Verleihung des Karlspreises: Da ist sie, die große Geste

Da ist sie, die große Geste – Seite 1

Der Nachmittag im prunkvollen Krönungssaal des Aachener Rathauses beginnt mit Warten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der heute mit dem Karlspreis ausgezeichnet werden soll, verspätet sich.

Um 15.44 Uhr wird es kurz still, sechs Männer sichern die Eingangstür von innen, ein Mann tritt herein. Es wird kurz geklatscht, bis klar wird, dass der Mann, der gerade zur Tür hereingekommen ist, nicht Selenskyj ist. Der Sicherheitsmann wird etwas rot, kurz wird gelacht. Dann vergehen weitere 45 Minuten, bis sich die Türen endlich öffnen und Wolodymyr Selenskyj in den Krönungssaal tritt.

Selenskyj geht schnell, er guckt zu Boden. Er trägt, wie zu erwarten war, einen schwarzen Pullover, eine khakifarbene Hose, schwarze Schuhe. Mit ihm kommen der Bundeskanzler Olaf Scholz, die EU-Präsidentin Ursula von der Leyen, der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki und ein Haufen Sicherheitsmänner.

Vom Papst nach Deutschland

In den ersten Reihen sitzen viele Größen des deutschen Politikbetriebs: die SPD-Bundesvorsitzende Saskia Esken, die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, der CDU Parteivorsitzende Friedrich Merz, dazu Claudia Roth, Hendrik Wüst, Armin Laschet, Katarina Barley, Bärbel Bas, Herbert Reul, Henriette Reker. Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba sitzt in der ersten Reihe.

Der Karlspreis ist eine der anerkanntesten europäischen Auszeichnungen, ein gewichtiges Symbol. Seit 1950 wird er verliehen, für Verdienste um Europa und europäische Einigung. Unter den Preisträgern sind Angela Merkel, Bill Clinton, Emmanuel Macron, auch Papst Franziskus. 2022 bekamen ihn die belarussische Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja und zwei ihrer Mitstreiterinnen. Selenskyj ist zur Verleihung das erste Mal seit Beginn des russischen Angriffskriegs nach Deutschland gereist.

Einen Tag vorher war er noch in Rom, auch in Italien ist es sein erster Besuch seit Kriegsbeginn gewesen. Selenskyj tat dort, was er vorher bereits bei seinen bisherigen Auslandsreisen getan hatte, in Washington, Warschau, Paris, London, Brüssel, Helsinki und Den Haag: Er bat um mehr Unterstützung, mehr Waffenlieferungen. Schon bei seiner Landung in Italien schrieb Selenskyj auf Twitter von einem „wichtigen Besuch, um den Sieg in der Ukraine zu erreichen“. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sicherte der Ukraine nach dem gemeinsamen Treffen „so lange es nötig ist und darüber hinaus“ Unterstützung zu. Im Anschluss traf Selenskyj noch den Papst zu einer Audienz.

Keine Symbole, aber jetzt Waffen

Auch in anderen Ländern war man um große Gesten nicht verlegen. Der US-Präsident Joe Biden reiste kurz vor dem ersten Jahrestag des Angriffskriegs in die Ukraine. Auf den Fotos seines Besuchs posiert Biden mit Sonnenbrille Arm in Arm mit Selenskyj, die beiden spazieren trotz Luftalarm durch Kiew. Selenskyj nannte Bidens Besuch „Historisch. Rechtzeitig. Mutig“. In Deutschland hingegen hat es wirklich große Symbole seit Beginn des russischen Angriffskriegs nicht gegeben. Weder waren die Bilder, die bislang entstanden, historisch, noch waren sie mutig. Schon gar nicht kamen sie rechtzeitig.

Man schaffte es nicht einmal, Selenskyjs Reisepläne bis zu seiner Ankunft geheim zu halten, wie es bei seinen sonstigen Staatsbesuchen aus Sicherheitsgründen üblich ist. Ein Polizist soll Planungsdetails an eine Zeitung durchgestochen haben. Inzwischen wird wegen Geheimnisverrats ermittelt.

Bereits vor seinem Besuch sagte Deutschland der Ukraine weitere Unterstützung zu. In geheimen Verhandlungen hatten sich die beteiligten Ressorts und das Kanzleramt in den vergangenen Tagen darauf geeinigt, dass in den kommenden Wochen und Monaten von Deutschland weitere Waffen im Wert von rund 2,7 Milliarden Euro bereitgestellt werden sollen.

Ganz besondere Sicherheitsstufe

Im Krönungssaal eröffnet die Oberbürgermeisterin der Stadt Aachen, Sibylle Keupen, die Verleihung, danach kommt Bundeskanzler Olaf Scholz ans Rednerpult. Er spricht zehn Minuten, es ist die kürzeste Rede der Verleihung. In seiner Laudatio betont Scholz mehrfach, Europa habe dem ukrainischen Volk viel zu verdanken. „Wir stehen zusammen, wir gehören zusammen und unsere Geschichte wird gemeinsam weitergehen“, sagt er. Die Ukraine sei Teil der europäischen Familie: „Das haben wir betont. Dazu stehen wir bis heute.“ Mehrfach adressiert er den Präsidenten direkt. „Lieber Wolodymyr“, sagt er, ohne sich zu Selenskyj umzudrehen. Die Verleihung des Karlspreises sei kein Endpunkt, sondern ein Auftakt. Zum Schluss wird Scholz dann noch einmal deutlich: „Die Ukraine kann sich auf unsere volle Unterstützung verlassen. Humanitär, wirtschaftlich und mit Waffen. Aber vor allem: auf Dauer!“ Es ist die wohl klarste Botschaft des Bundeskanzlers an diesem Tag. Er, wie auch alle weiteren Redner, beendet seine Laudatio mit Slawa Ukraini – Ruhm der Ukraine. Dann schütteln sich Scholz und Selenskyj etwa fünf Sekunden lang die Hand.

Je mehr Zeit im Krönungssaal vergeht, je mehr Reden von Blättern abgelesen werden, je mehr Geigen spielen und ukrainische Sängerinnen singen, desto mehr vergisst man, was diesen Preis überhaupt nötig macht – und dass sein Empfänger gerade der wohl am stärksten gefährdete Politiker Europas ist. An den Krieg in Europa erinnert in vielen Momenten vor allem das Aufgebot von mehr als 40 Sicherheitsmänner, die sich im gesamten Raum verteilt haben, und das Szenario außerhalb des Prunksaals.

Der Luftraum über Aachen ist in einem Radius von 40 Kilometern gesperrt, Hubschrauber kreisen am Himmel, etwa tausend Polizisten sind im Einsatz, man sieht Absperrgitter, Sicherheitsschleusen, Hundertschaften, verschweißte Gullideckel, Scharfschützen. „Wir haben eine Gefährdungsstufe, die ich in über 30 Jahren Karlspreis noch nie erlebt habe“, sagt der Vorsitzende des Karlspreisdirektoriums Jürgen Linden. 

Nicht alle heißen die Preisverleihung gut

Schon im Dezember war der Karlspreis Selenskyj und dem ukrainischen Volk zugesprochen worden. In der Begründung wurde die Rolle des Präsidenten bei der Abwehr des russischen Angriffs hervorgehoben. In den Tagen vor der Verleihung hatten sich sechs Kundgebungen angekündigt: Solidaritätskundgebungen mit der Ukraine sowie Antikriegsdemonstrationen mit 40 bis 500 Teilnehmern.

Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht kritisierte die Ehrung Selenskyjs vorab. Europa sei nach dem Zweiten Weltkrieg als Projekt des Friedens gegründet worden, sagte Wagenknecht. „Wer den Karlspreis erhält, sollte alles dafür tun, den Krieg in der Ukraine durch Verhandlungen und einen Kompromissfrieden zu beenden.“ Sie fände es gut, wenn Bundeskanzler Olaf Scholz „Selenskyj überzeugen könnte, einen solchen Weg von seiner Seite zu ermöglichen.“ 

Klare Forderungen

Um 17.47 wird dem ukrainischen Präsidenten der Karlspreis schließlich überreicht. Drei Minuten wird er stehen, die Auszeichnung in die Kameras halten. Er selbst versteht nicht, was während der Verleihung gesagt wird, weil er das Übersetzungsgerät auf seinem Stuhl liegengelassen hat und Deutsch gesprochen wird.

Selenskyj beginnt seine eigene Rede auf Englisch, aber nach ein paar Sätzen kündigt er an, ins Ukrainische zu wechseln. „I am sorry“, sagt er. Aber er wünsche sich, dass die Sprache seines Landes in Zukunft häufiger gehört werde. Er grinst dabei, was selten in den zwei Stunden der Verleihung passiert. 

Eigentlich sitzt Selenskyj die gesamte Verleihung sehr gerade und mit sehr ernster Miene auf seinem Stuhl, der etwas ungemütlich und isoliert in der Mitte der kleinen Tribüne platziert ist. Sein Blick ist ernst, angespannt. Ein bisschen wirkt er wie ein Geburtstagskind, das keinen Spaß an der eigenen Feier hat. Selenskyj klatscht, wenn alle klatschen, ansonsten hört er zu, schüttelt die Hände derer, die ihn laudatieren.

Selenskyj spricht fast eine halbe Stunde lang. Er sagt, es sei der Frieden, den wir unseren Kindern als Erbe hinterlassen werden: „Aber um Frieden als Vermächtnis hinterlassen zu können, müssen wir gemeinsam diesen Krieg besiegen.“

Er zählt auf, was Waffen aus Deutschland in der Ukraine bewirken können, nennt sie einzeln beim Namen, den Marder, den Leoparden, und er sagt, diese Waffen „werden den Tod stoppen“, deshalb müsse Deutschland „entschlossen sein bei der Unterstützung mit Waffen für die ukrainischen Kämpfe“. Selenskyj hat klare Forderungen. Es gäbe „keine rationalen Gründe“, warum „unsere Kämpfer nicht Teil der gleichen Allianz wären“. Er meint die Nato.

In seiner Rede wendet er sich direkt an Olaf Scholz: „Als du die ‘Zeitenwende’ gesehen hast, hast du so gehandelt, wie es ein Verteidiger Europas tun sollte. Europa wird dir und der deutschen Regierung für immer dankbar sein.“ 

Am Ende sagt er: „Wir müssen zu Siegern werden. Wir müssen zu Gewinnern werden.“ Bevor auch er seine Redet beendet mit Slawa Ukraini. Es folgen zwei Minuten Standing Ovations. Selenskyj steht dabei regungslos in der Mitte der Tribüne neben dem Rednerpult. Dann setzt er sich wieder auf seinen Stuhl.

Am Ende spielt das Orchester die Ode an die Freude, die Europahymne. Dann verlässt Selenskyj sehr schnell den Saal, ohne sich noch einmal umzugucken. Draußen stehen Hunderte Menschen mit ukrainischen Flaggen vor den Absperrungen.

Zwölfmal fällt an diesem Nachmittag im Krönungssaal des Rathauses das Wort Zeitenwende. Und tatsächlich kann man das Gefühl bekommen, dass dieser Tag doch mehr ist als ein großes Symbol.