Vor den Landtagswahlen: Warum Geld im Osten nicht geholfen hat
Es ist gar nicht so leicht festzustellen, was die deutsche Einheit eigentlich gekostet hat. Jetzt, vor den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen, beugen sich westdeutsche Beobachter wieder über die kleine Minderheit ihrer ostdeutschen Landsleute, die – ohne Berlin – nicht mal mehr 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht, weniger als allein Bayern: Das liegt weit unter dem Anteil, den eine Gruppe braucht, um einen maßgeblichen Einfluss aufs Ganze auszuüben. Er wird etwa für Frauen in Führungsgremien auf 30 Prozent geschätzt.
In gewöhnlichen Zeiten verhält es sich eher umgekehrt, da hält sich das Interesse des großen Westens am kleinen Osten in engen Grenzen, während umgekehrt die alte Bundesrepublik für viele zwischen Ostsee und Erzgebirge immer noch der Bezugspunkt ist, immer häufiger im Negativen. Mit dem Soziologen Steffen Mau könnte man sagen, dass „der Westen“ geradezu eine östliche Erfindung sei.
Dabei stellen die Erschütterungen, die das Resultat der bevorstehenden Wahlen von Erfurt und Dresden aus womöglich ins politische System Gesamtdeutschlands hineintragen, einen Bruch des Deals von 1990 dar. Damals drängte die große Mehrheit der DDR-Bürger nicht nur auf eine schnelle staatliche Einheit, sondern vor allem auf die schnelle Wirtschafts- und Währungsunion mit der wohlhabenden Bundesrepublik. Damit waren die Weichen gestellt für den raschen Niedergang der ostdeutschen Wirtschaft, die durch Transferzahlungen auszugleichen war.
„Nirgends war der Transformationsschock so hart wie in Ostdeutschland“, stellte der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk jüngst fest. Aber nirgends sei er auch „so stark staatlich sozial abgefedert worden“.
Keine erhoffte „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“
Nach der ersten Euphorie des Mauerfalls begleitete die Mehrheit der Westdeutschen den Prozess nicht mehr mit Begeisterung, sondern eher mit einem gewissen Bangen. Aber sie wussten natürlich, dass die Ostdeutschen für die gemeinsame historische Schuld sehr viel härter gebüßt hatten als sie selbst, und sie konnten sich nicht verweigern.
So lösten sie das Problem, wie sie seit den Jahren des Wirtschaftswunders noch jedes Problem gelöst hatten: mit Geld. Im Gegenzug sollte sich an den bewährten Institutionen, mit denen die Bundesrepublik in der liberalen Demokratie angekommen war, nichts ändern. Warum auch?
Die Frage ist, warum das viele Geld nicht zu der erhofften „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ geführt hat, auch nicht in Bezug auf gesellschaftliche Strukturen und politische Mentalitäten. Berechnungen des Ifo-Instituts aus dem Jahr 2012, als die Phase der speziellen Förderprogramme weitgehend abgeschlossen war, ergaben für die Jahre seit 1991 Zahlungsströme von 3,4 Billionen Euro, denen Steuer- und Beitragseinnahmen von 1,8 Billionen Euro gegenüberstanden. Es bleibt also ein Nettotransfer von gewaltigen 1,6 Billionen Euro. Allein die Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte, die 1990 noch bei einer Billion D-Mark gelegen hatte, verdoppelte sich bis 1995 auf zwei Billionen Mark: In fünf Jahren kamen so viel neue Schulden hinzu wie in den vier Jahrzehnten zuvor.
Noch nicht mal an dem verbreiteten Klischee, im Osten sei übermäßig viel öffentliche Infrastruktur abgebaut worden, ist etwas dran. Sachsen und Thüringen sind mit jeweils 58 Beschäftigten im öffentlichen Dienst je tausend Einwohner auf demselben Niveau wie Nordrhein-Westfalen. Mecklenburg-Vorpommern kommt mit 63 Bediensteten sogar auf den Spitzenwert aller deutschen Flächenländer, was allerdings den weiten Wegen in dem dünn besiedelten Bundesland geschuldet ist. Und Brandenburg, das Schlusslicht in dieser Statistik, verlässt sich in vielerlei Hinsicht auf die Dienstleistungen Berlins, von den Unikliniken bis zu den Opernhäusern.
Lohnniveau hat sich stark angeglichen
Heute werden die Transfers nicht mehr systematisch erfasst, einen Hinweis ergibt aber das Verhältnis von Binnennachfrage und eigener Wertschöpfung in den östlichen Bundesländern. Nach den neusten vorliegenden Zahlen aus dem Jahr 2020 konsumieren die östlichen Bundesländer noch immer fast 16 Prozent mehr, als sie selbst erwirtschaften. In absoluten Zahlen sind das 59 Milliarden Euro, die durch öffentliche und private Transfers ausgeglichen werden, so die Zahlen, die der Dresdener Ifo-Forscher Joachim Ragnitz zusammengestellt hat.
Und diese Transfers haben durchaus einiges bewirkt. Nicht nur, was die vielfach zitierte Sanierung pittoresker historischer Innenstädte betrifft. Das Lohnniveau hat sich stark angeglichen. Dass die Durchschnittseinkommen im Osten noch immer um rund 20 Prozent unter dem westlichen Niveau liegen, hat seine Ursachen auch in der unterschiedlichen Unternehmens- und Branchenstruktur. Höher als in anderen mittelosteuropäischen Transformationsländern sind die Einkommen allemal. Bei den Vermögen allerdings ist der Abstand weit größer, nur zwei Prozent der gesamtdeutschen Erbschaftsteuer werden im Osten bezahlt. Das mag erklären, dass steigende Energiepreise, höhere Kosten für Lebensmittel oder Debatten über einen Heizungsaustausch schneller in Existenzsorgen münden.
Hinzu kommt: Während der Neunzigerjahre stieß im Osten eine andere, weniger sozial abgefederte Form des Kapitalismus auf ein stärker ausgeprägtes Gleichheitsideal. Ladeninhaber klagten, „im Westen“ dürfe man ja keine Mittagspause machen, was in Kleinstädten der alten Bundesrepublik gar nicht der Fall war. Leute berichteten, wie Nachbarn hinter der Gardine neidisch ihre Möbellieferung beobachteten, was es „zu Ost-Zeiten“ angeblich nicht gegeben habe. Der erste Schweriner Nachwende-Ministerpräsident Harald Ringstorff klagte, sein Landsleute äßen lieber allesamt trockenes Brot, als dass sie einigen Kaviar gönnten, um selbst Butter zu bekommen. Und Beschäftigte behaupteten, dem westdeutschen Vorgesetzten dürfe man nicht widersprechen, während der Chef umgekehrt über eine servile Untertanen-Mentalität seiner Mitarbeiter klagte.
Weitere Abwärtsspirale
Bislang konnten Studien über das Wahlverhalten allerdings keinen klaren Zusammenhang zwischen dem örtlichen Wohlstandsniveau und dem Stimmenanteil für radikale Parteien ermitteln. Das gilt übrigens auch für das Gebiet der alten Bundesrepublik: In manchen ländlich-katholischen Gebieten mit eher bescheidenem Durchschnittseinkommen hat die AfD einen eher schweren Stand, während sie am Rande der süddeutschen Wohlstandsregionen erstaunliche Erfolge verzeichnet, für westdeutsche Verhältnisse jedenfalls.
Der einzige messbare strukturelle Indikator für rechtspopulistische Wahlerfolge, den Forscher über alle westlichen Demokratien hinweg ausgemacht haben, besteht in der Quote der Abwanderung, und in Ostdeutschland befinden sich nun mal einige der Regionen, in denen die Bevölkerung im weltweiten Vergleich am schnellsten zurückgeht. Auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik leben heute 60 Prozent mehr Menschen als vor dem Zweiten Weltkrieg, auf dem Gebiet der früheren DDR hingegen 15 Prozent weniger. „Gerade weil sie spüren, dass sie sich auf der nach unten geneigten Ebene der Demographie befinden, werden solche Gegenden abwehrender und skeptischer“, schreibt der Soziologe Mau. Weil mehr Frauen wegziehen als Männer, habe das wiederum Rückwirkungen „auf Männlichkeitsnormen und Gewaltneigung“. Und offenbar auch auf die Lebenserwartung: In ländlichen Regionen Ostdeutschlands sterben Männer im Durchschnitt fünf Jahre früher als im Westen.
Das führt wiederum zu einer weiteren Abwärtsspirale. Unter der Oberfläche einer bis vor Kurzem noch höheren Arbeitslosenzahl leiden viele Regionen schon sehr viel länger unter einem Mangel an geeigneten Arbeitskräften, da die Statistik auch viel Langzeitarbeitslose ohne echte Jobperspektive umfasste. Selbst eine positive wirtschaftliche Entwicklung und gute Stellenangebote fördern dann nicht die Neigung, in eine solche Frustregion umziehen zu wollen. Das zeigt sich auch an den Pendlerströmen. Während in den meisten westlichen Ballungsräumen die Leute zum Arbeiten aus dem Umland in die Stadt fahren, ist Leipzig zu einem Ort der Auspendler geworden: Wer einen Job im westlichen Sachsen, dem südlichen Sachsen-Anhalt oder dem östlichen Thüringen annimmt, sucht sich oftmals eine Wohnung in der Großstadt mit ihrem positiveren gesellschaftlichen Klima.
Kontinuität, was die Sicht auf „die da oben“ betrifft
In der chaotischen Umbruchzeit der Neunzigerjahre, die heute als ein kollektives Trauma gilt, waren die Dinge wenigstens noch im Fluss. Mau spricht von „Frakturen“, es waren Dinge aufgebrochen, die auch neue Möglichkeiten zu schaffen schienen, bei allen oft auch körperlichen Bedrohungen jener Baseballschläger-Jahre. Heute hat sich die Lage verhärtet, die Dinge sind wieder festgewachsen, oft auf ungute Weise. Von einer „Ossifikation“ spricht der Soziologe, in hübscher Doppeldeutigkeit: einerseits sind viele Ostdeutsche im eigenen Bewusstsein wieder stärker zu „Ossis“ geworden, andererseits steht Ossifikation als medizinischer Fachbegriff für Aushärtung, für „pathologische Verknöcherung“, wie Wikipedia verrät.
Beharrungskräfte gibt es auch im Westen, aber sie sind anderer Natur. Sie beruhen eher auf der Saturiertheit einer Wohlstandsgesellschaft, während im Osten das Übermaß an Veränderung nach der politischen Wende von 1989/90 oftmals zu einer Abwehr neuerlicher Transformationsansprüche führt, auch zu einer Risikoaversion etwa im Verhältnis zum russischen Aggressor. Das aktuelle Bild von Deutschland als einer vergleichsweise veränderungsresistenten Gesellschaft mag damit zusammenhängen, das hier als einzigem Land der jeweils spezifische Konservatismus des alten Westens mit demjenigen des neuen Ostens zusammentrifft.
Trotz aller historischen Brüche scheint es in Ostdeutschland aber doch eine Kontinuität zu geben, was die Sicht auf „die da oben“ betrifft. Das berechtigte Ressentiment gegen SED-Funktionäre überträgt sich für manchen in eine irrationale Abneigung gegen demokratisch gewählte Politiker. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk staunt in seinem neuen Buch über viele seiner ostdeutschen Landsleute, „über ihren Hang zum Opferdasein, über ihren Glauben, immer seien andere schuld“.
Diese Gefühle freilich wurden durch die Transferzahlungen aus dem Westen nicht abgemildert, sondern eher verstärkt. Der bulgarische Politologe Ivan Krastev erklärte den politischen Backlash in den Transformationsländern des östlichen Mitteleuropas vor allem mit dem Gefühl, zur Nachahmung verdammt zu sein. Wenn dabei auch noch finanzielle Almosen im Spiel sind, wird die Sache vermutlich nicht besser. Daraus entsteht dann ein Trotz, mit dem politisch schwer umzugehen ist.