Von der Leyen verspricht Wettbewerbsfähigkeit – und liefert mehr Bürokratie

Es sollte ein Befreiungsschlag werden. Das suggerierten zumindest die Versprechen der zuständigen Politiker. „Im weltweiten Rennen zur Klimaneutralität wollen wir die EU-Industrie in die bestmögliche Wettbewerbsposition bringen“, sagte Frans Timmermans, der Vizepräsident der Europäischen Kommission am vergangenen Donnerstag, als seine Behörde ihren Vorschlag zur Förderung der Industrie vorstellt.

„Die EU muss eine führende Industrieregion bleiben, die ihre Produkte und Technologien exportiert – und keine Arbeitsplätze“, sekundierte Binnenmarktkommissar Thierry Breton. Das Personal, das die Behörde für die Vorstellung aufgestellt hatte, unterstrich die Bedeutung: Gleich fünf Kommissare und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen begleiteten in der vergangenen Woche ein ganzes Paket von Vorhaben, die ein Ziel eint: Europäische Unternehmen im internationalen Wettbewerb mit China und den USA langfristig zu stärken.

Bei den drei Gesetzesvorhaben handelt es sich um die Netto-Null-Industrie-Verordnung, die sicherstellen soll, dass künftig mindestens 40 Prozent der in der EU eingesetzten grünen Technologien auch in der EU produziert werden. Dazu um das Gesetz zu kritischen Rohstoffen, das den Bergbau und das Recycling von knappen Rohstoffen wie Lithium ankurbeln soll. Und schließlich eine Reform des EU-Strommarkts, die Unternehmen künftig vor extrem hohen Preisen schützen und Investitionen in CO₂-arm erzeugten Strom fördern soll.

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Außerdem hat die Europäische Kommission erläutert, wie sie langfristig die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen stärken will: Es soll attraktiver für sie werden, Geld in Forschung und Entwicklung zu stecken, es soll leichter für sie werden, an Kapital zu kommen, und die Infrastruktur in der EU soll ausgebaut werden.

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Die Ziele der Initiative aus Brüssel werden auch von der Wirtschaft unterstützt. Die EU steht geo- und industriepolitisch unter großem Druck, und nicht nur in Brüssel geht die Angst um, von den USA und China abgehängt zu werden.

Vor allem der Inflation Reduction Act (IRA) von US-Präsident Joe Biden mit seinen Milliardensubventionen und protektionistischen Vorgaben hat europäische Politiker alarmiert. Das prall geschnürte Industriepaket aus Brüssel ist denn auch eine Reaktion auf die neue kraftvolle Industriepolitik der USA.

Deutliche Kritik an Netto-Null-Industrie-Verordnung

Aus Sicht von Unternehmen lösen von der Leyen & Co. ihre vollmundigen Versprechungen allerdings nicht ein. Vor allem die Netto-Null-Industrie-Verordnung sorgt bei Unternehmen für Unmut. Die Kommission habe das Ausmaß der Herausforderung nicht erkannt, kritisiert etwa Markus Beyrer, der Generaldirektor von Business Europe, dem EU-Verband der Arbeitgeber. „Der Vorschlag für die Netto-Null-Industrie-Verordnung greift zu kurz. Das Vorhaben riskiert damit, die Transformation in Europa sogar zu behindern, anstatt sie zu fördern.“

Ähnliche Kritik kam direkt nach der Vorstellung der Pläne auch aus Deutschland. „Die Europäische Kommission hat den Ernst der Lage immer noch nicht begriffen“, sagte Wolfgang Steiger, der Generalsekretär des Wirtschaftsrates der CDU.

Die parteinahe Organisation vertritt die Interessen vor allem mittelständischer Unternehmen. „Es reicht nicht aus, auf den amerikanischen Inflation Reduction Act mit einem bürokratischen Gegenentwurf zu antworten.“

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Inzwischen haben Experten der ordnungspolitischen Denkfabrik Centrum für Europäische Politik (CEP) die hunderten Seiten der Kommissionsvorschläge gesichtet. Die Forscher finden darin viele gute Ansätze, warnen allerdings, dass die Initiativen mehr Bürokratie schaffen, anstatt Unternehmen zu entlasten und dass einige der Vorhaben sogar „Risiken für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit Europas“ bergen.

„Die Kommission ist mit ihren Vorhaben strategisch zu defensiv und verliert sich in kleinteiligen Instrumenten, die sie zu bürokratischen Eingriffen zwingt. Die groß angekündigte Antwort auf den IRA könnte so schnell zu einer weitgehend unwirksamen Luftnummer werden“, sagt CEP-Vorstand Henning Vöpel.

Vöpel und drei weitere Forscher haben die Vorschläge untersucht und festgestellt, dass sie mehr Bürokratie und mehr Staatseingriffe bringen. „Die Kommission rennt Zielen hinterher, die sie selbst nicht erreichen kann, aber zu weitreichenden Eingriffen in den Binnenmarkt zwingen“ schreiben die Verfasser der bisher unveröffentlichten Analyse, die WELT vorliegt.

CEP nennt die vorgeschlagenen Maßnahmen „wenig ambitioniert“

Das gelte insbesondere für den Energiebereich. Die Pläne zur Neuordnung des Strommarktes beispielsweise sollen europäischen Unternehmen langfristig günstigere Strompreise bringen. Es sei allerdings „nicht zu erwarten, dass die angekündigten Maßnahmen im Bereich Energie zu wettbewerbsfähigen Energiepreisen in der EU führen werden“, schreiben die Verfasser. Nötig seien bezahlbare Strompreise für die Industrie und Planungssicherheit für Investoren in erneuerbare Energien.

Die Pläne der Kommission, die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der EU über das laufende Jahrzehnt hinaus zu sichern, seien enttäuschend. „Die von der Kommission genannten Maßnahmen sind wenig ambitioniert“, schreiben die Verfasser der bisher unveröffentlichten Analyse, die WELT vorliegt. „In weiten Teilen werden schlicht bestehende Maßnahmen und Programme aufgezählt, die entweder einfach fortgeführt oder nur ein wenig angepasst werden sollen.“

Was auf der einen Seite fehlt, droht auf der anderen Seite zu viel zu werden: Die Analysten urteilen, dass die Gesetze zusätzliche Bürokratie schafften – und das, obwohl es erklärtes Ziel der Kommission ist, Unternehmen von Bürokratie zu entlasten. In den kommenden Jahren will die Behörde die Berichtspflichten für Unternehmen zwar um beeindruckende 25 Prozent senken.

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Gleichzeitig würden aber neue Prüf- und Dokumentationspflichten geschaffen, bemängeln die Forscher, beispielsweise im geplanten EU-Lieferkettengesetz. Das Fazit der Analyse: „Es ist paradox, dass das explizite Vorhaben, die Lasten der Bürokratie reduzieren zu wollen, mit den Entwürfen jedoch viel weitere Bürokratie befürchten lässt.“

Die Behörde verweist beispielsweise auf die Reform der europäischen Schuldenregeln, die bereits seit drei Jahren diskutiert wird oder führt die Einrichtung eines neuen Schuldentopfs auf EU-Ebene an, aus dem Industriesubventionen gezahlt werden sollen.

Subventionswettlauf mit den USA

Ökonomen warnen seit Längerem davor, mit schuldenfinanzierten Subventionen auf Bidens Industrieprogramm zu reagieren. Am Dienstag erneuerten Forscher des ifo-Instituts ihre Mahnungen in einem Gutachten für das Bundesfinanzministerium.

„Die EU sollte vermeiden, sich in einen Subventionswettlauf um die Ansiedlung von Batterie- oder Solarzellenfabriken zu begeben, die mit bekannten Technologien arbeiten, das ist selbstschädigend“, sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest. Fraglich ist allerdings, ob Finanzminister Christian Lindner, der Auftraggeber des Gutachtens, diese Sicht in Brüssel durchsetzen kann. Insbesondere Frankreich drängt dort auf einen teuren Subventionswettlauf mit den USA.

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Source: welt.de