auswirkungen haben. Zugespitzt: Wer für einen
Kandidaten stimmt, der zwar seinen Wahlkreis gewinnt, aber nicht in den
Bundestag kommt, wirft seine Wahlkreisstimme weg. Die Vertreter der Ampel
versichern, das werde, wenn überhaupt, nur sehr selten vorkommen.

Die Ampel will die Grundmandatsklausel abschaffen

Ein Verstoß gegen Grundprinzipien der Wahl aber bleibt halt
ein Verstoß, auch wenn er nicht massenhaft auftritt. Das
Bundesverfassungsgericht kann da sehr pingelig sein. Denn die wichtigste
Aufgabe des Wahlrechts in der Demokratie ist eben nicht, große Parlamente zu
verhindern. Sondern den Willen der Wählerinnen und Wähler möglichst präzise und
fair abzubilden.

Und nun, kurz vor der Verabschiedung des neuen Wahlrechts,
hat die Ampel noch ein vermeintliches Detail geändert, das erhebliche Folgen
haben könnte. Und den Vorwurf in die Welt bringt, die Koalition schaffe ein
Wahlrecht zu ihren eigenen Gunsten.

Bislang gilt, dass eine Partei, die drei Direktmandate
gewinnt, in den Bundestag einzieht, selbst wenn sie insgesamt an der
Fünfprozenthürde scheitert. Diese Ausnahmeregel heißt “Grundmandatsklausel” –
und soll nun nach dem Willen der Ampel abgeschafft werden.

In der Logik des Reformkonzeptes ist das nur konsequent. Der
ganze Entwurf der Ampel zielt ja auf eine Entwertung der Erststimme, also der
Direktwahl in den Wahlkreisen. Oder, wie die Befürworter der Reform sagen
würden: Sie machen Schluss mit der Illusion, die traditionelle Erststimme sei
irgendwie prinzipiell bürgernäher und demokratisch werthaltiger.

Die Ampel könnte profitieren

In einem System aber, in dem der Erfolg im Wahlkreis
zunächst einmal gar nichts zählt, steht die Grundmandatsklausel schräg: Sie
belohnt ja eben genau den direktdemokratischen, lokal fundierten Erfolg eines
Kandidaten, einer Kandidatin. Darauf zu verzichten, ist im Sinne der Reform
fast logisch.

Der Verzicht ist aber tatsächlich auch sehr im Sinne der
Reformer. Denn betrachtet man die Abschaffung nicht bloß abstrakt, sondern
schaut auf die real möglichen Folgen bei der nächsten Bundestagswahl, dann
zeigt sich ziemlich klar, dass die Ampel vom Wegfall der Grundmandatsklausel
mindestens hypothetisch profitieren würde, unter Umständen massiv.

Bislang sind Nutznießer der Vorschrift allein die Linken.
Ihre drei Direktmandate sichern der Partei den Einzug in den Bundestag und den
Fraktionsstatus. In Zukunft könnte allerdings auch eine schwächelnde CSU auf die
Grundmandatsklausel angewiesen sein, dann nämlich, wenn sie umgerechnet aufs
Bundesgebiet unter der Fünfprozenthürde bleiben sollte, in Bayern aber viele
Direktmandate erzielen würde. Es gibt schon Berechnungen, die vorhersagen, dass
aufgrund der neuen Regeln über vierzig Wahlkreissieger der CSU nicht in den
Bundestag kommen könnten – und die CSU insgesamt draußen bliebe. Das wäre
tatsächlich eine massive Verzerrung.

Am Ende wird Karlsruhe das Wahlrecht regeln

Nun kann man natürlich sagen, dass die Linke sich bis zur
nächsten Wahl potenziell ohnehin zerlegen wird. Und die CSU wäre alle Risiken
los, wenn sie gemeinsam mit der CDU in einer Liste antreten würde. Aber all das
ändert nichts daran, dass hier aktuell ein eigennütziger Bias zugunsten der
Ampel angelegt ist. Sogar die Verfassungsrechtler Jelena von Achenbach, Florian
Meinel und Christoph Möllers, die das Konzept der Ampel anfangs maßgeblich
geprägt hatten, schrieben in einer Stellungnahme, die Beibehaltung der
Grundmandatsklausel sei “für die Glaubwürdigkeit des Entwurfs unabdingbar”.

Eine Koalition, die ihre Mehrheit nur sichern könnte, weil
viele Stimmen aufgrund des neuen Wahlrechts wegfielen, wäre demokratisch
deutlich schwächer legitimiert – und politisch anfechtbar, vorsichtig gesagt.
Es wäre das Gegenteil dessen, was ein neutrales und farbenblindes Wahlrecht
erreichen soll.

Die bayerische Landesregierung und die Linksfraktion erwägen
deshalb, wenig überraschend, bereits Verfassungsklagen. Am Ende, soviel ist
sicher, wird Karlsruhe auch das Wahlrecht regeln.