Wahl in der Türkei: Die letzte Hoffnung
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In Tarabya, im Norden von Istanbul, könnte man das ganze Durcheinander der vergangenen Tage fast vergessen. Eine Straße schlängelt sich an der Küste des Bosporus entlang, im Hafen liegen Motorjachten. Von der Terrasse des Grandhotels aus kann man sie sehen. Cengiz Çandar ist zu Fuß gekommen, er wohnt nicht weit von hier – um genau zu sein: Er wohnt jetzt wieder nicht weit von hier. Vor sieben Jahren war er nach Schweden gegangen und aus Angst vor einer Festnahme geblieben.
Çandar ist 75 und führt das, was man wohl ein bewegtes Leben nennt. Er entstammt einer osmanischen Adelsfamilie und war Teil der 68er-Bewegung, nach dem Militärputsch von 1971 musste er das Land verlassen, schloss sich der PLO um Jassir Arafat an, später schrieb er als Kolumnist für verschiedene Zeitungen, auch zu Recep Tayyip Erdoğan hielt er für einige Zeit guten Kontakt. Am Ende überwarfen sie sich, und Çandar wurde mit Klagen überzogen. Seit Kurzem ist er Politiker. Für die Parlamentswahl am 14. Mai, die gleichzeitig mit der Präsidentschaftswahl stattfand, hatte ihn die prokurdische YSP aufgestellt. Er kehrte Anfang April in seine Heimat zurück. „Es gab dieses Gefühl der Hoffnung“, sagt Çandar. Als könne sich etwas drehen in der Türkei. Deswegen sei er das Risiko eingegangen und zurückgekommen.
Nach 20 Jahren schien es, als könnte Erdoğan tatsächlich fallen. Umfragen sahen den Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu bei der Präsidentschaftswahl vorn. Die Stimmung war aufgewühlt wie selten, die Opposition geeint wie nie. Alles schien möglich. Und dann lag Erdoğan im ersten Wahlgang weit vorn. Nach den Wahlen habe er eine „große, große Enttäuschung“ gefühlt, sagt Çandar. Er zog zwar ins Parlament ein, aber in die Stichwahl am Sonntag um das Amt des Präsidenten geht Erdoğan als Favorit. Wo ist die Hoffnung geblieben?
Der Absturz
Am Montagmorgen, eine Woche nach den Wahlen, kommt Soli Özel in ein Café am Taksim-Platz. Er ist 65 und unterrichtet an der Kadir-Has-Universität, auch er war Journalist, ein Chronist türkischer Politik. Özel hat sich kaum hingesetzt, da beginnt er schon zu schimpfen. Seine Wut richtet sich gegen den Kandidaten Kılıçdaroğlu, auch gegen dessen Partei, die CHP. Schon vor Monaten hatte Özel die Kandidatur als „Verantwortungslosigkeit“ bezeichnet, die mit dem „existenziellen Charakter dieser Wahlen“ unvereinbar sei. Jetzt fühlt er sich bestätigt. „Er hat sich uns aufgezwungen“, sagt er. Mit einem anderen Kandidaten, einem der Bürgermeister von Istanbul oder Ankara etwa, hätte die Opposition gewinnen können. „Aber Kılıçdaroğlu wollte unbedingt Präsident werden“, sagt Özel. Die Kampagne sei gut gewesen, das Werben für Zusammenhalt habe auch ihn überzeugt. „Aber es war eine Kampagne für Leute, die ihn sowieso schon wählen.“ Die entscheidenden Wähler habe Kılıçdaroğlu nicht erreicht. Es ist die Abrechnung eines enttäuschten Unterstützers. Aber man hört solche Wutausbrüche gerade häufiger.
Um sie zu verstehen, hilft ein kurzer Blick zurück: In den Umfragen lagen beide Kandidaten lange gleichauf, Kılıçdaroğlu stand meist vor Erdoğan. Doch ein Sieg in der ersten Runde schien lange ausgeschlossen. Bis drei Tage vor der Wahl das seriöse Meinungsforschungsinstitut Konda eine Umfrage veröffentlichte, die Kılıçdaroğlu klar vorn sah. Ein anderes Institut sah ihn sogar bei über 50 Prozent. Ein Sieg im ersten Durchgang schien plötzlich möglich. Für 48 Stunden herrschte in Teilen des Landes eine ungläubige Euphorie. Sollte es wirklich klappen?
Am Wahlabend zeigten erste Zahlen rasch, dass die Realität wohl anders aussah. Doch die Opposition behauptete lange, Kılıçdaroğlu liege vorn, es seien nur noch nicht alle Stimmen gezählt. Viele Anhänger gingen mit dem Gedanken ins Bett, das Ergebnis ließe sich drehen – als sie am nächsten Morgen aufwachten, lag Erdoğan noch immer vorn. Eine ganze Generation von Oppositionellen ist in der Türkei mit der Erfahrung groß geworden, bei Wahlen zu verlieren. Dieses Mal aber starb ihre Hoffnung auf besonders brutale Weise.
„In der Opposition herrscht Panik“
Die Opposition sei für zwei Tage zerstört gewesen, sagt Soli Özel. Die Wähler saßen fassungslos zu Hause, aber auch der Spitzenkandidat sei einfach verschwunden. Im Internet machten Betrugsvorwürfe die Runde: Es seien Stimmen der Opposition für die Regierung gezählt worden, hieß es. Die Ergebnisse von mehreren Tausend Urnen wurden später offiziell angezweifelt und von den Behörden korrigiert. Bei insgesamt fast 200.000 Wahlurnen veränderte sich das Endresultat dadurch aber kaum.
Von der CHP hörte man dazu erstaunlich wenig. Offenbar hatte die Partei in der Wahlnacht Probleme, den Überblick zu behalten. Es kursierten Gerüchte, sie habe an Tausenden Urnen keine Wahlbeobachter gehabt. Die Opposition hatte die wichtigsten Wahlen in der Geschichte des Landes ausgerufen, nun fragten sich viele Wähler: Warum waren die Partei und ihr Kandidat dann nicht richtig vorbereitet?
„In meiner Nachbarschaft sind bei diesen Wahlen 90-Jährige aus dem Krankenbett gekommen, um wählen zu gehen“, sagt Soli Özel. Er wisse nicht, ob die Motivation noch einmal so groß sein könne. Es ist eine Sorge, die viele in der Opposition haben: dass enttäuschte Wähler nicht zur Stichwahl gehen – und Erdoğan mit großem Vorsprung gewinnt. Der Präsident könnte daraus eine größere Legitimation ziehen und noch härter gegen die Opposition vorgehen. Özel sagt: „Ich bete nur dafür, dass es keinen Erdrutschsieg für Erdoğan gibt.“
Die Strategie
Drei Tage nach dem ersten Wahlgang veröffentlichte Kılıçdaroğlu ein Video. Im Wahlkampf hatte er das häufig getan, hatte versöhnliche Botschaften in seiner Küche oder dem Wohnzimmer aufgenommen. Diesmal stand er vor einer Wand, an der ein Bild des Staatsgründers Atatürk hing. Er sagte, man werde das Land nicht denen überlassen, die „zehn Millionen Flüchtlinge“ hineingelassen hätten. Auf einer Pressekonferenz versprach er, diese zurückzuschicken, sobald er im Amt sei.
Schon früher hatte er angekündigt, die rund vier Millionen Geflüchteten im Land auszuweisen, die meisten nach Syrien. Die Härte der Sprache aber war neu, ebenso die Zahl von zehn Millionen. Sinan Oğan, ein nationalistischer Außenseiter, hatte sie im Wahlkampf einfach erfunden und im ersten Wahlgang fünf Prozent der Stimmen erhalten. Auch im Parlament hatten Nationalisten überraschend viele Sitze gewonnen. Bereits lange gibt es im Land Ressentiments gegen die Syrer, die Wirtschaftskrise hat sie verschärft. Nach den Wahlen ist von einer „nationalistischen Welle“ die Rede. Kılıçdaroğlu versucht nun, diese Welle zu reiten. Er redet von einer „Flut von Illegalen, die jeden Tag in unsere Adern“ fließe. Wenn Erdoğan bleibe, würden Städte von „Flüchtlingen, Mafia-Gangs und Drogenbossen“ kontrolliert. Bislang hatte Kılıçdaroğlu dafür geworben, die Gräben in der Gesellschaft zu überwinden. Nach der Enttäuschung des ersten Wahlgangs scheint er jetzt selbst zur Schaufel zu greifen.
„In der Opposition herrscht Panik“, sagt ein Politikberater, der viele der Akteure kennt. Kılıçdaroğlu drücke alle Knöpfe gleichzeitig und hoffe, dass einer funktioniert. Der Kandidat kündigte an, bei der Stichwahl an jede Urne fünf Wahlbeobachter zu entsenden, er trat in einem Internetformat für Jugendliche auf, er übertrug dem Istanbuler Bürgermeister nun doch eine wichtigere Rolle im Wahlkampf. Es ist der verzweifelte Versuch, die historische Chance doch noch zu nutzen. Und nicht in die Geschichte einzugehen als Kandidat, der die entscheidende Wahl in den Sand setzte.
„Er hat zum ersten Mal nicht gewonnen“
Die Zuversicht
Die Zahlen, die Hoffnung verbreiten sollen, präsentierte die Opposition in einem Wahlkampfvideo: Neun Millionen Menschen hätten im ersten Wahlgang nicht gewählt, eine Million habe ungültige Stimmen abgegeben, drei Millionen Stimmen seien an die Außenseiter gegangen. 13 Millionen Stimmen, so die Rechnung, sind noch zu vergeben. Um die werde man kämpfen.
Auch bei einem Treffen der Parteispitzen nach der Wahl sei gerechnet worden, erzählt ein Mitglied der Opposition. 49,5 Prozent habe Erdoğan erhalten, 2,5 Millionen Stimmen mehr als sein Herausforderer. Eine Million Stimmen, so die Rechnung bei dem Treffen, könne man von den Nichtwählern gewinnen, eine gute Million könnte die Seiten wechseln, eine weitere Million könne aus dem Lager von Sinan Oğan kommen. Außerdem beginne in diesen Tagen die Tee-Saison am Schwarzen Meer, Hunderttausende Anhänger von Erdoğan könnten sich aus Istanbul oder Bursa zur Ernte aufmachen und nicht zur Wahl gehen. So könnte es reichen. Es sind Strohhalme, an denen die Opposition sich festhält, aber noch gibt es sie.
„Die Zuversicht ist groß“, sagt eine hochrangige CHP-Politikerin. Erdoğan sei seit 20 Jahren an der Macht, er habe die Medien in der Hand, er könne Menschen unter Druck setzen und bedrohen. Und trotzdem habe mehr als die Hälfte ihn nicht gewählt. „Er hat zum ersten Mal nicht gewonnen“, das sei die entscheidende Nachricht, sagt sie. In der zweiten Runde gehe es von vorn los. Sie sei voller Hoffnung.
Kurz nach dem Gespräch wird diese Hoffnung getrübt. Am Montag gibt der Außenseiter Oğan bekannt, dass er bei der Stichwahl Erdoğan unterstützen werde. Einige der Parteien aus seinem Bündnis haben wiederum angekündigt, dass sie Kılıçdaroğlu unterstützen. Ein großes Durcheinander. Oğan galt als Königsmacher, nun scheint es, als komme er ohne großes Gefolge. Laut einer Studie werden die meisten seiner Wähler wohl für Kılıçdaroğlu stimmen. Doch Erdoğan lag im ersten Wahlgang weit in Führung. Schon wenige Stimmen könnten reichen und ihn über 50 Prozent heben.
Auf der Terrasse des Grandhotels in Tarabya kommen immer wieder Gäste und Kellner zu Cengiz Çandar und reichen ihm die Hand. Sie fragen, was passiert sei bei den Wahlen. Sie seien voller Hoffnung gewesen. Auch ein Parteifunktionär aus Diyarbakır im Osten des Landes ruft an. Er sagt, man habe ein paar Tage gebraucht, aber die Kampagne laufe wieder, man werde dafür sorgen, dass Kılıçdaroğlu gewählt wird.
Çandar strahlt noch Zuversicht aus. Ein Sieg sei unwahrscheinlich, sagt er, „aber in diesem Land weißt du nie“. Was ihm Hoffnung macht? Çandar grinst: „Die Unberechenbarkeit des türkischen Volkes.“