Waffenruhe in Gaza: Der Krieg ist vorbei. Was wird gehorchen?

Wie fühlt sich der Frieden an nach zwei Jahren Krieg, gedrängt auf engstem Raum?

Die Reaktionen seien „gemischt“ gewesen, erzählt Rami Abu Reda, Architekt und Autor. Er lebt mit seiner Frau und vier Kindern in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Khan Yunis. Einige seien überglücklich gewesen, andere unglücklich, denn für sie sei es zu spät gewesen. „Die meisten aber waren in einem Zustand reinster und kindlichster Freude.“

In sein Tagebuch habe er notiert:Krieg mag mit der Erklärung enden, er sei nun vorüber.“ Aber Gaza sei „eine Stadt ohne Gesicht“ geworden in zwei langen Jahren. „Bei nicht wenigen brach sich etwas Bahn. Unterbewusstes, lange Zurückgehaltenes.“ Deshalb sei im Augenblick nicht nur die gute Nachricht das Thema. Ab dem 4. Oktober, als man noch nicht damit rechnen konnte, dass der Friedensplan Aussichten hätte, notiert Rami Reda in sein Tagebuch:

Achterbahn der Gefühle

„Ich war früh zu Bett gegangen. Das Internet war komplett zusammengebrochen. Bei Morgengrauen, wie jeden Tag, reihte ich mich in die Schlange ein, um für Wasser anzustehen. Ich bin gewöhnt an finstere, müde Gesichter, aber heute lächelten alle. Ich war überrascht, fragte ‚Warum?‘ – und alle antworteten gleichzeitig: ‚Hamas hat Trumps Plan zugestimmt!‘ Einen Augenblick lang war ich wie erstarrt – gefangen zwischen Erstaunen und Zweifel. In Gaza erreichen uns Nachrichten fast immer mit Schmerz, und die Menschen klammern sich an jede Illusion, die Frieden verspricht. Man hält an ihr fest, jagt dem Schatten einer Wolke hinterher, wie ein Dürstender. In der Wasserschlange vermischen sich Wirklichkeit und Fata Morgana; das Lächeln war keine Freude, sondern eine kurze Erholung von der Angst. Wir haben gelernt, unsere Hoffnung hochzuhalten, denn die Realität ist die größere Bürde, als die Achterbahn der Gefühle.“

Während des Waffenstillstands am Anfang des Jahres war Ramis Freude rückhaltloser gewesen. Da hatte er noch gewusst, wohin. Die Möglichkeit, sich wenigstens innerhalb des Gazastreifens wieder sicher bewegen zu können, hatte die Menschen zurückkehren lassen. Die Leute waren euphorisch: Selbst als sie zu ihren Häusern, zum Beispiel in Gazas Innenstadt, zurückgekehrt waren und diese größtenteils zerstört fanden, hatten sie noch die Kraft, Räume freizulegen und Steine übereinanderzuschichten.

In Ramis Fall war es das Haus seines Bruders. Längst ist auch das Geschichte. „Jetzt gibt es kein Wohin mehr. Es macht keinen Unterschied. Denn hier, wo ich bin, ist nur ein Zelt. Wenn ich in mein Dorf zurückkehre, wird da auch nur ein Zelt sein, wenn überhaupt“, erzählt er.

Die Zelte abbrechen

Am 5. Oktober schreibt Rami in sein Tagebuch:

Heute Morgen, als ich früher als sonst aufwachte, ging ich nicht Wasser holen, sondern ans Meer. In der Hoffnung, etwas Ruhe zu finden und einen Blick auf das endlose Meer zu werfen. In der Hoffnung, sein Wasser möge etwas von meinem Chaos wegspülen und mir ein wenig Konzentration zurückgeben. Aber selbst das Meer ist nicht mehr jenes Meer, das Kraft gibt.

Ich saß im Sand, als ich, nicht weit von mir auf einen jungen Mann und dessen Brüder aufmerksam wurde, die an ihrem Zelt herumwerkelten. Sie holten ihre letzten Habseligkeiten aus ihrer bereits sehr zerfetzten Bleibe. Sie zogen das Zelt rückwärts in Richtung Land, damit es nicht von den steigenden Wellen weggerissen würde. Der Winter naht, die See wird rauer.

Ich weiß nicht, wie oft die Familie bereits auf der Flucht gewesen ist in den letzten zwei Jahren. Jetzt aber flohen sie vor dem Ertrinken. Ein Bild der Hoffnungslosigkeit. Als ich das Zelt genauer betrachtete, war es offensichtlich, dass es bereits dem nächsten Regen nicht mehr standhalten würde. Ich dachte: „Wohin noch damit, Jungs?“

Nicht weit von ihnen saß ihre Mutter auf dem Boden, die Hand an der Wange, und starrte schweigend in den Sand. Worte waren überflüssig, sie brauchte nichts zu sagen – ihr Blick sprach Bände. Ihre Augen erzählten vom Schmerz einer Mutter, von ihrer Geduld, die mit jedem Tag zur Neige ging. Ihr Blick schien zu fragen: Wann wird diese Tragödie enden?

Wir alle stellen uns diese Frage. Das Meer vor uns ist endlos – genau wie unsere Tragödie, die noch immer ihr finales Stadium nicht erreicht hat. Und die rare Seltenheit eines Augenblicks, in dem wir ein kleines bisschen Ruhe suchen, ist überlagert von den Bildern zahlloser Odysseen von Entwurzelung und Vertreibung, der Angst und einem ebenso endlosen Warten. Worauf?

9. Oktober: Waffenstillstand! Kriegsende?

Rami schreibt in sein Tagebuch:

Meine Tochter weinte, als die Neuigkeit sie traf. Ich hörte die Nachricht, als ich mich wieder in die Warteschlange einreihte: Waffenstillstand! Er würde beginnen um 12 Uhr, so hieß es. Nach zwei Jahren und zwei Tagen endet ein langes Kapitel der Hölle. Ich hörte es … und fühlte nichts.

Keine Freude, keine Trauer. Keine Tränen, kein Lächeln. Als ob bereits alle Gefühle erschöpft sind – Tropfen für Tropfen weggewischt, nichts mehr übrig. Ich war wie betäubt, wie unter Schock. Als wäre etwas passiert, das zu schwer ist, um es zu ertragen. Ich hätte erleichtert sein sollen! Zwei Jahre Krieg, Verlust, Blut, Zerstörung und Vertreibung. Zwei Jahre, in denen unsere Seelen zerschmettert wurden wie die Mauern um uns herum, unsere Herzen aufbrachen wie die Erde unter den Einschlägen der Raketen.

Der Krieg ist vorbei. Was wird folgen?

Nachdem Gaza zu einer Stadt ohne Gesicht geworden ist, ohne Profil, zu einem Zuhause ohne Dach, zu einer von Rauch durchdrungenen Erinnerung. Nachdem Häuser zu Zelten, Gärten zu Schutt und Träume zu müden Seufzern wurden, jedes Mal, wenn die Nacht hereinbrach. Der Krieg ist vorbei, doch niemand ist aus ihm als der zurückgekehrt, der er mal war.

Die Überlebenden gehen mit „halber Seele“ umher. Und die, die gestorben sind, gingen in Würde, hatten es hinter sich und hinterließen die schmerzende Frage: Was kommt nach dem Schweigen der Waffen?

Und dann sagt man es natürlich doch: Gelobt sei Gott für die Sicherheit der Überlebenden.

Krieg mag mit der Erklärung enden, er sei nun vorüber. Aber er lebt in uns weiter. Und dieser Schatten verschwindet nie.

Selbst wenn wir versuchen, neu anzufangen. Ist das dann schon Frieden? Oder nur die Abwesenheit des Krieges?

Rami sagt: „Frieden ist eine Ahnung von Sicherheit; der Tod macht Pause, oder hält inne. Und ja, das ist schon sehr viel.“

Miriam Sachs hat häufig in Gaza gearbeitet. Ihr Debüt-Roman Reise nach Jerusalem oder 141 Tage Warten auf Grünstein erschien 2005 bei Edition Nautilus. Nach dem Terroranschlag der Hamas ist sie mehrere Wochen durch Israel gereist, um mit den Menschen über den 7. Oktober zu sprechen. Ihre Erfahrungen und die Gespräche veröffentlichte sie im Freitag und ihrem Blog.