Völkerrecht: Ist dies Völkerrecht weltfremd?
DIE ZEIT: Herr Ambos, sind die jüngsten Militärschläge gegen den Iran durch das Völkerrecht gedeckt?
Kai Ambos: Das zentrale Element der Nachkriegsordnung ist das allgemeine Gewaltverbot in der Charta der Vereinten Nationen. Militärische Gewalt ist demnach grundsätzlich nur in zwei Situationen erlaubt: wenn eine Autorisierung durch den UN-Sicherheitsrat vorliegt oder wenn sich der Gewalt ausübende Staat auf das Selbstverteidigungsrecht berufen kann. Der Charta zufolge muss er dazu mit einem „bewaffneten Angriff“ konfrontiert sein, aber diese Formulierung muss natürlich ausgelegt werden.
ZEIT: Und wie würden Sie das auslegen?
Ambos: Will man über den Wortlaut der Charta hinaus auch noch nicht erfolgte Angriffe erfassen, müssen drei Voraussetzungen gegeben sein: Es muss eine Angriffsabsicht des vermuteten Aggressorstaats vorliegen. Dieser muss tatsächlich über die Mittel verfügen, den Angriff durchzuführen. Und die Anwendung militärischer Gewalt muss für den sich verteidigenden Staat zeitlich betrachtet die letzte Möglichkeit sein, den befürchteten Angriff abzuwehren. Im Fall des Iran sind die beiden letzten Kriterien aus meiner Sicht nicht erfüllt, deshalb würde ich argumentieren, dass sich Israel nicht auf das Selbstverteidigungsrecht berufen kann – und die Vereinigten Staaten damit ebenfalls nicht.
Matthias Herdegen: Hier zeigt sich, wie schwer sich weite Teile gerade der deutschen Völkerrechtslehre mit diesem Problem tun. Sie haben ein halbes Jahrhundert lang gebraucht, um zu akzeptieren, dass man nicht mehr warten muss, bis die Flugzeuge über dem eigenen Himmel kreisen und die feindlichen Panzer die Grenze überschritten haben. Inzwischen ist hierzulande gerade einmal anerkannt, dass es für eine Selbstverteidigung ausreicht, wenn ein Angriff unmittelbar bevorsteht. Aber die völkerrechtliche Diskussion hat sich international längst weiterentwickelt. Es geht hier um eine Balance zwischen dem Gewaltverbot einerseits, das ein Grundpfeiler der Völkerrechtsordnung ist, und der Rücksicht auf das existenzielle Selbsterhaltungsinteresse von Staaten andererseits.
ZEIT: Was bedeutet das konkret?
Herdegen: Es gibt eine Debatte darüber, wie lange einem Staat wie Israel zugemutet werden kann, angesichts des Vernichtungspotenzials, das der Iran erlangen würde, wenn er über Nuklearwaffen verfügte, mit der Gefahrenabwehr zu warten. Diese Figur des sich schließenden Zeitfensters ist der argumentative Schlüssel zur Rechtfertigung der präventiven Militärschläge – wie sie auch die G7 mit der Betonung des Selbstverteidigungsrechts vertreten. Es mag sein, dass ich hier in der deutschen Völkerrechtslehre eine Minderheitsmeinung ausspreche. Sie befindet sich aber völlig im Einklang mit den Regierungen der führenden westlichen Demokratien und weiten Teilen der internationalen Völkerrechtslehre. Damit kann man leben.
Ambos: Sie führen hier nur westliche Staaten als Kronzeugen an, Herr Herdegen. Das ist genau das Problem. Das Völkerrecht gilt für alle Staaten, und in Lateinamerika, Asien oder Afrika blickt man anders auf die Dinge, als Sie es beschrieben haben. Deshalb sehe ich nicht, dass die deutsche Völkerrechtslehre hier einen Sonderweg beschreiten würde. Es ist doch eher umgekehrt: Was Sie ansprechen, ist eine Vorverlagerung des Selbstverteidigungsrechts. Dabei handelt es sich um eine völkerrechtliche Praxis, die erst seit den Anschlägen vom 11. September 2001 auf New York und Washington ernsthaft diskutiert und vor allem von den USA propagiert wird. Die USA haben damit vor allem ihren sogenannten Krieg gegen den Terror und im Frühjahr 2003 auch den Angriff auf den Irak begründet.
Herdegen: Lieber Herr Ambos, indem Sie bei Ihrer Aufzählung der Voraussetzungen für die Rechtfertigung eines Militärschlags als Selbstverteidigung die zeitliche Dimension nennen, folgen Sie doch im Grunde meiner Argumentationslinie einer präventiven Selbstverteidigung bei einem sich schließenden Zeitfenster. Diese Annäherung begrüße ich sehr. Denn damit räumen Sie ein, dass ein gegnerischer Angriff eben nicht immer unmittelbar bevorstehen muss. Genau darum geht es doch, denn die Gefahr für Israel besteht darin, dass eine erfolgreiche Abwehr irgendwann nicht mehr geführt werden kann, wenn das Atomprogramm weiter voranschreitet – weil die Trägersysteme und alsbald auch nuklear bestückte Raketen in weit über das Land verstreuten Bunkern gelagert werden.
Ambos: Das sich schließende Zeitfenster ist nur eine Voraussetzung für das Vorliegen des Selbstverteidigungsfalls. Ich habe ebenfalls auf die Zerstörungsabsicht als weitere Voraussetzung verwiesen. Es kommt auch nicht nur auf das abstrakte Vernichtungspotenzial des vermeintlichen Aggressors an. Es muss erkennbar sein, dass dieser Staat die entsprechenden Waffen auch einsetzt. Ich warne davor, die Kriterien für die Anwendung des Selbstverteidigungsrechts zu sehr auszuweiten. Wir unterminieren damit das Gewaltverbot. Was machen wir, wenn Indien oder Pakistan sich darauf berufen? Beide Länder verfügen über Atomwaffen und könnten argumentieren, sie sähen sich durch die Gegenseite bedroht und müssten deshalb einen Präventivschlag führen.
ZEIT: Herr Herdegen, besteht die Gefahr, dass das Selbstverteidigungsrecht missbraucht wird, wenn es zu weit definiert wird?
Herdegen: Ich verstehe die Sehnsucht, internationale Konflikte in möglichst verlässliche rechtliche Bahnen zu lenken. Aber der Verweis auf die Gefahr einer Aushöhlung des Gewaltverbots ist hier nichts anderes als ein Popanz. Das Mullahregime hat die Vernichtung Israels zu seiner Leitphilosophie gemacht. Wenn ein solches Regime ein Massenvernichtungspotenzial aufbaut und die Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag systematisch ignoriert, dann frage ich mich, wo hier die Missbrauchsgefahr besteht. Das kann man mit Indien und Pakistan nicht vergleichen. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass Indien Pakistan vernichten wollte – oder umgekehrt.
Ambos: Es gibt auch andere Aussagen aus der iranischen Führung als die von Ihnen genannte. Staatschef Ali Chamenei hat beispielsweise gesagt, dass der Iran keine Nuklearwaffen wolle und deren Anwendung gegen den Koran verstoße. Die Ernsthaftigkeit dieser und anderer Äußerungen kann ich nicht beurteilen, ihre Substanz können allenfalls Geheimdienste bewerten. Mein Punkt ist: Völkerrecht wird durch Staatenpraxis geschaffen, und deshalb mahne ich zur Vorsicht bei einer Lockerung des Gewaltverbots. Die Intervention der Nato während des Kosovokriegs wurde humanitär begründet, man wollte einen Genozid der Serben an den Kosovo-Albanern verhindern. Ähnlich hat Putin dann seine völkerrechtswidrige Invasion in der Ukraine begründet: Es gehe um die Rettung der russischen Minderheit.
Herdegen: Glauben Sie wirklich, dass – von deutschen Professoren abgesehen – irgendjemand diese Rechtfertigungslogik ernst nimmt? Dass tatsächlich Russland eine Existenzvernichtung durch eine übermächtige Ukraine droht?
Ambos: Ich glaube Putin das nicht. Aber sehr viele Leute glauben ihm.
Herdgen: Auch Adolf Hitler hat behauptet, er würde auf einen polnischen Angriff reagieren. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir absurde Argumente als solche benennen und nicht weiter darauf rechtlich aufbauen. Russland ist nicht von der Ukraine bedroht worden. Ich denke, dass kann man festhalten.