Vollidioten aller Länder, vereinigt euch!

Dienstag, 9 Uhr – Queers for Palestine
Noch nachgereicht sei die bisher heftigste antisemitische Entgleisung auf der Berlinale. Sie ging etwas unter, weil geäußert auf der Premiere eines kleinen Films in einer Nebensektion. In den sozialen Medien schlug sie indes einige Wellen. Dort ist der Vorfall auch im Video dokumentiert. Weil am Ende gar der Terrorslogan „From the river to the sea“ fiel, der die Auslöschung Israels fordert, ermittelt gar der Staatsschutz des Landeskriminalamts.
Der Hongkong-Chinese Jun Li, Regisseur von „Queerpanorama“, las auf der Bühne einen Brief seines iranischstämmigen Schauspielers Erfan Shekarriz vor, der vor antisemitischen Gemeinplätzen nur so strotzte: „Während Sie diesen Film sehen, ersticken Millionen von Palästinensern unter dem brutalen, vom Westen finanzierten, Siedlerkolonialismus Israels“, geht es los. Dann: „Die deutsche Regierung und ihre Kultureinrichtungen, einschließlich der Berlinale, tragen in der einen oder anderen Form zur Apartheid, zum Völkermord und zur brutalen Tötung und Auslöschung des palästinensischen Volkes bei.“ Und so weiter und so fort. Es gab großen Applaus. Nur ein paar couragierte Premierenbesuchen unterbrachen die Rede mit Zwischenrufen wie „Befreit Palästina von der Hamas!“
Der Zentralrat der Juden in Deutschland schrieb auf X: „Dass zu Hamas-Parolen Beifall aufbraust, macht fassungslos. Wir gehen davon aus, dass ein solches Verhalten entsprechend sanktioniert wird.“
In „Queerpanorama“ lässt sich ein schwuler Mann durch eine Reihe von Sexdates treiben, bei denen er jeweils die Identität des vorigen Dates annimmt.
Wer sich übrigens wundert, dass schwule Aktivisten ein von der Hamas regiertes Israel fordern, in dem sie eher nicht so gern gesehen wären, dem hilft dieses Versatzstück aus dem zeitgenössischen Textbaukasten weiter, das ebenfalls in Jun Lis Rede vorkam: „Wir sind nicht frei, bis wir nicht alle frei sind. Ob du nun queer oder Palästinenser bist.“ Diese bizarre Logik nennt sich „intersektional“ und gehört heute einfach dazu. Quasi das zeitgenössische „Vollidioten aller Länder vereinigt euch“. küv
Montag, 23 Uhr – Gute Idee, deutsche Harmlosigkeit
Am Montag der erste deutsche Wettbewerbsbeitrag: Frédéric Hambaleks „Was Marielle weiß“. Julia Jentsch und Felix Kramer spielen die Eltern einer Teenagertochter, besagter Marielle (Laeni Geiseler). Sie sind eine Bilderbuchfamilie: er Lektor in einem Buchverlag, sie irgendwas mit Business in einem gesichtslosen Büro, dessen Open-Work-Space den Geist der Gegenwart atmet. Sie fährt Mercedes, er Elektro-VW. Nach Feierabend begegnen sie einander in der heimischen Designerküche und nippen Rotwein aus bauchigen Gläsern. Sex eher Fehlanzeige, aber auch darin dürften sie sich für jede Max-und-Melanie-Mustermann-Kampagne bewerben.
Das idealisierte Durchschnittsleben der oberen Mittelklasse bekommt schnell Schlagseite: Nach einer Ohrfeige in der Schule entwickelt die Tochter Marielle ein erstaunliches Talent – sie kann fortan alles hören und sehen, was ihren Eltern geschieht und was sie von sich geben. Den dirty talk der Mama mit dem Kollegen (Mehmet Ateşçi), die Demütigungen, die der Papa bei einer Entscheidung über ein Cover einsteckt, und alles andere auch. Kein heruntergefallener Salat, keine Prügelei in der Tiefgarage entgeht ihrer neuen Allwissenheit, die locker die Erzähler des 19. Jahrhunderts wie den chinesischen Geheimdienst in den Schatten stellt.
Das zeitigt alle möglichen Folgen, erwartbar, aber trotzdem zum Fremdschämen lustig. Erst streiten die Eltern alles ab. Nein, die Mama raucht doch nicht! Nein, der Papa ist doch kein Schlappschwanz! Dann lässt keine noch so heuchlerische Selbstgerechtigkeit mehr zu, all die kleinen Sauereien abzustreiten, die sich im Alltag so summieren. Die Mama lässt sich endlich vom Kollegen bumsen und fordert stehenden Fußes die offene Beziehung. Der Papa lässt sich von der Tochter alles haarklein erzählen.
Ganz nett, das Ganze. Die Idee brillant, die Ausführung eher kleines Fernsehspiel, harmlos und verdaulich. Die Amis laufen sich schon fürs Remake warm. küv
Montag, 19 Uhr – „Köln 75“: Mala Emde bringt den Saal zum Jammen
In „A Complete Unknown“ geht man wegen Timothée Chalamet und den Liedern von Bob Dylan. Der Rest ist gewöhnliches Musiker-Biopic-Geklimper, wie es jedem halbwegs die Töne beherrschenden Hobby-Pianisten von der Hand gehen würde. Viel spannender ist dagegen der andere Musiker-Film, der gestern Abend Premiere feierte. Ido Fluks „Köln 75“ erzählt von Keith Jarrett’s legendärem „Köln Concert“ – kommt dabei aber ganz ohne Jarretts Musik aus (der hat sich nachträglich von seinem Konzert distanziert und die Rechte nicht freigegeben).
Um ein Biopic handelt es sich deshalb auch nicht im klassischen, sondern eher im jazzigeren Sinne. Denn Fluk stellt nicht den Musiker, sondern das sogenannte „Gerüst“ hinter ihm in den Fokus. Namentlich ist das die deutsche Schülerin Vera Brandes, die Jarrett 1975 nach Köln holte und das gesamte Konzert für ihn organisierte. Das Konzert, das Jarrett auf einem kaputten Flügel spielen musste und das zu einer der meistverkauften Jazzplatten aller Zeiten wurde.
Mala Emde, die Vera Brandes mit inbrünstiger Überzeugungskraft spielt, hat mir heute im Interview erzählt (das in voller Länge zum Kinostart im März in der WELT erscheint), dass der Applaus auf der gestrigen Premiere zu einer Art Jamsession geworden ist und tausende Zuschauer plötzlich mit ihren Händen Musik gemacht haben. „Das ist mir noch nie passiert“, sagte die 28-Jährige mit leuchtenden Augen. In der Tat ist „Köln 75“ ein Gute-Laune-Film, der umgehend die Stimmung hebt. Experimentell bricht er mit der vierten Wand, informiert interessant über Jazz und Zeitgeschichte, und funktioniert stets mit einem ironischen Augenzwinkern. Absolut sehenswert. gold
Montag, 12 Uhr – „Heldin“ und „If I Had Legs, I‘d Kick You“: Dauergestresste Heldinnen
Als hätten sich die Filmemacher schon im Voraus in die gehetzten Berlinale-Reporter hineinversetzt, handeln erstaunlich viele Filme von dauergestressten Heldinnen. Vom Wettbewerbsbeitrag „Hot Milk“ war unten schon ausführlicher die Rede, Rebecca Lenkiewiczs Mutter-Tochter-Reise, die Emma Mackey als private Pflegerin ihrer im Rollstuhl sitzenden Mutter vor unterschiedliche Herausforderungen stellt.
Auch „Heldin“, Petra Volpes grandioses Krankenhauskammerspiel aus der Sektion „Berlinale Special Gala“, begleitet eine überforderte Pflegefachkraft einen Tag lang bei ihrer Arbeit in einem unterbesetzten Schweizer Krankenhaus. Dort hat sie es mit fordernden Privatpatienten, krebskranken Müttern und ungeduldigen Angehörigen zu tun. Eine Tour de Force, die die stets bemühte und professionell agierende Floria (wie immer toll: Leonie Benesch) an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringt – bis sie schließlich ausflippt.
Außerdem gelingt Mary Bronsteins Wettbewerbsbeitrag „If I Had Legs I’d Kick You“ eine radikal subjektive Innenansicht einer ausgebrannten Mutter. Linda (Rose Byrne) muss sich erstens um ihre kranke kleine Tochter kümmern, die Nahrung derzeit über einen Schlauch zu sich nimmt, zweitens um ein riesiges Loch, das sich mitten in ihrem Wohnzimmer plötzlich in der Decke auftut, und drittens um ihre Patienten, die sie als Therapeutin aufsuchen: etwa die Mutter, die verschwindet und ihr Baby in Lindas Praxis alleine zurücklässt, und der aufdringliche Mann, der Linda seine erotischen Träume mit ihr gesteht.
Doch man kann über diese Patienten nicht urteilen, solange Linda, mit der man stets mitleidet, selbst eine solch „problematische“ Patientin ist. Ihren eigenen Therapeuten, souverän gespielt vom Comedian Conan O’Brien, belästigt sie verzweifelt mit Wutattacken und übergriffigen Anfragen. Als dieser ihr schließlich inmitten der allseitigen Anspannung in einem bizarren Exkurs von seinen gewaltvollen Tierversuchen mit Ratten erzählt, versteht man absurderweise, warum Linda plötzlich ganz ruhig wird, endlich konzentriert und interessiert zuhört. Diese Szene gehört zu den vielen fantastischen Höhepunkten dieses Bären-Favoriten.
„If I Had Legs I’d Kick You“ gleicht einem abgekämpften Drogentrip, was durch Kameramann Christopher Messinas Nahaufnahmen von Lindas Gesicht und die wiederum konsequente Auslassung des Gesichts ihrer Tochter verstärkt wird. Auch Lindas Mann hören wir lange Zeit nur als zusätzlich stressende Stimme am Telefon, bis er gegen Ende schließlich selbst auftaucht. Sowie die Tochter, die sich erst im allerletzten Bild vor dem Abspann zeigt. Jetzt, ahnt man, kann Linda vielleicht Heilung finden.
Als Berlinale-Reporter, der in der Kälte zwischen Kinos, Interviews, Schreibtischen, Empfängen und Warteschlangen navigiert, kann man sich in jeden einzelnen dieser drei Ausgelaugten am Rande des Nervenzusammenbruchs hervorragend hineinversetzen. Vielleicht ist es auch kein Wunder, dass alle drei Filme von Frauen stammen und von Frauen erzählen. gold
Montag, 11.30 Uhr – Ein Favorit für den Goldenen Bären
Ein auffällig wiederkehrendes Thema im Wettbewerb: Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Vor ein paar Tagen litt Emma Mackey in „Hot Milk“ unter ihrer womöglich psychosomatisch gelähmten Mutter. Der Vater war längst abgehauen. Gestern Abend lieferte Rose Byrne in Mary Bronsteins „If I Had Legs, I’d Kick You“ ein Kabinettstückchen einer überforderten Mutter. Der Vater (Christian Slater) war ein autoritärer Soldat irgendwo im Einsatz. Und heute am frühen Morgen schlugen sich in Vivian Qus „Girls on Wire“ zwei junge Chinesinnen durch eine kaltherzige Welt aus Geld und Drogen. Die Väter waren schwach, süchtig oder unbekannt.
„Girls on Wire“ hat eher keine Chancen auf einen Bären. Sozialdrama, Thriller und sogar ein bisschen Komödie wollen sich nicht recht zu einem Ganzen fügen. Trotzdem ist viel daran interessant, besonders die Performances der beiden Hauptdarstellerinnen, gespielt von Liu Haocun und Wen Qi. Wie im überragenden „The Ice Tower“, der gestern lief (siehe weiter unten im Text), spielen große Teile zudem an einem Filmset. Es geht um Selbstbehauptung, ja das nackte Überleben in einem zeitgenössischen China, das keine Gnade kennt. In Rückblenden träumt die junge Tian Tian davon, eine Krähe zu werden, denn auch Unglücksvögel können einfach davonfliegen. Später, als sie längst auf ihrem eigenen Weg ins Unglück ist, trägt sie das Tier auf den Unterarm tätowiert. Ihre Cousine wollte Schauspielerin werden, hat es aber, auch weil die Rollen so lächerlich sind, dass sie dabei nicht ernst bleiben kann, nur zum Stuntdouble gebracht. Am interessantesten ist die Räuberpistole, wenn die Realität des Landes durchscheint, dessen Kultur auch die Zukunft sehr prägen dürfte. Man hätte sich mehr davon gewünscht.
„If I Had Legs, I’d Kick You“ saust mit seinen flirrenden, rastlosen Bildern auf einen der Favoritenplätze des bisherigen Wettbewerbs. Es geht um eine Mutter, die mit dem Muttersein hadert. Ihre Tochter ist so magersüchtig, dass sie künstlich ernährt wird. Überall klaffen die Löcher: im Bauch der Tochter, die wir erst in der letzten Einstellung zu sehen bekommen, wie in der Wohnungsdecke. Die Kamera bleibt ganz nah an den Protagonisten, in unerbittlichen Close-ups, vor allem an Byrne. Wir können, während sie an wirklich jeder Verrichtung des Alltags scheitert, jeder Faser ihres eleganten Gesichts beim Entgleisen zusehen. Den silbernen Bären hätte sie dafür verdient. In Nebenrollen: A$AP Rocky und Conan O’Brian. So nah der Film einem geht, so hat er, wie der Chinese heute früh, komödiantische Anteile. Es ist ein arg schwarzer Humor, der zum Beispiel einen Hamster schon in seiner ersten Filmminute unter den Reifen eines Lasters zermalmt. Erstaunlicherweise geht die Mischung auf – ganz groß!
So viel nur kurz dazu. Ich muss weiter in den nächsten Film: „Was Marielle weiß“, den deutschen Beitrag mit Julia Jentsch und Felix Kramer. Bis später. küv
Sonntag, 23:49 Uhr – „Islands“: Familienaufstellung auf Fuerteventura
Nach „Hot Milk“ ist „Islands“ nun schon der zweite Film, der im Strandurlaub spielt und bei dem unter der sengenden Hitze irgendwann die Nerven blank liegen. „Oh Boy“-Regisseur Jan-Ole Gerster verlegt sein Erfolgsrezept – einen jungen Mann verloren durchs Leben torkeln zu lassen – von Berlin nach Fuerteventura. Und es funktioniert auf der Insel ebenso brillant!
Die glaubhafte Dreiecksgeschichte zwischen Ehemann (Jack Farthing), Ehefrau (Stacy Martin) und Tennistrainer (Sam Riley) erinnert in ihrer Verknüpfung von Tennis und Erotik an Luca Guadagninos „Challengers“. Als nach einer wilden Nacht der Vater auch noch verschwindet und ein Mordverdacht im Raum steht, entwickelt sich der Urlaubsthriller mit „White Lotus“-Vibes zu einem klassischen Who- und Whydunit. Alle Möglichkeiten werden aufgerufen, nur um gleich darauf wieder unterwandert zu werden. Ein überraschender Wendepunkt reiht sich an den nächsten. Die Szene, in der ein totes Kamel aus dem Meer gezogen wird, gehört jetzt schon zu meinen Lieblingsmomenten dieser Berlinale. Zur ausführlichen Kritik geht es hier. gold
Sonntag, 17:30 Uhr – Tilda Swinton und Luisa Neubauer stellen Endzeit-Musical „The End“ vor
Man könnte die bisherigen Filme auch nach ihren Wetterlagen ordnen. Da war Tom Tykwers „Das Licht“, in dem es ununterbrochen regnet. Dann gab es Rebecca Lenkiewiczs „Hot Milk“, wo die Sonne sengend heiß auf Spaniens Küste scheint. In Jan-Ole Gersters „Islands“ herrscht ähnlich glühende Urlaubsstimmung auf Fuerteventura. Und dann ist da „The End“, das neue Apokalypsen-Musical mit Ehrenbär-Preisträgerin Tilda Swinton. Mubi zeigt den Film, der in Deutschland Ende März ins Kino kommt und seine Deutschlandpremiere bereits beim Filmfest Hamburg hatte, im Rahmen der „Woche der Kritik“ in der Astor Film Lounge.
Zur Einstimmung auf den Film darf auch Klimaaktivistin Luisa Neubauer ein paar Worte sagen. Ihre Botschaft „Unite for Climate Action #EndTheEnd“ trägt sie dieses Mal statt auf ihrem Kleid auf einem braunen Pappschild vor sich her. Lange hieß es, so Neubauer, dass es nicht genug Filme über das Klima gebe. „Aber das ist nicht wahr. Das Klima ist immer da. In jedem Film, der etwa in der Spanne eines Jahres spielt, wird das Klima entweder abgebildet oder ignoriert.“ Im Film „The End“ gehe es um die „Widersprüche und Doppelstandards“, in die wir alle verstrickt sind – wir, die wir von der Zerstörung profitierten. Auch Regisseur Joshua Oppenheimer, der sich bisher mit Dokumentarfilmen einen Namen gemacht hat („The Act of Killing“, „The Look of Silence“), nutzte die Gelegenheit, um seinen Film vorab auf der Bühne politisch abzustecken: Ihn freue die Premiere in einer Stadt, aus der seine Großmutter einst geflohen sei. Das sei besonders wichtig angesichts des „drohenden Autoritarismus in Europa“ und dessen, was in Gaza „in seinem Namen als jüdische Person“ geschehe.
„The End“ spielt einige Jahre nach der Klimakatastrophe in einer zum unterirdischen Bunker umgebauten Salzmine. Ähnlich wie in „The Room Next Door“ fügt sich Swinton elegant in die hoch ästhetisierte Kulisse. Sie mimt das Oberhaupt einer Familie, die sich vor dem Weltuntergang gerettet hat, dafür aber viele Familienmitglieder und Freunde zurücklassen musste. „Wir konnten ihnen nicht vertrauen“, rechtfertigen sich die Figuren öfter. Ebenso häufig fällt der Satz „Wir hatten keine andere Wahl“. Bis eines Tages ein Eindringling (Moses Ingram) an ihre Schwelle gespült wird. Zuerst beschließt die namenlos und auf ihre Positionen im Familiengerüst reduziert bleibenden Figuren, die Mutter (Tilda Swinton), der Vater (Michael Shannon) und der Sohn (George MacKay, „1917“), die fremde Frau loszuwerden. Schließlich könne man ihr nicht trauen und so viele andere, ihnen näher stehende geliebte Personen habe man auch zurücklassen müssen. Doch als die Frau sich mit Händen und Füßen wehrt, darf sie schließlich doch bleiben. Und bringt mit ihren direkten Fragen so einige verdrängte Wahrheiten und sorgsam kuratierte Lebenslügen ans Licht.
Acht Jahre brauchte Oppenheimer, um sein gigantisches Endzeit-Spektakel fertig zu stellen. Das bedrohliche Schwanken am Abgrund, das jeder Musical-Harmonie von Anfang an eine Absage erklärt, erinnert an Leo Carax‘ „Annette“, kommt aber nicht ganz an dessen monströse Wucht heran. Zu brav bleiben hier die blassen Menschen vor den farblich genaustens abgestimmten, in den verschiedensten Hellblau-Tönen schimmernden Räumen: Der Vater, der einst hart gearbeitet hat, um sich in der Energiebranche etwas aufzubauen, und auch jetzt noch behauptet, er habe den Leuten doch ermöglicht, sich fortzubewegen und zu reisen. Die Mutter, die ihre Zeit damit verbringt, die Gemälde der großen Meister anzustarren, und es nicht aushält, wenn sie zurückstarren. Der Sohn, der die Welt da draußen, wie sie einst aussah, nur von Fotos und vom iPad kennt.
Swinton, von Moderatorin Salwa Houmsi zu ihrer Herkunft aus einer adligen schottischen Familie und den „eat the rich“-Elementen des Films befragt, erklärt im anschließenden Q&A: „Das sind wir. Wenn jemand sagt, ‚es sind die andern‘, dann haben wir wirklich ein Problem. Wir sind diejenigen, die wählen, einkaufen und reisen.“ gold
Sonntag, 17 Uhr – „La Tour de Glace“: Der kalte Kuss der Marion Cottilard
Der Berlinale-Sonntag ist bislang der entspannteste Tag. Es laufen zwar drei Wettbewerbsfilme, aber dazwischen sind keine Interviews geplant. Von Partys und Empfängen ist mir auch nichts bekannt, was aber bestimmt nur an mir liegt. Es hat sich auch noch niemand antisemitisch geäußert, jedenfalls, sofern ich das mitbekommen habe. Dazu ist die Sonne draußen, pünktlich zur Premiere von „La Tour de Glace“ (Der Eisturm).
Eine wesentliche Rolle in dem Period Piece spielt Marion Cotillard. Period Piece heißt ein Film , wenn seine Handlung in der Vergangenheit angesiedelt ist, aber nicht so weit, dass man von einem Historiendrama sprechen würde. Im vorliegenden Fall geht es um die 70er-Jahre, irgendwo in den französischen Alpen.
Der Teenager Jeanne lebt in einem Waisenhaus in den Bergen. Für ein noch jüngeres Mädchen ist sie der Mutterersatz. Nachts liest sie ihm aus der „Schneekönigin“ vor, dem Märchen von Hans Christian Andersen, in dem ein kleiner Junge in den Bann kalter Schönheit geschlagen wird. Eines Morgens macht Jeanne sich auf den Weg hinaus in die Welt und lässt ihr De-facto-Mündel zurück – nicht ohne ihm aber eine Zauberperle geschenkt zu haben, einen Stein aus der Kette von Jeannes toter Mutter.
Diese Zusammenhänge enthüllen sich erst allmählich. Im Film bleibt Jeanne lange eine weiße Leinwand, auf die der Zuschauer seine Vorstellungen projizieren kann. Sie landet in einer nahen Stadt in einem Filmstudio, in dem zufällig gerade die „Schneekönigin“ gedreht wird, eben mit Cotillard in der Hauptrolle. Weitere Zufälle befördern sie erst zur Statistin – wenn auch unter der geborgten Identität einer gewissen Bianca – und schließlich zur zweiten Hauptdarstellerin.
Unwahrscheinlich? Kann man wohl sagen. Aber auch wunderschön. Der Reiz von Lucile Hadžihalilovićs Film (Buch und Regie) liegt nicht im Was der Handlung, sondern dem Wie der Erzählung. Motive werden mit brillanter Stringenz enggeführt. Es hat etwas von einer musikalischen Komposition, einem Stück von Philipp Glas, dessen transparent-verschlungene Melodien seinem Namen alle Ehre machen. Das Tempo, in dem Cotillard und die fantastische Debütantin Clara Pacini umeinander kreisen, hat sich die Regie von einem der nahen Gletscher abgeschaut.
Stilisierung und ästhetische Konsequenz stehen klar im Vordergrund, aber anders als zum Beispiel gestern Abend bei „Reflet dans un diamant mort“ (Spiegelung in einem toten Diamanten), einem anderen frankophonen Wettbewerbsbeitrag, erschöpft sich das formale Spiel nicht in sich selbst, sondern steht im Dienst herzzerreißender Menschlichkeit. Pacini spricht wenig. Auch ihr Gesicht ist von einer beinahe skandinavisch-minimalistischen Schönheit. Aber ihre Augen sagen alles, künden von abgrundtiefer Traurigkeit, von verspieltem Witz, von Mut und Hoffnung. Man versteht Cotillards Schneekönigin gut, die die eigenen Augen nicht von dieser Bianca/Jeanne abwenden kann. Eine Amour fou entspinnt sich, die gewissenhaft die Haupthandlungselemente von Andersens Vorlage abhakt, aber dabei unglaublicherweise lebendig und, im Rahmen der inneren Logik des Films, glaubhaft bleibt.
Wer sich auf die Langsamkeit und Hyperstilisierung einlässt, wird reich belohnt mit weit mehr als einem kalten Kuss. Letztlich geht es um den Abschied von der Kindheit.
Für mich einer der Favoriten bisher, der wegen seiner Sperrigkeit als Geheimtipp ins Rennen geht. küv
Sonntag, 8:30 Uhr – Wir gefallen uns in unserer Selbstlosigkeit
Überall sticht dieses Jahr die fatale Verquickung von Kapitalismus und Hypermoral ins Auge. „Concious Fashion“, steht milchig auf dem Peek&Cloppenburg-Schaufenster in der Mall of Berlin, da wo ausgehungerte Filmkritiker mittags schnell was hinunterschlingen. Alles grün und öko und nachhaltig, auch das Sushi im sogenannten Food Court, der chinesische Hot Pot, die Burger und der restliche Fraß, der einem lieblos hingeknallt wird für Minimum 13 Euro. Eine kleine Cola kostet 3,50 Euro.
Inflation heißt ja nichts anderes als Aufgeblasenheit. Genau so ist es. Alles über jedes Maß aufgeblasen. Wenn wir schon bei jedem Bissen zusammenzucken, weil nicht nur die Polkappe schmilzt, sondern auch unser Kontostand, dann wollen wir uns doch wenigstens wohlfühlen, unseren Teil beigetragen zu haben zur Rettung der Welt.
Flaubert spießte die Neigung des Menschen zur psychosozialen Selbstgeißelung schon in „Madame Bovary“ auf. Da wirft die auf den Hund gekommene Titelfigur einem Bettler ihr letztes Geld hin. Sie gefiel sich in ihrer Selbstlosigkeit – so schreibt Flaubert sinngemäß.
Tom Tykwers „Das Licht“ versucht sich an einer Kritik dieses Zustands – und scheitert so kolossal, weil der ganze Film selbst in der gleichen Bewegung steckenbleibt. Er ist quasi die letzte Münze, die Tykwer wegwirft, um sich selbst zu erhöhen.
Der prinzipiell sehr schöne „Mickey 17“ von „Parasite“-Regisseur Bong Joon-ho ist da etwas weiter. Der unerlässlich ausrangierte und neu ausgedruckte Menschenkörper ist kein schlechtes Bild für die Zustände, in denen wir uns befinden. Trotzdem reißt die Feel-good-Moral mit ihrer schlechten Trump-Parodie und einem aufmunternden Schluss die Latte jedes denkenden und fühlenden Menschen. Die Message des Films ist letztlich Quatsch mit einer der Soßen, auf die Toni Collette so scharf ist. Darauf ein 5-Euro-Heineken in der CinemaxX-Bar.
Und hypermoralisch geht es gleich weiter: Im Wettbewerbsfilm „O último azul“, in dem eine 77-Jährige ihrer Entsorgung in ein Altenheim entgeht, indem sie sich im Amazonas verläuft. Zurück zur Natur – ob das die Lösung ist, oder auch eher Teil des Problems? küv
Samstag, 19 Uhr – „Mickey 17“: Flotter Dreier mit sich selbst
Um sein Monster zusammenzubasteln, musste Dr. Frankenstein noch allerlei Gräber schänden, bis er genügend Gliedmaße beisammen hatte. In „Mickey 17“, dem heiß erwarteten neuen Film des „Parasite“-Regisseurs Bong Joon-ho, kommen die Körper aus dem 3D-Drucker. Gespeist wird das Gerät mit allem möglichen Müll, der auf einer interstellaren Reise so anfällt. Der Clou daran: „Mickey 17“ wirkt selbst wie ein anarchisches Amalgam aus lauter berühmten Vorbildern, die mal hier, mal da geplündert wurden.
Als da wären: „Starship Troopers“, „Mars Attacks“, „Brazil“, „Das fünfte Element“, „The Hitchhikers Guide to the Galaxy“, „Poor Things“, die erst zwei Jahre alte Sensation des Griechen Giorgos Lanthimos, die sich ebenfalls großzügig beim Frankenstein-Stoff bedient, und zuletzt Bong Joon-hos eigener „Snowpiercer“ (2013). Diese Liste lässt zwei Dinge erahnen, die sie alle gemeinsam haben: ein futuristisches Setting und einen dadaistischen Witz.
Robert Pattinson spielt besagten Mickey, vorläufig noch Nummer eins, der irgendwann in der nicht so fernen Zukunft mit einem Macaron-Laden pleitegegangen ist und vor einem Kredithai in den Weltraum flieht. Der ebenfalls auf den Hund gekommene Senator Kenneth Marshall (Mark Ruffalo) ersehnt, seine Vision einer idealen Gesellschaft auf einem fremden Planeten zu verwirklichen. Diese Vision besteht im Wesentlichen in selbstdarstellerischer Alleinherrschaft, als oberster Boss der Regierung, einer „Kirche, äh, Firma“ und auch als clownesker TV-Host der einzigen Fernsehshow. Zur Seite stehen soll ihm bloß seine ergebene Frau Ylfa (Toni Collette), deren Lebensziel im Zubereiten wohlschmeckender Soßen besteht.
Auf der Erde gibt es hinreichend Hoffnungslose, um die Mannschaft des Raumschiffs zu bestücken. In seiner Not bewirbt sich Mickey als „Expendable“, also, wie man auch aus der gleichnamigen Filmreihe weiß, als Ausgemusterter, Verzichtbarer. Ob er auch wirklich das Kleingedruckte gelesen habe? Ja, ja. Hat er natürlich nicht. Denn der Job hat seine Tücken. Mickey dient als Versuchskaninchen für alles: Verzehr synthetischen Fleisches, neuartige Schmerztherapien, Weltraumstrahlung, fiese Mikroben. Feierabend ist erst, wenn er stirbt. Es folgt ein neuer Mickey aus dem Drucker. Der Einfachheit halber werden die Klone durchnummeriert.
Mickey 17, auf den sich der Film konzentriert, hat sich mit seinem Schicksal arrangiert. Er hält es für die gerechte Strafe dafür, dass er einst den Unfalltod seiner Mutter verschuldete, auch wenn darüber die Meinungen auseinandergehen. Mickey 18 sieht das zum Beispiel erheblich anders.
Die Mickeys sind nämlich nicht miteinander identisch, sie gleichen einander nur, weil die komplexe Prozedur des Erinnerungen-Uploads mitunter etwas zickt. Es passiert auch mal, dass ein tollpatschiger Wissenschaftler ein Kabel aus dem Computer reißt. Oder, weil ein Computerspiel gerade so spannend ist, vergisst, den Tisch unter den Drucker zu stellen. Pattinsons Körpers ruckt dann sehr possierlich, wie man es von handelsüblichen Printern kennt, ein paarmal vor und zurück, bis er schlaff auf den Boden knallt.
In der ersten Szene des Films, einem kleinen Vorgeschmack, bevor der Reihe nach erzählt wird, liegt er auf dem Planeten Niflheim in einer Gletscherspalte und wartet darauf, von riesigen Küchenschaben verspeist zu werden. Die weichen aber vom erwartbaren Skript furchterregender Alienmonster ab und retten ihn. Inzwischen ist allerdings, weil man Nummer 17 für tot hielt, Mickey 18 ausgedruckt worden. Was alle möglichen Verwicklungen auf den Plan ruft, von der Möglichkeit flotter Dreier mit seiner Freundin Nasha (Naomi Ackie), bis zum drohenden endgültigen Tod, weil sogenannte „Multiples“ bei Todesstrafe verboten sind, seit einer der Erfinder der Technologie gleichzeitig Morde beging und sich ein Alibi verschaffte.
So viel zum Plot, ohne allzu sehr zu spoilern. Wirklich, keine Aufregung, der doppelte Mickey erscheint ziemlich früh in der Handlung, und dann geht es erst richtig los.
Regie und Schauspieler hatten sichtlich großen Spaß. Robert Pattinson spielte seine beiden Mickeys wie Dick und Doof, mit verschiedenen Stimmen und verschiedenen Temperamenten, einer mild, der andere hart. Zum Glück mag Nasha beide. Es gibt zudem eine Konkurrentin (gespielt von Anamaria Vartolomei), die vorschlägt, man könne sich doch nun vielleicht gütlich einigen.
Für große Amouren fehlt jedoch die Zeit. Mark Ruffalo spielt sich noch mehr um Kopf und Kragen als in „Poor Things“. Mit Überbiss und explodierender Frisur karikiert er Politiker im Trump-Stil, bis die Schwarte kracht. Ob sein näselndes Knallchargentum noch lustig ist oder schon eins drüber, muss jeder selbst entscheiden. Nach einer Schimpftirade gegen ihn gab es in der Pressevorfühung Szenenapplaus, weil man es dem Rüpel mal so richtig gegeben hatte. Tja, wenn Trump nur die Wahl verloren hätte, was bei den Dreharbeiten nicht absehbar war. Dann könnte man schön auf ihm rumhacken. So fühlt sich die Persiflage etwas schal an.
Bong Joon-ho widersteht der eigentlich naheliegenden Versuchung, die Abgründe von Identität, Schmerz, Sterben zu ergründen – oder auch der Klassenfrage. Es gibt eine Romanvorlage namens „Mickey7“ vom Autor Edward Ashton. Ich habe sie nicht gelesen und kann nicht sagen, ob es dort genauso ist. Schade ist es allemal. „Snowpiercer“ war da wesentlich radikaler und tiefschürfender. So bleibt „Micky 17“ eine ziemlich oberflächliche Tour de Force, die mal wieder zeigt, dass den Koreanern in Sachen stylishe Bilder keiner etwas voraushat. Immer wieder zündet der alberne Witz, etwa, wenn Mickey bei einem Dinner mit Marshall alles vollkotzt, weil das servierte Fake-Steak vor bösen Hormonen strotzt. Ruffalo will ihn daraufhin von seinem Elend erlösen – er wird ja ohnehin wiedergeboren. Entsetzt zieht Ylfa vorher ihren „iranischen Täbriz“ zur Seite, einen wertvollen Perserteppich. Das ist gut geölter Slapstick und ziemlich unterhaltsam.
Irgendwie kommt die Sache bloß nie in einen Flow, der einen vergessen ließe, dass man einen Film sieht. Die gesamten 137 Minuten verharrt man in amüsierter Halbdistanz und schaut zu, welche fiesen Missgeschicke das Skript für Mickey vorgesehen hat. Also, alles schon gut gemacht, schön gespielt, ganz lustig, sieht super aus. Genug Argumente für einen Kinobesuch. Das war’s dann aber auch. küv
Samstag, 15:10 Uhr – Die Schlange vor der „Screenwriters‘ Lounge“ ist länger als die vorm Berghain
Den Goldenen Bären für die am schlechtesten geplante Veranstaltung erhält bis jetzt mit Abstand die Screenwriters‘ Lounge, der „Treffpunkt für Drehbuchautor*innen während der Berlinale 2025“. Um an Gesprächsrunden wie „Reduziert, kondensiert, Oscar-nominiert: Moritz Binder im Gespräch“ (der Drehbuchautor von „September 5“) oder „Crashkurs Comedy“ teilzunehmen, muss man bis zu zwei Stunden anstehen. Erst eine Stunde draußen in der Kälte vor dem Theater im Palais, dann eine Stunde drinnen im Flur. Es gibt keine Gästeliste, keine Anmeldungen, keine Akkreditierungen – „um alles demokratisch zu halten“, hört man von den Organisatoren entschuldigend. Für jede Person, die den proppenvollen Saal verlässt, darf eine andere hinein. Wer die fast allesamt über zweistündigen Filme bisher unverdrossen ertragen hat, sollte inzwischen zwar geübt sein im Ausharren – aber hier wird die Geduld ganz besonders strapaziert. Hoffentlich ist der Comedy-Workshop gleich so lustig, dass er die ganze Warterei vergessen lässt. gold
Samstag, 15 Uhr – „Kein Tier. So Wild“: Der postmigrantische Shakespeare enttäuscht
Heiß erwartet wurde „Kein Tier. So Wild“, der neue Film von Burhan Qurbani. Die moderne „Berlin Alexanderplaz“-Adaption des 1980 im Rheinland geborenen Regisseurs setzte vor fünf Jahren im Wettbewerb der Berlinale neue Maßstäbe für Klassiker-Verfilmungen einerseits und das postmigrantische Kino andererseits. Dem wird sein neuster Film „Kein Tier. So Wild“ leider nicht gerecht.
In der weiblich-arabischen „Richard III.“-Version nach Shakespearschem Vorbild wirkt alles wie Theater, aufgesagt, hölzern, pathetisch. Da können sich die großartigen Schauspielerinnen (Kenda Hmeidan, Verena Altenberger, etc.) noch so sehr die Seele aus dem Leib schreien, da mag Kameramann Yoshi Heimrath noch so intensiv-überwältigende Gerichtssaal- und Wüstenaufnahmen auf die Leinwand bannen, da mag archaische Ü-16-Gewalt noch so überraschend auf modernen Großstadtalltag treffen – echtes Gefühl kommt nicht auf. Im Mai ist das nächste Theatertreffen, vielleicht hätte sich Qurbani lieber dafür bewerben sollen. gold
Samstag, 10 Uhr – Timothée Chalamet kommt im pinken Hoodie zur Premiere + Campari/„Bunte“ lädt zur Red Night ein
Gestern Abend war einiges los. Erst wagt sich Timothée Chalamet zu seiner Premiere im Berlinale-Palast mit rosa Hoodie und darunter rosa Tanktop, die er vielleicht als Berlin-angemessener eingestuft hat als einen schwarzen Smoking. Recht hat er ja. Dann nimmt auch noch seine fast ebenso beliebte Partnerin Kylie Jenner neben ihm Platz, mit der der Oscar-nominierte Schauspieler seit 2023 zusammen ist. Als Chalamet den Kinosaal betritt, fängt die Frau, die neben mir sitzt, laut an zu schluchzen.
„A Complete Unknown“, das Bob-Dylan-Biopic, für das Chalamet im März den Hauptdarsteller-Oscar erhalten könnte, handelt vom Aufstieg und Ruhm des jungen Bobbie, der sich, je berühmter er wird, selbst immer mehr abhandenkommt. Unweigerlich bezieht man sein Schicksal auf das des jungen Timmie. An einer Stelle sagt der Musiker im Scherz, dass er Gott sei. Wenn man solch einen Witz je einem Schauspieler zugestehen sollte, dann vielleicht dem blassen dünnen Mann im babyrosa Hoodie.
Später geht es dann noch zur Red Night, der legendären Party von Campari und „Bunte“. Am DJ-Pult stehen Shari Who und Nikeata Thompson, zum Essen werden schwarze Tortellini mit Lachsfüllung, Gnocchi in Sahnesoße, Reisbällchen und frittierte Aubergine serviert, zum Trinken Negroni und Campari Spritz. Im rot beleuchteten zweistöckigen Saal, dessen Herzstück die Bar in der Mitte des Raums ist, wuseln fast genauso viele Fotografen wie Stars herum.
Campari ist einer der Hauptsponsoren des Filmfestivals. Damit hält die Marke ihrer langjährigen Beziehung zum Film die Treue: Der italienische Regisseur Federico Fellini drehte in den 1980er-Jahren seinen ersten Werbespot für Campari. Am Ausgang liegen „Bunte“-Magazine zum Mitnehmen bereit, die auf dem Cover Tratsch über die neuesten Verfehlungen Til Schweigers versprechen. Der Schauspieler konnte auf der Party nicht entdeckt werden. gold
Samstag, 9 Uhr – Drei Tage Schach
Unermüdlich rieselt der Schnee. Ich bin an Tag zwei beziehungsweise drei, wenn man den Donnerstag mitzählt, schon halbwegs geschafft. Die kurzen Nächte fordern ihren Tribut. Die Berlinale ist eine Olympiade des Wachbleibens. Ihr Logo sind die täglich wachsenden Augenringe.
Gleich springe ich ins Taxi für ein Interview mit der Schauspielerin Verena Altenberger, die gefühlt alles kann, an der Seite von Lars Eidinger die Buhlschaft in Salzburg gespielt hat wie eine kleine Rolle an der Seite von Tom Cruise in einer „Mission Impossible“. Danach geht’s schnurstracks in den Berlinale-Palast, zur Premiere des neuen Films von „Parasite“-Regisseur Bong Joon-ho: „Mickey 17“ mit Robert Pattinson. Am Abend dann ein weiterer voraussichtlicher Knaller aus dem durchgeknallten Filmland Korea: „The Old Woman with the Knife“. Stay tuned! küv
Freitag, 19:15 Uhr – Starker Start in den Wettbewerb
Die Nachrichten aus dem Kino sind bislang erfreulicher als die außerhalb. Der bittere Beigeschmack des Gutmenschen-Wohlfühlkinos mit angezogener Selbstkritik-Handbremse, das Tom Tykwer im Eröffnungsfilm „Das Licht“ präsentierte, ist nach den ersten beiden Wettbewerbsfilmen vergessen. Unten lesen Sie mehr über Rebecca Lenkiewicz’ „Hot Milk“. Hier ein paar Zeilen zur ersten großen Überraschung, dem starken und stark nachwirkenden „Sheng xi zhi di“ (Living the Land) von Regisseur Huo Meng.
Eine Überraschung vor allem deshalb, weil Chinas Zensur dazu neigt, allein gefälliges Mittelmaß durchzuwinken oder zumindest nur Filme, die behutsam auf der roten Linie des Erlaubten tanzen. Wo genau die allerdings verläuft, das wissen auch chinesische Filmemacher nicht immer. Wahrscheinlich gehört es zum Wesen einer gelingenden Autokratie, sich eine gewisse Unergründlichkeit zu eigen zu machen.
„Living the Land“ spielt im Jahr 1991 und erzählt vom zehnjährigen Chuang (Wang Shang), den seine Eltern in einem Dorf in der Provinz zurückgelassen haben, um ihr Glück im aufstrebenden Shenzhen zu machen. Dort verdient man in einem Monat mehr als das ganze Dorf mit einer Ernte. Das Leben ist beschwerlich, weil im Wesentlichen vorindustriell. Irgendwann taucht ein erster Traktor auf, und ein Großvater will nicht glauben, dass es in Amerika noch viel größere Exemplare geben soll, die 1000 Hektar an einem Tag durchpflügen. Andere träumen davon, die alte Ziegelbrennerei zu reparieren, und lassen sich nicht von Gerüchten abschrecken, dass selbst Fabrikziegel ein kaum nachgefragtes Auslaufmodell seien.
Das Leben ist bestimmt vom Rhythmus der Natur und einer uralten Kultur – Ernten, Begräbnis- und Hochzeitszeremonien. Die verlaufen ganz anders als im Westen. Zu Beginn wird die Leiche eines während der Kulturrevolution Erschossenen exhumiert, um ihn an anderer Stelle neben seiner jüngst gestorbenen Frau zu begraben. Die Kinder balgen sich um die Kugeln, die sich zwischen den Knochen finden: „Er hat sie mir gegeben!“ – „Aber sie steckte in meinem Opa!“ Und eine junge Frau weint leise um ihr Schicksal einer Zwangsheirat. Als sie beim ersten Sex nicht blutet, behandelt sie der Ehemann brutal. „Ich will die Scheidung“, flüstert sie ihrer Mutter zu. Die entgegnet: „Denk nicht mal dran!“
Eine Andere, 29 Jahre alt, hat schon zwei Kinder und ist mit dem dritten schwanger. Man sieht es noch nicht. Die Regierung ordnet eine verpflichtende Untersuchung für alle Frauen im gebärfähigen Alter an. „Check sie besonders gründlich!“, ruft der Bürokrat vor der Praxis. Drinnen zieht sich die Amtsärztin, oder was auch immer sie ist, ohne Nachfrage Gummihandschuhe über. Die Kamera verweilt auf dem Gesicht der jungen Mutter. Ihr schießen die Tränen in die Augen, denn sie weiß, was kommt: ein jäher Ruck, ein scharfer Schmerz. In jenen Jahren fackelt die Regierung, die die Bevölkerung begrenzen will, nicht lange. Ob das heute anders wäre, dazu schweigt der Film natürlich. Er konzentriert sich auf die Zeit vor bald 35 Jahren. Im Corona-Lockdown haben wir gesehen, wie rücksichtslos auch im zeitgenössischen China einmal beschlossene Politik umgesetzt wird.
Der Umstand der historischen Momentaufnahme hat „Living the Land“ wohl die Zensur passieren lassen. Die Kritik an den Zuständen ist zwar omnipräsent – auch im buchstäblich herzzerreißenden Tod eines behinderten jungen Mannes, der ebenfalls den Umtrieben der Bezirksregierung zum Opfer fällt –, aber sie wird nie ausgesprochen. Man meint, einem Dokumentarfilm zuzuschauen. Zugleich lässt der Regisseur das bäuerliche Kollektiv sein karges Leben in wunderschönen Bildern fristen, genau gebaut und dramaturgisch zwar langsam erzählt – die Spielzeit beläuft sich auf über zwei Stunden –, aber das ist auch nötig, damit wir alle Einzelschicksale begreifen und mit ihnen leiden. So geht Kino – wenn die Baupläne der Autoren und Regie vollkommen in den Hintergrund treten und wir in eine andere Welt hinein. Fantastisch! küv
Freitag, 18:15 Uhr – Emma Mackey brilliert in „Hot Milk“
Wie oft hat man sich schon vorgenommen, sich von Schauspieler-Interviews fernzuhalten! Meistens haben die Darsteller entweder nichts annähernd Relevantes über ihre Filme zu sagen oder sie blocken jede noch so harmlose Frage mit einem süffisant-arroganten Lächeln ab. Manche von ihnen, wie zum Beispiel Sandra Hüller, performen die leere Hülle, die Projektionsfläche in Reinform, die zum Schauspielerdasein wohl dazu gehört, sogar derart gut, dass man das Gespräch hinterher gar nicht publizieren möchte. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel.
Emma Mackey ist so eine wohltuende Ausnahme. Die 29-jährige Britin spielt im atmosphärisch-sinnlichen Wettbewerbsfilm „Hot Milk“ die Tochter einer mysteriös erkrankten Mutter (Fiona Shaw), die im gemeinsamen Spanien-Urlaub so einigen tief sitzenden Familiengeheimnissen und -traumata auf die Spur kommt. Nebenher beginnt sie eine Affäre mit einer promiskuitiven Reiterin (Vicky Krieps), die ihr ziemlich schnell einen Mord gesteht. Der Wunderheiler (Vincent Perez), in dessen Hände sich ihre Mutter Rose begibt, fordert diese auf, sich erst einmal mit ihrer Psyche auseinanderzusetzen, um dann ihren Körper zu heilen. Sie solle etwa eine Liste mit all ihren Feinden anfertigen. Lustige Momente wie diese blitzen immer wieder in dem erfrischend Dialog-reduzierten Drama auf.
Man kennt Mackeys markante und doch weiche Gesichtszüge aus der Serie „Sex Education“ und dem Kino-Hit „Barbie“. Im Gespräch im Hotel Adlon beantwortet sie Fragen mit einer interessierten Ausführlichkeit, die eine ganz andere Facette ihres Charakters zeigt als die stille Einsilbigkeit und die plötzliche Aggression, die ihre Filmfigur verkörpert. „Sofia passieren so viele Dinge auf einmal. Es ist heiß, sie wird von einer Qualle gebissen, muss ihre Mutter pflegen, ihre neue Freundin lässt sie immer wieder plötzlich für eine andere Affäre stehen. An ihr wird von allen Seiten gezogen, sie ist verloren und nicht wirklich im Leben verankert. Irgendwann bricht es dann aus ihr heraus“, sagt Mackey über die Wut und die überraschende Entscheidung, die ihre Figur Sofia am Ende des Films trifft.
„Der Film lässt vieles offen, auch ich habe mich beim Drehen der fast biblischen Szene im Wasser, als ich das Boot herausziehe, gefragt: Ist das wirklich Fiona, die da vorn läuft? Oder ein Geist? Man weiß in dem Film nie, was stimmt und was nicht.“ Man merkt Mackey den Spaß an, den sie beim Drehen hatte, aber auch beim Sprechen und Nachdenken über den Film. Dann ist es schon 16:30 Uhr, das war ihr letztes Interview mit deutschen Medien für heute, jetzt folgen die internationalen.
Für mich geht es wieder auf den roten Teppich, zu Timothée Chalamet und seinem Bob Dylan. Aber vorher muss ich noch irgendwo Internet herbekommen, um den Ticker zu aktualisieren. Dass das WLAN in keiner der unzähligen Presse-Lounges um den Potsdamer Platz herum richtig funktioniert, lässt einen fast in einen jener Wutanfälle ausbrechen, die auch Mackey in „Hot Milk“ ständig überkommen und sogar einen unbekannten Hundebesitzer in all ihrer Verzweiflung mit einem Messer bedrohen lassen. gold
Freitag, 18 Uhr – „New Faces Award“ in der Campari-Lounge
Während Timothée Chalamet seine Pressekonferenz im Grand Hyatt Hotel gibt und die Fans für die Abend-Premiere draußen schon Schlange stehen, lädt nebenan Campari zur Vorstellung der „New Faces“ ein. Bei einem alkoholfreien Drink lerne ich die Nominierten kennen. Wer am Ende den roten Panther in den Händen halten wird, erfährt man allerdings erst in ein paar Monaten. Der Preis wird seit 1998 von der „Bunten“ vergeben, die heute Abend auch eine der begehrtesten Partys des Festivals schmeißt. Daniel Brühl, Matthias Schweighöfer, Hannah Herzsprung – „es gibt keinen Preisträger, aus dem nichts geworden ist“, hört man hier. Doch noch während die Preisträgerin des vergangenen Jahres, Katharina Stark aus der Disney-Serie „Deutsches Haus“, ihre Rede hält, muss ich mich schon wieder verabschieden, der nächste Interview-Termin wartet. gold
Freitag, 14 Uhr – Ach, Tilda!
Da ist man mal kurz im Kino, denn es läuft hier ja auch ein Wettbewerb mit 21 Beiträgen, und schon kann mal wieder jemand seinen antisemitischen Schnabel nicht halten. Umso schlimmer, dass es ausgerechnet Tilda Swinton sein muss. Gestern erklärte sie, als sie auf der Eröffnungsgala den Goldenen Ehrenbären fürs Lebenswerk entgegennahm, Berlin ihre unbedingte Liebe. Und Berlin liebte sie zurück, in Gestalt von Edward Berger („Im Westen nichts Neues“, „Konklave“) und Tricia Tuttle, der Berlinale-Chefin. In ihrer Rede schrammte Swinton haarscharf an einer Israelkritik vorbei. „Der vom Staat verübte und international ermöglichte Massenmord“, hatte sie gesagt, „terrorisiert derzeit mehr als einen Teil unserer Welt aktiv. Von genau den Gremien verurteilt, die von den Menschen eigens zur Überwachung der Dinge auf der Erde ins Leben gerufen wurden, die für die menschliche Gemeinschaft inakzeptabel sind.“
Man ahnte, wer gemeint war, aber solange sie es nicht aussprach: Schwamm drüber. Heute auf der Pressekonferenz fragte eine Kollegin der israelischen Zeitung „Haaretz“ nach Swintons Sympathien für die antisemitische Israel-Boykott-Bewegung BDS (Boykott, Desinvestition und Sanktionen). „Ich bin eine große Bewunderin von BDS“, sagte Swinton darauf, „und habe großen Respekt davor.“ Auch gegen die Berlinale gibt es einen BDS-Boykottaufruf, wegen Einladungen an isrealische Produktionen. „Ich habe beschlossen, dass es für mich wichtiger war zu kommen“, sagte Swinton. „Dank des Festivals wurde mir eine Plattform geboten, wie ich sie heute habe, und ich habe in einem persönlichen Moment entschieden, dass dies für unser aller Anliegen möglicherweise nützlicher ist als mein Nichterscheinen.“
So kann man es sehen. Man kann es auch für den eklatanten Fall einer Doppelmoral halten, die lächerlich wäre, wenn sie nicht so grausam mit dem Feuer spielte.
Ich muss in den nächsten Film. Es ist traurig, dass die Antisemitismus-Bombe schon am ersten Tag platzt. küv
Freitag, 9 Uhr – Timothée Chalamet und der erste Wettbewerbstag
Während gleich alle durchdrehen, weil ein Lockenköpfchen mit Schlafzimmerblick so tut, als wäre es Bob Dylan, taucht der Kritiker ab in die programmatischen Untiefen des ersten Wettbewerbstages: Auf dem Zettel stehen heute ein Mammutfilm à la „Once Upon a Time in America“, bloß dass er in China spielt: Über vier Generationen erzählt „Sheng xi zhi di“ vom extremen Wandel in einem extremen Land. Außerdem „Hot Milk“, ein queeres Coming-of-Age-Drama, in dem Vicky Krieps im flirrenden Sommer Spaniens dem „Sex Education“Star Emma Mackey den Kopf verdreht. Am Abend geht Jessica Chastain in „Dreams“ mit einem mexikanischen Balletttänzer eine verbotene Beziehung ein. küv
Freitag, 8:15 Uhr – Künstliche Kino-Intelligenz
Blitzartige Erkenntnis an Tag zwei: Man bräuchte dringend einen Assistenten, der einem frühmorgens die Tickets bucht. Oder einen, der für einen schläft. Ja, das wäre noch besser. Zumindest das Erste könnte doch eigentlich eine dieser KIs übernehmen, von denen jetzt alle reden. ChatGPT, DeepSeek, Perplexity und so weiter.
Man müsste ihr nur Benutzername und Passwort verraten. Hm, am Ende lässt sie sich dann von den Verleihern die Presse-Screener zuschicken und guckt alles selber, in ihrem Heimkino im Cyberspace. Andererseits könnte sie dann auch gleich die Berichterstattung übernehmen. Dafür müsste man ihr wiederum die Kennung für unser Redaktionssystem verraten. Und das geht natürlich nicht, das wäre der erste Schritt zur Weltherrschaft. küv
Freitag, 1:17 Uhr – Die Eröffnungsgala von innen
Wie schön, dachte ich vorhin, auf dem Weg zur Eröffnung, endlich weiße Weihnachten! Doof nur, dass parallel Berlinale ist. Ich würde die elegische Erhabenheit der Natur, die Bäume, Straßen, Litfaßsäulen und selbst die Passanten gleichermaßen in glitzernde Schneeskulpturen verwandelt, gern genießen. Leider schlitterte ich mit den dünnen Fahrradreifen dermaßen durch die Gegend, als wäre ich ein avantgardistischer Plot. Bloß nicht bremsen! Die letzten Meter zu Fuß in die S-Bahn legte ich auf dünnen Ledersohlen zurück wie Buster Keaton, wild schwankend und mit rudernden Armen. Immerhin: Ich lebe noch.
Am Potsdamer Platz weiter dichtes Schneetreiben. Am Einlass tasten die Security-Leute die ausladendsten Rüschenröcke ab. Dann endlich drinnen. Selbst flüchtiges People-Watching ist maximal ergiebig. Eigentlich sind alle da, weswegen man es im Einzelnen gar nicht weiter erwähnen muss. Herbert Grönemeyer weht mir entgegen, Franziska Giffey führt ein gewagtes Kleid spazieren, nicht so sehr wegen der Freizügigkeit, sondern wegen des Geschmacks. Haben Sie unter den deutschsprachigen Schauspielern einen besonderen Liebling? Unter Garantie hier.
Da kann man sich auf Wesentliches konzentrieren, zum Beispiel die Frage des Schuhwerks: Berlinale-Chefin Tricia Tuttle hat als richtig gemacht, sie spielt ihren Heimvorteil in dicken Combat-Boots aus. Wenn sie dahinschreitet, blitzen unter den Sohlen große Sterne. Lars Eidinger zeigt, dass die Elemente ihm nichts anhaben können; er schlappt in hinten offenen Lederslippern über den roten Teppich, als wollte er mal eben schnell auf Marrakeschs Jemaa el-Fnaa einen Orangensaft trinken.
Die Reden sind toll, alle lieben Tilda, besonders wenn sie die Kraft des Kinos beschwört. Das Kino sei ein „unabhängiger Staat“, sagte sie, „unberührt von Besatzung, Kolonisierung, Übernahme, Besitz oder der Entwicklung von Riviera-Grundstücks-Landbesitz“. Na, wir wollen mal nicht zu politisch werden, denkt sich hingegen Tricia Tuttle, aber sie hat ja auch ein Festival zu präsentieren. In ihrer kleinen Gedenkansprache erwähnt sie Israel, den Libanon, Jordanien – nicht hingegen Gaza oder „Palästina“. Von Anfang an tanzt die Berlinale, um einen ihrer früheren Bären-Gewinner zu zitieren, auf einer „Thin Red Line“.
Nach einer ungeplanten, aber dringend benötigten Pinkelpause beginnt Tom Tykwers Film. Er dauert sehr, sehr lange, fast drei Stunden, in Wirklichkeit sind es eher zehn. Breiten wir aus Höflich- und Müdigkeit einen eisigen Mantel des Schweigen darüber. Lars Eidinger ist eh super, selbst in der haarsträubendsten Schmonzette.
Kurz vor Mitternacht dann gibt’s vegane Snacks und Rosé aus Brad Pitts Weingut Miraval. Er schmeckt total okay. Und draußen schneit’s noch immer. küv
Donnerstag, 20:27 Uhr – Eröffnungsfilm „Das Licht“: Berliner Dysfunktionalität und Dauerregen
Da wurde zur Einstimmung aufs typische Berlinale-Wetter extra ein Eröffnungsfilm ausgesucht, in dem es ununterbrochen regnet – und dann schneit es ausnahmsweise mal am Potsdamer Platz. Die weiße Schneedecke wechselt sich nur sporadisch mit roten Teppichen ab. Vor dem Stage Bluemax Theater, das dieses Jahr erstmals auch als Ausspielungsort dient, steht ein Mann und hält ein Pappschild hoch. „Suche Ehefrau (Schauspielerin)“ steht darauf.
Ähnlich verloren suchend sind auch die Figuren in „Das Licht“, dem Eröffnungsfilm von Tom Tykwer („Lola rennt“, „Babylon Berlin“). „Eine ganz normale dysfunktionale deutsche Familie“, nennt die pubertierende Tochter es treffend. Viel passiert in diesem Familiendrama mit Lars Eidinger, den man entweder nackt oder im Regenparka sieht, und Nicolette Krebitz, die ständig am Telefon hängt. Vielleicht passiert auch zu viel.
Nach dem plötzlichen Tod der alten Haushälterin wird eine neue eingestellt, die Syrerin Farrah (Tara Al Deen), die gleichzeitig als Therapeutin für jedes einzelne krisenanfällige Familienmitglied herhalten muss. Zwischendurch gönnt Tykwer dem fast drei Stunden stillsitzenden Publikum bunte Musical-Einlagen zu Liedern von Abba und Queen. Nachdem inzwischen selbst DC- („Joker 2“) und Mafia-Helden („Emilia Perez“) ihre Musicalfilme bekommen haben, darf nun auch die Berlinale mit einem experimentellen Genre-Hybrid starten, das viele Gestaltungselemente und Themen – allerdings nicht immer gewinnbringend – vermischt. Am Ende bleibt die Botschaft, dass alles zusammenhängt und es hilft, sich am Licht zu orientieren. Für ein Lichtspiel-Festival kein schlechter Rat. gold
Donnerstag, 20:20 Uhr – Warten auf den Herzinfarkt
Heute morgen schon der erste Schockmoment. Das hundsgemeine Ticket-System, das die übermüdeten Kritiker täglich um 7.30 Uhr, wenn die Schauspieler glücklich von der Premierenparty nach Hause stolpern, vor die Computer zwingt, um sich in die digitale Buchungsschlange einzureihen, stürzte mittendrin ab, als ich gerade dabei war, einen der meisterwarteten Film des Festivals zu reservieren: „Mickey 17“ vom „Parasite“-Regisseur Bong Joon-ho. Robert Pattinson spielt darin ein armes Würstchen, dessen Job darin besteht, wieder und wieder zu sterben. Plötzlich fühlte ich mich genauso. Als ich wieder drin war, war das Ticket weg. Das Buchungssystem behauptete aber steif und fest, ich hätte den Film schon gebucht. Nur leider war er weder im Warenkorb noch in der Warenausgabe zu finden. Es gibt aber fieserweise nur eine einzige Vorführung. Sekündlich rechnete ich mit dem Herzinfarkt.
Apropos rechnen: Kenntnisse in höherer Mathematik sind schon nötig, wenn man halbwegs komfortabel durchs Programm navigieren will. So lautet die offizielle Gebrauchsanweisung:
„Die Freischaltung der Akkreditiertentickets erfolgt ab dem 11. Februar 2025, 12:00 (MEZ) für die Pressevorführungen von ‚Das Licht‘ am 12. Februar. Ab dem 12. Februar erfolgt dann täglich um 7:30 Uhr (MEZ) die Freischaltung von Tickets für alle Veranstaltungen, die an den jeweils zwei darauffolgenden Tagen stattfinden:
Mi, 12.02., 07:30 Uhr: Tickets für Do, 13.02. und Fr, 14.02.
Do, 13.02., 07:30 Uhr: zusätzlich Tickets für Sa, 15.02.
Fr, 14.02., 07:30 Uhr: zusätzlich Tickets für So, 16.02.
etc.“
Mit anderen Worten: Man lebt während der Berlinale auf mindestens zwei Zeitebenen, der chaotischen Gegenwart und der präzise zu planenden Zukunft.
Nach einer Viertelstunde bangen Ausharrens vor dem unbarmherzig stoischen Bildschirm klappte es schließlich doch noch, so lange lässt das System seine Opfer schmoren, bis es im digitalen Nirwana verschollene Buchungen wieder freigibt: „Mickey 17“ war im Kasten. Mehr dazu nach der Vorführung am Samstag. küv
Donnerstag, 20:15 Uhr – Tilda Swinton nimmt den Ehrenbären entgegen
Der Oscar-Preisträger Edward Berger („Im Westen Nichts Neues“, „Konklave“) ehrt die Schauspielerin Tilda Swinton, die dieses Jahr den Ehrenbären erhält. Am Dienstag wird Swintons neuster Film „The End“ in Anwesenheit der Schauspielerin in einer Spezialvorführung gezeigt. In Venedig gewann im September „The Room Next Door“ mit Swinton als krebskranker Sterbender den Hauptpreis. Berger lobt Swinton als „furchtlose Kämpferin“, die Stil und Witz habe. „Ich liebe Ihre Theatralik“.
Swinton ist quasi festes Berlinale-Inventar. Schon in 26 Berlinale-Filmen spielte sie in ihrem 64 Jahre jungen Leben mit. Die Berlinale war das erste Filmfestival, das sie je besucht habe.
Dann betritt Swinton mit Alien-graziler Eleganz in einem dunkel-violett glitzernden Kleid und blonder Kurzhaarfrisur die Bühne. Vielleicht stand der Goldene Ehrenbär noch niemandem so gut wie ihr. „Dear fellow humans“, liebe Mitmenschen, begrüßt sie den Saal. Und erst da merkt man, dass sie das ja wirklich ist, so etwas wie ein Mensch, auch wenn sie stets außerirdisch übernatürlich wirkt. Ihre Rede liest sie aus einem schwarzen Buch vor, das so ernsthaft wirkt wie die Sätze, die folgen. Unter anderem prangert Swinton giersüchtige Regierungen an, die sich mit „Planeten-Zerstörern und Kriegsverbrechern“ einließen: „Das Unmenschliche wird unter unserer Aufsicht verübt“. gold
Donnerstag, 19:38 Uhr – Tricia Tuttle lobt Berlin am Eröffnungsabend
Es ist geschafft. Alle Stars und Aktivisten haben es vom Schnee über den roten Teppich bis in den Berlinale-Palast geschafft. Die neue Leiterin Tricia Tuttle beginnt ihren Auftritt mit einem ausführlichen Lob an Berlin. Sie liebe die Menschen, die Architektur, die Galerien und die Museen. „Berlin hat die fantastischste unglaublichste Kinokultur der Welt“, ergänzt sie. „Ganz ehrlich.“ gold
Donnerstag, 19:23 Uhr – Schauspieler erinnern an israelische Geisel David Cunio
Donnerstag, 19:09 Uhr – Auch die Fans protestieren
Nicht nur den Stars auf, sondern auch den Fans neben dem roten Teppich geht es um Politik. „Deutschland, hör auf, Israel zu bewaffnen“ und „Deutschland ist am Genozid beteiligt“ liest man neben der palästinensischen Flagge. gold
Donnerstag, 18:54 Uhr – Luisa Neubauer fällt mit politischem Kleid auf
Die Klimaaktivistin Luisa Neubauer fällt immer wieder durch ihre extravagante Kleider-Wahl auf. Beim Berliner Presseball trug sie zuletzt ein Kleid mit der Aufschrift „Hot, Hotter, Death“. Bei der Berlinale-Eröffnung schießt sie nun gegen Friedrich Merz. „Donald & Elon & Alice & Friedrich?“ heißt es auf weißem Samt. Der Name „Friedrich“ ist hellgrau verblasst, die anderen Namen stechen in deutlichem Schwarz hervor. Auf ihrem Rücken steht: „Democracy Dies in Daylight“, die Demokratie stirbt bei Tageslicht. Ein Accessoire, das auch nie fehlen darf: der mahnende Blick. gold
Donnerstag, 18:30 Uhr – Kundgebung für die Geiseln der Hamas
Auf dem Potsdamer Platz hat sich vor dem Armani Pop-Up eine Menschengruppe versammelt. Schneebedeckte Arme halten „Bring Them Home“-Schilder hoch, mit Fotos der Geiseln, die sich noch in der Gefangenschaft der Hamas befinden. Ariel Cunio, 27, und sein Bruder David Cunio, 33. Die Zahl „33“ wurde mit Filzstift durchgestrichen, daneben mit Hand „34“ geschrieben. So alt ist Cunio inzwischen. 22 war er, als sein Film „Youth“ auf der Berlinale gezeigt und ausgezeichnet wurde. Darin spielte Cunio ausgerechnet einen Entführer. Am 7. Oktober 2023 wurde der Schauspieler von der Hamas entführt. Seine Frau und seine beiden Kinder wurden im November 2023 wieder freigelassen, er selbst und sein jüngerer Bruder befinden sich immer noch in Gefangenschaft. Am Freitag feiert der Dokumentarfilm „A Letter To David“ von Tom Shaval Premiere auf der Berlinale, ein persönlicher Brief an seinen entführten Freund David. Am Sonntag gibt es „Holding Liat“, die zweite Doku über eine Geisel der Hamas, zu sehen. Sie begleitet die Familie des entführten Liat.
Doch die Veranstalter der Kundgebung sehen die Rolle der Berlinale kritisch: Beim Filmfestival im Februar 2024 wurde Cunio auf der Bühne mit keinem Wort erwähnt, stattdessen fielen bei der Preisverleihung von Preisträgern Vorwürfe gegen Israel wie „Genozid“ und „Apartheid“. Außerdem werfen die Redner dem Filmfestival vor, sich vor wenigen Tagen von der Antisemitismus-Resolution des Bundestages distanziert zu haben. Dabei hatte die neue Intendantin Tricia Tuttle angekündigt, eine Wiederholung des Antisemitismus-Skandals des vergangenen Jahres verhindern zu wollen. gold
Donnerstag, 18:00 Uhr – Willkommen zum Live-Ticker!
Hallo zum Berlinale-Ticker, unserer atemlosen Dauerberichterstattung vom größten Publikumsfilmfestival der Welt. Das klingt sensationell, finden wir auch. In Wahrheit stehen wir ziemlich oft in der Eiseskälte des Potsdamer Platzes und wissen nicht, wohin. Pünktlich Mitte Februar richten sich in der Hauptstadt die Temperaturen bei Minusgraden so gemütlich ein wie die Zuschauer im CinemaxX nebenan auf den elektrisch verstellbaren Sesseln.
War das jetzt ein gelungenes Bild oder leicht windschief wie das Dach des Berlinale-Palasts, wo die großen Premieren stattfinden? Egal, wir formulieren hier weniger aus dem Kopf als aus dem Bauch. Ausgeruhte Rezensionen finden Sie woanders, zum Beispiel in den Links, mit denen wir diesen Dauerfeuerschnellschuss der Eindrücke großzügig sprenkeln werden.
Dieser Live-Ticker beabsichtigt, Ihnen die Berlinale so nah wie möglich zu bringen – das Gefühl, wie es ist, atemlos von A nach B zu hetzen, frühmorgens mit dem zickigen Ticketsystem zu kämpfen, nach der ersten Premiere des Tages das Interview mit dem nächsten Star nicht zu versäumen, verhungert eine Currywurst zu verschlingen, die sensible senegalesische Sozialstudie mit mongolischen Untertiteln angemessen zu bewundern, auf der „Bunte“-Party die Sau rauszulassen. Wir wissen selbst schon nicht mehr, wo uns der Kopf steht, dabei hat es nicht mal angefangen.
Und wer weiß, vielleicht steht gar der nächste Skandal in den Startlöchern, so wie im vergangenen Jahr, als es auf der Abschlussgala zu antisemitischen Ausfällen kam – eifrig beklatscht von Claudia Roth.
Das Angenehme für Sie: Sie müssen das alles gar nicht selbst durchmachen, sondern können hier entspannt mitlesen. Wie wir Sie beneiden! Aber einer muss den Job ja machen. Beziehungsweise zwei: Marie-Luise Goldmann (im Folgenden gold) und Jan Küveler (küv). Herzlich willkommen auf der Berlinale!
Source: welt.de