Verfassungsreform | Neue Verfassung in Tunesien: Islam soll nicht mehr Staatsräson sein, sondern Privatsache

Eine neue Verfassung in Tunesien relativiert das Bekenntnis zum Islam. Die Entstehung des Verfassungstextes gibt allerdings Grund zur Sorge

Wenn die Tunesier am Wochenende über ihre neue Verfassung abstimmen, haben sie vielleicht eine Aussage von Präsident Kaïs Saïed im Ohr. Sie lautet, man werde künftig „nicht mehr von einem Staat sprechen, dessen Religion der Islam ist, sondern von der Zugehörigkeit Tunesiens zu einer Umma, deren Religion der Islam ist“. Die Umma und der Staat seien zwei verschiedene Dinge. Mit der Umma ist die Weltgemeinschaft der Muslime gemeint, wobei die zur Abstimmung stehende Verfassung für diese eine Premiere ist, weil die Religion nicht mehr als Ausdruck der Staatsräson, sondern als Privatsache gilt.

Tunesien würde damit nach Syrien zum zweiten laizistischen Staat der islamischen Welt. Das sorgt ebenso für Furore wie die Entstehung des Verfassungstextes. Anders als die Magna Charta von 2014 kam der nicht als kollektives Fazit einer verfassunggebenden Versammlung zustande, sondern als Produkt einer durch den Präsidenten berufenen Kommission.

Das schürt den Verdacht, dies diene den Auffassungen von Kaïs Saïed und stärke das Präsidialsystem. Das Lob der EU, die Tunesien zum einzigen Land erklärt hat, in dem die Ziele des Arabischen Frühlings von 2011 Bestand hätten, wäre damit ebenfalls hinfällig. Freilich hat die Demokratisierung das Land sozial zurückgeworfen und ihre Schattenseiten.

Mustapha Ben Jaâfar, Präsident der verfassunggebenden Versammlung von 2014, gab das bereits Ende 2020 in einem Interview zu: „Mit schmutzigem Geld wurden Wahlen gewonnen.“ Zudem habe man dem Islamismus zu viel Raum gelassen: „Wir alle sind der Religion verbunden, sie gehört zu unseren intimen Überzeugungen. Aber eine politische Bewegung, die sich die Islamisierung der Gesellschaft zum Ziel stellt? Nein. Man muss sagen, dass ein diesbezüglicher Bruch eingeleitet ist und weiter diskutiert wird. Man kam noch zu keinem Ende.“

Tatsächlich wird Tunesien seit dem 25. Juli 2021 durch präsidiale Dekrete regiert. Corona hatte das Land in eine humanitäre Krise versetzt. Weil es weder genügend Impfstoffe noch Sauerstoff für die Erkrankten gab und Notfälle von den Klinken abgewiesen wurden, entließ der Präsident die dafür verantwortliche Regierung und schloss zugleich das Parlament. Das führte zu energischen Protesten der Parteien, besonders der islamistischen Ennahda. Deren Chef Rachid Ghannouchi war damals Parlamentspräsident, hatte sein über Jahrzehnte erworbenes Charisma aber in der Partei verloren. Dass sie trotz ihrer nach der Revolution von 2011 gewonnenen Machtposition weder den Terrorismus eingedämmt noch die rasante Verarmung der Bevölkerung aufgehalten hatte, bewirkte nun, dass der Coup des Präsidenten nicht nur hingenommen, sondern von vielen begrüßt wurde.

Bumerang Weltmarktpreise

Das Corona-Management übertrug Saïed der Armee, der Notstand konnte durch rasche Importe aus China und Algerien bald beendet werden. Überdies verfügte der Präsident Maßnahmen gegen soziale Missstände und führte eine Preiskontrolle für Grundnahrungsmittel ein. Das verärgerte einen Teil der liberalen Wirtschaft, in der islamistische Kreise stark vertreten sind.

An der prekären ökonomischen Lage des rohstoffarmen, vom Tourismus abhängigen Landes konnte Saïed bislang nichts ändern. Schlimmer noch, seine Maßnahmen wurden durch das verknappte Getreide und Speiseöl auf dem Weltmarkt zum Bumerang. Diese Produkte sind auf dem tunesischen Markt nur noch schwer erhältlich. Zu einem Stimmungsschub für eine erneute Liberalisierung führt das indes nicht. Viele Tunesier ziehen weiter auch autoritäre Schritte vor.

Zwar hat Saïed das Verfassungsreferendum und anschließende Parlamentswahlen bereits Ende 2021 vorgeschlagen, und die Hoffnung, damit die Islamisten auf politischer wie wirtschaftlicher Ebene zu schwächen, ist nicht unbegründet. Allerdings versuchen etliche Parteien in den Medien und juristisch gegen das Referendum vorzugehen. Gegnerschaft regt sich gleichfalls in der westlichen Welt. US-Außenminister Antony Blinken ließ bei einem kürzlichen Besuch von Maghreb-Ländern Tunesien nicht von ungefähr außen vor.

Sowohl der Währungsfonds IWF wie die EU drohen damit, dem Land dringend benötigte Kredite zu verweigern, sollte Präsident Saïed den Konfrontationskurs mit den demokratischen Institutionen nicht aufgeben. In den Augen des Westens ist die der Muslimbruderschaft verbundene Ennahda-Partei eine demokratische Institution, steht sie doch für eine neoliberale Wirtschaft, in der sozialer Ausgleich nicht durch Steuerpolitik, sondern freiwillige Gaben der Besitzenden – sprich: karitatives Handeln – herbeigeführt werden soll.

Derzeit wird nicht nur in der Brüsseler EU-Zentrale befürchtet, dass Tunesien in Richtung BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) abdriften könnte, weshalb der IWF nun doch verhandlungsbereit ist. Um einen Staatsbankrott abzuwenden, muss Kaïs Saïed lavieren. Es gibt Gerüchte, Tunesien werde demnächst Israel anerkennen.

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