Videoleak aus Sde Teiman: „Wir verlieren unsere Menschlichkeit“
Joel Donchin weiß, was in Sde Teiman passiert ist. Während des Gazakriegs meldete sich der 81-jährige Anästhesist zum Reservedienst im Feldkrankenhaus in dem Militärgefängnis, das international als Israels Guantanamo berüchtigt ist. Bis zu 4.000 Palästinenser wurden auf dem zeitweilig zum Haftlager umfunktionierten Militärstützpunkt in der Negev-Wüste festgehalten. Darunter ein Mann, den Donchin während seiner Visite eines Morgens vor sich liegen sah – und dessen Fall längst zum Politskandal geworden ist.
Mitte 2024 geriet ein Video an die Öffentlichkeit, das dokumentiert, wie mehrere israelische Soldaten den Mann misshandeln. Details sind nicht zu erkennen, die Täter bilden um das Opfer eine Art Mauer, um Blicke abzuschirmen. Die Aufnahmen stammen von einer Überwachungskamera. Vergangene Woche übernahm die mittlerweile zurückgetretene oberste Militärstaatsanwältin Jifat Tomer-Jeruschalmi die Verantwortung für das Weiterleiten des Videos. Anschließend galt sie kurzzeitig als vermisst. Angehörige befürchteten einen Suizid. Aus diesem Grund, so die offizielle Erklärung des rechtsextremen Sicherheitsministers Itamar Ben-Gvir, wurde Tomer-Jeruschalmi nun selbst in Polizeigewahrsam genommen. Dabei hatte sie nur das getan, was Joel Donchin von ihr verlangt hatte: den Fall des gefolterten Mannes juristisch zu untersuchen.
„Der Mann hatte eine große Bauchoperation hinter sich, er war rektal mit einem Messer so schwer verletzt worden, dass der Dickdarm gerissen war“, erinnert sich Donchin an den Morgen jener Visite im Feldkrankenhaus, als er das Folteropfer zum ersten Mal sah. Mit dem Operationsbericht des Mannes sei er an den Leiter des Gefängnisses herangetreten, habe gefragt, ob der Fall untersucht werde. Das sei bejaht worden, geschehen aber sei nicht genug. „Noch immer gibt es keinen Prozess gegen die Verdächtigen. Niemand der Täter sitzt im Gefängnis, aber die Militärstaatsanwältin wurde verhaftet. In was für Staaten passiert so etwas?“
Der Fall des gefolterten Mannes reiht sich ein in eine Kette von Vorwürfen, die Menschenrechtsorganisationen und auch in Sde Teiman eingesetzte Soldaten anonym erhoben haben. So sei in dem Haftlager „regelmäßig damit geprahlt worden, Gefangene zu schlagen“, sagte ein Soldat der New York Times. Einige der Insassen hätten während der Gefangenschaft Knochenbrüche und Blutungen erlitten, ein Häftling sei an den Folgen eines Thoraxtraumas gestorben.
Das Problem mit Sde Teiman besteht aus zwei Teilen. Im ersten geht es um die Foltervorwürfe. Im zweiten geht es um diejenigen, die das Unrecht erkannt haben. Verbunden sind beide Teile durch den Hass aus Israels rechtem Lager ‒ auf Palästinenser wie auf die unabhängig arbeitende Justiz. Nachdem die Militärstaatsanwaltschaft vergangenen Sommer Anklage gegen einen der mutmaßlich beteiligten Soldaten erhoben hatte, wollten rechtsextreme Protestierende erst in Sde Teiman, dann in das zuständige Gerichtsgebäude eindringen. Die Rechten begannen, Tomer-Jeruschalmi zu diffamieren, und tun es noch heute. Ihr möglicher Suizidversuch sei „nichts anderes als ein Mittel, um das Ausmaß der Lügen der obersten Führung der Militärstaatsanwaltschaft und die Verwicklung der Generalstaatsanwältin und ihrer Vertrauten zu verschleiern“, behauptete etwa Tally Gotliv, Abgeordnete aus der Likud-Partei von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, in einem Post in den sozialen Medien.