Von Arnold Zweig über Batman bis The Weeknd: Alles über das Neben-Ich

A

Arnold Zweig Der gemeine Schipper Werner Bertin liegt 1916 mit seinem Bataillon vor Verdun. Damit hat der einstige Akademiker Bertin so gut wie ausgespielt, lässt Arnold Zweig in seinem Roman Erziehung vor Verdun (1935) kaum Zweifel. Es steht in Aussicht, von französischen Granaten oder deutschen Blindgängern zerfetzt zu werden. Arnold Zweig weiß das. Sein Weg durch den Weltkrieg gleicht dem seines Helden (➝ Kavanagh). Man war verloren, konnte nicht der Ruf des Schriftstellers hilfreich sein. Als Zweig 1915 einrückt, hat er mit den „Novellen um Claudia“ debütiert. Als Bertin nur noch ein erschöpftes Wrack ist, erkennt ein Kriegsgerichtsrat in ihm den Autor der Erzählbandes „Das Schachbrett“und meint, es sei „an der Zeit, für die geistige Kost nach dem Krieg ein paar Begabte übrig zu behalten“. So holt er Bertin als Schreiber an die weniger gefährliche Ostfront, wohin auch Zweig 1917 versetzt wird. Der übersteht den Krieg, ohne dessen Grauen zu entkommen, wie er das im Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa sein Alter Ego Werner Bertin erfahren lässt. Lutz Herden

B

Batman Wenn das Bat-Signal die Kontur einer Fledermaus in den Nachthimmel von Gotham City projiziert, weiß ein Mann, dass es Zeit ist, seine Identität zu wechseln. Unterstützt von seinem treuen Butler Alfred Pennyworth, zieht der Erbmillionär Bruce Wayne in den Kampf gegen das Verbrechen von Gotham City. Die fiktive Stadt wird von der Unterwelt beherrscht, die Polizei, geleitet von Commissioner Gordon, kämpft nicht selten hilflos gegen die Schurken an, die nur einen Gegner fürchten: Batman. In einem Fledermauskostüm tritt Wayne den Kampf gegen das Unrecht an, welchem er selbst als Kind hilflos ausgeliefert war. Seine Eltern wurden, vor seinen Augen, nach einem Kinobesuch bei einem missglückten Raubüberfall erschossen. Er schwor sich, sein Leben der Verbrechensbekämpfung zu widmen – allerdings inkognito. Mit seinem Alter Ego Batman verwischt er seine menschliche Identität und bildet für die Verbrecher einen mystischen Gegner, der sie das Fürchten lehrt. Ein Ritter der Moderne. Jan C. Behmann

C

Cosplay Zur Leipziger Buchmesse gibt es für dieses Kostümspiel extra einen Wettbewerb, bei dem Teenager in fiktive Rollen schlüpfen. Bizarre Gestalten: In kleinen Gruppen schreiten sie durch die Hallen. Was für eine aufwendige Verkleidung! Wie lange mögen sie daran gearbeitet haben! Selbst entworfene Kostüme sind mit allerlei rätselhaften Accessoires komplettiert: Waffen, Ohren, Schwänze aus Schaumstoff, bunte Perücken und Schminke nicht zu knapp. Alles hat Bedeutung. Nur welche? Man müsste die Mangas, Comics, Filme und Videospiele kennen, die hier in Szene gesetzt werden. Oder geht es mehr noch um unser Befremden? Eine fantastische Welt wird gegen die reale gesetzt. Gegen die Forderung nach Anpassung wird ein Anderssein zelebriert. Vielleicht wird gar ein verborgener Teil des eigenen Wesens mal offen ausgelebt. Irmtraud Gutschke

E

Elektro Die musikalische Partnerschaft von Roman Flügel und Jörn Elling Wuttke, ihr gemeinsames Forschen an den Rändern von Techno, elektronischer und experimenteller Musik, währt nun schon mehrere Dekaden. Acid Jesus, Sensorama oder Alter Ego hießen nur drei der verschiedenen musikalischen Projekte ( The Weeknd), mit denen die beiden sogar internationale Tanzhallen-Hits landen konnten. Die gebürtigen Darmstädter machen seit den späten 1980er Jahren zusammen Musik und gründeten mit Dj Ata und Heiko MSO die stilbildenden Elektro-Labels Ongaku, Klang Elektronik und Playhouse. Die erste EP von Alter Ego erschien 1994 bei Sven Väths Label Harthouse, 1995 dann das Album „Decoding the Hacker Myth“. Das 2004 erschienene Rocker war der letzte große Erfolg der Experimental-Elektroniker unter diesem Namen. „Alter Ego“, das „andere Ich“, in der Psychologie sind das zwei im Widerspruch stehende Seiten einer gespaltenen Persönlichkeit. Und so klingen Alter Ego auch: mal melodiös, mal dynamisch, mal raffiniert, mal mit harten Beats ausstaffiert. Marc Peschke

K

Kavanagh Duffy, der erste Kriminalroman eines bis dahin unbekannten Schriftstellers, war ein ungewöhnliches Debüt. Nicht nur deshalb, weil erstmals ein Privatschnüffler mit fluider sexueller Orientierung ermittelte. Auch die Biografie des Autors ließ aufhorchen. Dan Kavanagh, 1946 im irischen County Sligo geboren, habe nach umfänglichen Lehr- und Wanderjahren unter anderem als „Barpianist in Macao“ gearbeitet und „Flugzeuge auf der kolumbianischen Kokain-Route“ gesteuert. Also kenne er das Milieu, in dem seine Geschichten spielen, genau ( Arnold Zweig). So stand es zumindest in der deutschen Taschenbuchausgabe von 1981. Natürlich war nichts von alledem wahr. Hinter dem literarischen Schwindel steckte Julian Barnes, ein vielseitig gebildeter Oxford-Absolvent, der zeitgleich mit dem in neun Tagen heruntergeschriebenen Krimi einen autobiografischen Roman veröffentlicht hatte und wenige Jahre später mit Flauberts Papagei zu einem international gefeierten Schriftsteller werden sollte. Von Dan Kavanagh erschienen noch drei weitere Duffy-Romane. Auch heute steht Barnes noch immer zu seinem abenteuerlustigen Alter Ego. Denn es habe ihm ermöglicht, all seine Gewaltfantasien gefahrlos auszuleben. Joachim Feldmann

P

Pressesprecher Sie schrieben zusammen Weltgeschichte – Günter Schabowski und sein Zettel. Schabowski, Pressesprecher des neuen Politbüros, wusste nicht, was auf den DIN-A4-Seiten steht, die Krenz ihm kurz zuvor mit den Worten in die Hand drückte: „Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns.“ Um 18 Uhr beginnt am 9. November 1989 im Kinosaal des „Internationalen Pressezentrums“ eine Pressekonferenz. Schabowski hatte was auf einen Zettel gekrakelt: „Verlesen Text Reiseregelung.“ Der Rest ist bekannt. Schabowski und sein Zettel, man kann sich den einen nicht mehr ohne den anderen denken. Wie Willy Brandt und Egon Bahr. „Schabowskis Zettel“ heißen Youtube-Dokus und öffentlich-rechtliche Geschichtsstunden.

Der italienische Journalist Riccardo Ehrman, damals 1989 als Korrespondent in Ostberlin, hatte Schabowski bei der Pressekonferenz die entscheidende Frage gestellt: „Ab wann?“ Bei einem Treffen in Madrid 2019 zeigte mir der 90-Jährige eine Kopie des Zettels: Schabowski hatte sie ihm mitgebracht, als er ihn besuchte. Das Original galt erst mal als verschollen, bis sich ein früherer Bekannter Schabowskis meldete und es dem Haus der Geschichte in Bonn für 25.000 Euro verkauft hat. Da, ausgerechnet, existieren sie nun beide weiter. Maxi Leinkauf

S

Seelenverwandtschaft „Das ist mein Alter Ego“, heißt es, wenn man mit einer Person seelenverwandt ist, also eine besondere Verbindung zu diesem Menschen hat, sich charakterlich sehr ähnelt. Meist meint das eine innige Freundschaft. Seelenverwandtschaft kann als Konzept, aber auch religiös oder esoterisch aufgeladen sein.Als Motiv erscheint sie bei Platon, wenn er über den Mythos der Kugelmenschen schreibt. Dem zufolge hatte der Mensch einst vier Arme und Beine sowie einen Kopf mit zwei Gesichtern. Als göttliche Strafe zerteilt ihn Zeus und seither läuft der Mensch unvollständig durch die Welt auf der Suche nach seiner verlorenen Hälfte. Im jüdischen Glauben existiert die Vorstellung, der passende Ehepartner sei von Gott vorbestimmt. Natürlich ist damit auch eine erotische Dimension verbunden: Diesen Verwandten darf man begehren. Anthroposophie und andere esoterische Spekulationssysteme ( Yoga)enthalten viele Vorstellungen von Seele und deren Verwandtschaft. Banal kommt es im berühmten Spruch zum Ausdruck: „Wir sind alle Engel mit nur einem Flügel. Um fliegen zu können, müssen wir einander umarmen.“ Tobias Prüwer

T

The Weeknd Das Bedürfnis, mal jemand anderes sein zu können, kennen viele. Was aber, wenn man jemand anderes ist – und eigentlich wieder man selbst sein möchte? Dem US-Rapper The Weeknd ging es so: Bekannt geworden ist er mit diesem Künstlernamen, den er sich laut eigenen Aussagen gab, weil er als Jugendlicher an einem Wochenende weglief und nie wiederkehrte. Nun aber habe er unter diesem Pseudonym alles gesagt und wolle sein Alter Ego „töten“, um unter seinem bürgerlichen Namen – Abel Tesfaye – „wiedergeboren“ zu werden und Musik (➝ Elektro) zu veröffentlichen. Mit diesem Wunsch ist er in der Musikwelt nicht allein. Eines der prominentesten Beispiele: Cat Stevens. Der als Steven Georgiou in London geborene Sänger konvertierte nach einer Nahtoderfahrung in den 70er Jahren zum Islam und änderte auch seinen bürgerlichen Namen in Yusuf Islam. Unter anderem wollte er Frauen nicht mehr die Hand geben und verschrie die Gitarre als „westliches Instrument“. Seinen ursprünglichen Künstlernamen wurde er aber nach Jahrzehnten nie los. Heute steht auf den Tourplakaten – Gitarre spielt er unterdessen wieder – etwas schizophren „Cat Stevens/Yusuf“. Abel Tesfaye könnte das eine Warnung sein: Wiedergeburt hin oder her – wie man genannt wird, entscheiden am Ende die anderen. Konstantin Nowotny

Y

Yoga Nomen est omen. Darum kann man als Volker Bretz sicherlich beruflich vieles anstellen, aber schwerlich als spiritueller Lehrer auftreten. Das klingt einfach zu wenig nach Charisma. Darum ist der Gründer des Franchiseunternehmens Yoga Vidya in der Szene als Sukadev („der Strahlende“) bekannt – dem Sanskrit sei Dank. Praktischerweise hat die Firma eigens eine Liste, aus der man sich einen Namen für die Mantra-Weihe herauspicken kann. Und die Übersetzung wird gleich mitgeliefert; wer hat vor Achtsamkeit und neuer Innerlichkeit schon Zeit für Altindisch? Da kann man als „Herr der Welt“ auftreten, als „Die auf einer Wildgans reitet“ oder „Licht des Om“. Nicht nur in hinduistisch inspirierten Spiritualitätskreisen, sondern in vielen Religionen haben Namen eine besondere Bedeutung. Manche Namen sollte man jedoch nicht explizit aussprechen, wie Voldemort als „der, dessen Name nicht genannt werden darf“, umschrieben wird. In der Postmoderne vermischen sich Religion und Fantasy, kaum verwunderlich, wenn auf einschlägigen Namenslisten Legolas neben Gabriel und Lyanna steht. TP

Z

Zeitschleife Stanisław Lems einsamer Raumpilot Ijon Tichy (Sterntagebücher,1976), später Direktor des Instituts für die „telechronische Ausbesserung der Geschichte“, geriet eines Tages schlafend in einen kosmischen Zeitschleifenstrudel. Wachte auf und blickte sich selbst ins Gesicht. Was er nur wegen zweier Warzen, „groß wie Walderdbeeren“, erkannte. Anderntags rüttelte er sein gestriges Selbst aus dem Schlaf, weil er Hilfe bei einer Reparatur brauchte. Er war von „Der am Montag“ zu „Der am Dienstag“ geworden. Um das abzukürzen: Irgendwann ist die Raumkapsel voller Ijon Tichys. Es kommt zu nervigen Gruppendynamiken. Zwei minderjährige Ijons, während die Großen streiten, reparieren das Schiff. Und Ijon gerät wieder in den ruhigen Fluss der linearen Zeit. Michael Suckow