Vor Wahlen in Sachsen und Thüringen: Sahra Wagenknecht umwirbt Unternehmer
Zum Abschluss soll es noch eine Flasche „Vogelbeertroppn“ für Sahra Wagenknecht geben. Gastgeberin Anja Oberender aus Stollberg im Erzgebirgskreis wird der Parteichefin den Kräuterlikör aus regionaler Herstellung überreichen. Oberender ist die Geschäftsführerin der Wobek-Gruppe, eines erzgebirgischen Familienunternehmens für Oberflächenbeschichtungen mit etwa 60 Mitarbeitern. Die BSW-Bundesvorsitzende hat sich kurz vor der Landtagswahl in Sachsen zu einem Treffen mit Unternehmern angesagt. Im Seminarraum der Firma Wobek, wo bei hochsommerlichen Temperaturen ein Deko-Kaminfeuer Behaglichkeit schaffen soll, werden zehn Geschäftsinhaber und Unternehmer aus der Region erwartet, um Wagenknecht ihre Sorgen und Wünsche vorzutragen.
„Es geht für uns um die Existenz, wenn falsche Politik gemacht wird. Wir können nicht wie die großen Firmen ins Ausland gehen“, sagt Geschäftsführerin Oberender bevor die Gäste eintreffen. Die etablierten Parteien hätten „viel Mist gemacht“. Auch hätten sie sich „zu weit weg von den Unternehmen bewegt“. Ihr Vater, Gründer des Betriebs, kommt hinzu. Bernd Drummer wünscht sich eine andere Steuerpolitik: einen niedrigeren Eingangssteuersatz, den Abbau des Mittelstandsbauchs und höhere Steuern „ganz oben“.
Wagenknecht bekommt keine Neuigkeiten zu hören
Solche Forderungen sind eine Steilvorlage für Wagenknecht. Über eine Bundesratsinitiative will sie die Wiedereinführung der Vermögensteuer für „Multimillionäre und Milliardäre“ erreichen. Das jetzige Steuersystem sei eine „grobe Ungerechtigkeit“.
Wagenknecht erscheint zum Wahlkampftermin auffällig gekleidet: enges schwarzes Kleid mit Halskette und Ohrgehänge aus großen blauen Steinen. Zur Begrüßung schüttelt sie jedem die Hand. Vor allem Vertreter aus den Branchen Bau, Maschinen- und Anlagenbau sind gekommen, außerdem ein Textilunternehmer und der Inhaber des Fahrradgeschäfts am Ort.
Geschäftsführerin Oberender hat die Runde in Abstimmung mit dem BSW-Team zusammengestellt. Wagenknecht habe sie „immer schon gut leiden“ können, erzählt die 48-Jährige. Die politische Orientierung derer, die sie in die Runde holte, habe aber keine vorrangige Rolle gespielt. Sie habe vielmehr Unternehmer und vor allem auch Unternehmerinnen gewinnen wollen, „die gut vortragen können, was uns bewegt“.
Es sind keine Neuigkeiten, die Wagenknecht zu hören bekommt: immer mehr Bürokratie, der Mangel an Arbeits- und Fachkräften, Umsatzeinbrüche bei hohen laufenden Kosten. „Uns steht das Wasser weit bis zum Hals“, klagt einer der Unternehmer. Und in dieser schwierigen Lage seien auch noch Corona-Soforthilfen zurückzuzahlen. Wagenknecht findet, „das geht nicht“. Bei den Koalitionsverhandlungen werde sie sich dafür einsetzen, dass die Rückzahlungen zumindest gestreckt werden, verspricht sie.
Die BSW-Bundeschefin steht in Sachsen nicht zur Wahl, hat aber angekündigt, sie werde sich persönlich einbringen, wenn in Dresden über eine neue Regierung verhandelt wird. Spitzenkandidatin ist Sabine Zimmermann, die Wagenknecht von der Linken zum BSW folgte. Gemeinsam mit anderen BSW-Kandidaten aus dem Erzgebirge nimmt Zimmermann an dem Unternehmergespräch teil. Aber Wagenknecht zieht – wie auch sonst im sächsischen und thüringischen Wahlkampf – alle Aufmerksamkeit auf sich. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass das BSW künftig in Sachsen mit am Ruder stehen will. „Wir wollen regieren, nicht nur weil es uns braucht, sondern weil wir etwas verändern können.“ In Umfragen liegt das Bündnis bei rund 13 Prozent. AfD und CDU, die auf jeweils plus/minus 30 Prozent kommen, liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
„Aber wir leben ja nicht da“
Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat sich mit Blick auf das BSW noch nicht festgelegt. Aber Heike Domaratius, Geschäftsführerin eines Maschinenbauunternehmens, vermutet, „dass ja wohl alles auf eine Koalition von CDU und BSW hinausläuft“. Deswegen ist Domaratius der Einladung zu dem Treffen gefolgt. Sie möchte wissen, wie Wagenknecht die Probleme lösen will. Vor allem die Folgen verfehlter Bildungspolitik, „das geringe Interesse an Handwerksberufen und das sinkende Bildungsniveau“ bereiten der Unternehmerin Sorgen. Domaratius hat zwei Auszubildende aus Vietnam ins Unternehmen geholt. Unterstützt werden die jungen Vietnamesen dort von einem „Kümmerer“. Die beiden Auszubildenden seien „unheimlich fleißig und engagiert“.
Wagenknecht versichert, Bildungspolitik sei für sie ein „Herzensthema“. Anhand der E-Mails, die sie bekomme, sehe sie, wie groß die Bildungsmisere sei: „Bei den Älteren aus Ostdeutschland stimmt die Rechtschreibung noch“, sagt die BSW-Chefin. Bei den Jüngeren werde es schwieriger. „Und bei den Leuten aus dem Westen ist es eine Katastrophe.“ Die Grundschulen sollten sich auf das Schreiben, Lesen und Rechnen konzentrieren. Smartphones und Tablets seien „völlig fehl am Platz“. Und natürlich brauche man auch mehr Lehrer. An der Fachkräftedebatte „nervt“ Wagenknecht, „dass immer nur Zuwanderung, Zuwanderung, Zuwanderung gerufen wird“. Zu kurz komme, „dass wir Leute im Land haben, die aber über keine ausreichende Bildung verfügen“.
Anja Oberender hatte einen Syrer im Betrieb. Er war Lackierer, habe aber „auch sonst alles mitgemacht und schwere körperliche Arbeit geleistet“. Der Mann habe 200 Euro mehr im Monat haben wollen, netto. „Das konnte ich ihm nicht zahlen. Er ist dann in die alte Bundesrepublik gegangen“, schildert die Geschäftsführerin.
Die Arbeitsentgelte im Erzgebirgskreis lagen im Jahr 2022 bei 2818 Euro, hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln errechnet. Der Median aller 400 deutschen Kreise: 3583 Euro. In den 76 Kreisen in Ostdeutschland seien es 3013 Euro gewesen, sagt IW-Ökonom Christian Oberst. Die Entwicklung im Erzgebirgskreis sei positiv, „aber es gibt noch Aufholbedarf“.
Die Firma Wobek zahlt ihren Arbeitern den Mindestlohn, also 12,41 Euro brutto in der Stunde. Hinzu kommen Zuschläge, „je nachdem, wie es im Betrieb läuft“, sagt die Chefin. Sie würde ihren Leuten gern mehr zahlen, versichert Oberender. „Aber wir merken leider ganz deutlich, dass es abwärtsgeht“, beschreibt sie die Auftragslage. Das BSW fordert 14 Euro als Lohnuntergrenze. Oberender hingegen findet, man solle den Mindestlohn wieder abschaffen. „Ich habe vor der Einführung auch nicht weniger gezahlt, es wurde nur anders verteilt.“ „Wir wünschen uns mehr unternehmerische Freiheit“, fasst der Vertreter der Wirtschaftsförderung Erzgebirge zusammen.
Für Oberender gehört dazu auch eine andere Energiepolitik. Oberflächenbeschichtungen seien energieintensiv, die gestiegenen Energiekosten eine große Belastung. Wagenknechts Forderung, wieder auf Öl- und Gasimporte aus Russland zu setzen, findet die Unternehmerin richtig. Die Energiepolitik sei von dem russischen Angriff auf die Ukraine zu trennen: „Andere Länder führen auch Krieg und verletzten die Menschenrechte, und mit denen haben wir trotzdem Geschäftsbeziehungen.“ Keiner der Unternehmer aus dem Erzgebirge erhebt Einwände, als Wagenknecht die „absurde Sanktionspolitik“ gegen Russland geißelt. Russland sei ein „ziemlich korrupter Oligarchenstaat“, sagt Wagenknecht. „Aber wir leben ja nicht da.“ Niemand bringt daraufhin das Sterben und die Zerstörung in der Ukraine zur Sprache. Auch die Sicherheitsrisiken für den Westen sind kein Thema.
Hoffnung auf „frischen Wind“
Stattdessen ist auf dem Treffen viel von Enttäuschung über die etablierten Parteien und verlorenem Vertrauen die Rede. Von mangelnder „Werteorientierung“ und fehlender „Sacharbeit“. Das Erstarken der AfD sei da nicht verwunderlich, sagen Unternehmerinnen am Rande des Treffens. Anja Oberender macht der Zuspruch Angst, „der dem Außenbild von Sachsen und Deutschland und damit auch unserer Wirtschaft schadet“. Bleibt die Frage, warum zumindest einige der versammelten Unternehmer aus dem Erzgebirge eine Regierungsbeteiligung des BSW als Chance sehen. „Frau Wagenknecht vermittelt authentisch, dass sie etwas ändern will“, sagt der Inhaber des Fahrradladens. Eine Unternehmerin verspricht sich „frischen Wind“, eine andere lobt Wagenknechts „Sensibilität für den Mittelstand“.
Der Verband „Die Familienunternehmer“ warnt indes eindringlich, das BSW betreibe „Etikettenschwindel“. Das Wagenknecht-Bündnis lehne umfangreiche Handelsabkommen ab, wolle die Fachkräfteanwerbung in Drittstaaten beenden und plädiere für höhere Steuern und Preisdeckel. Die gewünschte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland und ein unverhohlener Antiamerikanismus zeigten zudem, „dass mit dem BSW kein freiheitliches Europa zu machen ist“. Diese Einschätzung spiegelt sich auch in einer Befragung von mehr als 900 Führungskräften des Kölner IW-Instituts Die Wirtschaftskompetenz des BSW wurde mit „mangelhaft“, bewertet. In Ostdeutschland (ohne Berlin) fällt das Urteil aber weniger negativ aus. Dort vergaben die Führungskräfte für die Wagenknecht-Partei noch die Note „ausreichend“.
Bei der Firma Wobek endet Wagenknechts Wahlkampftermin. Gastgeberin Oberender überreicht die Flasche Vogelbeertroppn mit den Worten: „Ich würde nun auch gerne zu ‚Sahra‘ übergehen.“ Der Likör möge bei den Koalitionsverhandlungen des BSW helfen. „Vielleicht schafft das ja Lockerheit.“ Wagenknecht hingegen demonstriert Härte, selbst wenn sie humorvoll sein will: Sie werde die Flasche „mit Kretschmer leeren, bis wir alles durchgesetzt haben“.