Verhaltenskodex Documenta: Verpflichtung zur Selbstverständlichkeit

Sechstausend Zeichen Selbstverständlichkeit: Die Documenta hat den seit Langem angekündigten Verhaltenskodex auf ihrer offiziellen Seite im Netz veröffentlicht – sie tritt darin „jeder Form von Anti­semitismus, Rassismus und jedweder anderen Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit aktiv entgegen“. So lautet der Schlüsselsatz in dem Code of Conduct, der hier im Folgenden CoC genannt werden soll. Dieser Verhaltenskodex gilt für alle Mitarbeiter der Documenta-Gesellschaft, mithin auch für die Geschäftsführung. Der so schön im Licht der Selbstzufriedenheit funkelnde CoC weist jedoch einen gewaltigen Schönheitsfehler auf, weil er für die Künstlerische Leitung der Documenta gerade nicht bindend ist. Diese muss sich auch künftig nur jeweils drei Monate nach ihrer Ernennung zu einem öffentlichen Lippenbekenntnis durchringen, die Einhaltung der aller­allgemeinsten Menschenrechte in Künstlerauswahl und Gestaltung der Documenta zu gewährleisten. Der CoC ist damit das Papier nicht wert, auf dem er nicht steht – weil er bislang eben lediglich im Netz öffentlich gemacht wurde.

Bei der nächsten Documenta-Leiterin droht keine Gefahr – aber in Zukunft?

Damit kein Missverständnis entsteht: Bei der designierten nächsten Künstlerischen Leiterin, Naomi Beckwith, einer äußerst erfahrenen amerikanischen Kuratorin und stellvertretenden Direktorin des New Yorker Guggenheim-Museums, tendiert die Gefahr eines Missbrauchs der Weltkunstschau als Schaufenster politischen Aktivismus des „globalen Südens“, wie Ruan­grupa ihn betrieben hatte, gegen Null. Beckwirth wird auf ihrer demnächst zu erwartenden Programmvorstellung lediglich das wiederholen, was sie bereits mit Überzeugung bei ihrer Präsentation als Kandidatin betont hatte: dass sie keine Toleranz gegenüber jeglicher Form von Rassismus und Antisemitismus habe. Das im CoC geforderte „deutliche Bekenntnis zu Respekt und Vielfalt“, das in Beckwiths Heimat durch Trumps annullierende Federstriche und das sofortige Einknicken etwa der National Gallery in Washington in den nächsten Jahren dort wesentlich schwieriger zu realisieren sein wird, kann die Kuratorin in Kassel in die Tat umsetzen.

Warum aber war man dann unter dem permanenten Vorschützen einer „künstlerischen Freiheit“, die ohnehin niemals Anti­semitismen einschließen darf, so übervorsichtig, den CoC nicht auf alle künftigen künstlerischen Leiter auszudehnen, um ein Fiasko wie bei der Documenta 15 schon im Vorfeld zu verhindern? Geschäftsführung und Aufsichtsräte der Schau brauchen den CoC wahrlich nicht, in ihren Reihen sitzen durchweg verantwortungsvolle Menschen, die um die Untiefen nicht nur deutscher Geschichte wissen. So bleibt angesichts der verpassten Chance nur der kleine Trost, dass selbst bei einer rechten Politikmehrheit in Kassel und Hessen in hoffentlich keiner Zukunft durch die Verpflichtung auf den Kodex weder Geschäftsführung der Documenta noch die Aufsichtsgremien negativ beeinflusst werden können.

Source: faz.net